Maxime Lübke

Warhol Exposed

04.10.2024
Neue Nationalgalerie. Foto: Maxime Lübke
Neue Nationalgalerie. Foto: Maxime Lübke

Zwei große Ausstellungen in Berlin rücken Andy Warhol dieses Jahr einmal mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zu entdecken gibt es den vielleicht schwulsten Warhol, der uns je präsentiert wurde. Maxime Lübke bietet queer-feministische Führungen durch die Schau in der Neuen Nationalgalerie an und wagt dabei einen intimen Blick auf den bekannten Pop-Art-Künstler. Es ist eine herausfordernde Begegnung, die Unbehagen erzeugt und die Betrachtenden selbst zu verändern vermag.

Steht die Sonne tief über dem Kulturforum, verschwimmt die Silhouette des Ibero-Amerikanischen Instituts mit den Dachbögen der Staatsbibliothek und dem Würfelfinger des Atrium Tower in der Neuen Nationalgalerie. Die Panoramafront der Mies van der Rohe Halle verpuppt sich in diesen silbrig-roten Abendstunden zu einem gläsernen Kokon, der sich gegen das Außen verspiegelt. Das spektrale Ereignis verdeckt das Double dahinter, aber nicht ganz. Ähnlich einem Wackelbild mit Lentikularfolie, die das unter der Haut irisierende Bild auf wundersame Weise verwandelt, vertauschen sich in diesem Spiegelvestibül zwei sich ähnelnde Gesichter: Warhol am Carnegie und Warhol in Drag. Am 9. Juni 2024 hat unter der Kuration von Klaus Biesenbach, Lisa Botti und ihrer kuratorischen Assistenz Nikola Richolt die Ausstellung  „Andy Warhol: Velvet Rage and Beauty” eröffnet, die einen mutig schonungslosen, ja neuen und freien Blick auf Andy Warhol als schwulen und queeren Künstler erlaubt. Angelehnt an Alan Downs gleichnamige Studie und Selbsthilfe-Ratgeber „The Velvet Rage: Overcoming The Pain of Growing Up Gay in a Straight Man’s World“, widmet sich die Ausstellung, durch die ich nun schon seit einigen Wochen als Kunstvermittlung führe, der privaten Sphäre des Pop-Art-Künstlers und Homoerotikers Warhol auf intime Weise und umkreist das (häufig männliche) Schönheitsideal in seinem Werk.  

Ein Warhol-Summer in Berlin war es in diesem Jahr:  Neben den Exponaten der Sammlung Marx im Hamburger Bahnhof rückte das Fotografiska in „Andy Warhol – After The Party” den sehnsuchtsvollen Warhol der Tagebücher als Fotografen in den Fokus. Der Künstler war überall, aber lohnt es sich überhaupt noch einen Warhol anzusehen, wenn jeder ihn doch kennt? Als „Pope of Pop Art” und nun amerikanische Kulturikone hatte sein Durst nach flächendeckender medialer Präsenz etwas Verzehrendes und barg auch die Gefahr, sich selbst abzuschaffen. 

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Spiegelungen. Foto: Maxime Lübke
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Foto: Maxime Lübke

Die Verfilmung seiner von Pat Hackett verfassten Tagebücher „The Andy Warhol Diaries” (2022) auf Netflix wie auch jüngste Tendenzen in der Warhol-Forschung, haben das Interesse an dem Künstler speziell mit Blick auf sein intimes Leben als ungeouteter Schwuler neu entfacht. Die US-amerikanische Graduate-Studentin Jennifer Sichel hat 2018 ausgelassene Passagen aus einem Interview des notorischen New Yorker Kunstkritikers Gene Swenson mit Andy Warhol wiederentdeckt („What is Pop Art?”, 1963), in dem Swenson Warhol geschickt mit Fragen zur Homosexuellenkultur überraschte und so einen Perspektivwechsel zu einer queeren Pop Art einleiten sollte, die als Gegenkultur Differenzen und Singularitäten gleichermaßen einschließt und so queere Räume des Fühlens und Ausdrucks eröffnet.[1] Die vielbesuchte Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie hat dabei ein einzigartiges Kompendium bisher oft unberücksichtigter, manchmal auch wenig bekannter oder kaum ausgestellter Arbeiten weltweit zusammengetragen, die das Leben Warhols als Queer von den 1950er bis 1980er Jahren nachzeichnen, durchzogen von Wogen aus Scham, Wut und Einsamkeit.

Kunstvermittlung

Als Kunstvermittler mit antidiskriminierungskritischem Fokus wurde ich von Julia Freiboth in die Neue Nationalgalerie eingeladen, um Führungen mit queer-feministischem Blick anzubieten. In meiner Arbeit bin ich daran interessiert, ein möglichst diverses und freies Verständnis rund um Geschlecht, Sexualität und Körper mit Blick auf moderne und zeitgenössische Kunst zu vermitteln, um Menschen mit Erfahrungsbereichen und Formen queeren Fühlens vertraut zu machen. Die Ausstellung stellte mich als Vermittelnde*n vor eine besondere Aufgabe durch ihre explizit zwischen erotischem Verdecken und pornographischem Exhibitionismus schwankenden Darstellungen. Wie nähert man sich etwa einer Arbeit, die wie in Warhols Studies for a Boy Book (1956) oder der Filmprojektionen Blowjob (1964) und seinen späteren Torso-Polaroids und Siebdrucken (1977), Männer bei Fellatio oder Analsex darstellt – noch dazu im öffentlichen Raum. Wie vermittelt man einem jüngeren, wie einem älteren Publikum die politische Absicht hinter Drag oder den Schmerz und die Melancholie um einen Teil der eigenen Geschlechtsidentität, der verborgen und ungelebt bleibt? Begleitet wurden wir durch Dörte Döring, diplomierte Politologin und Sexualpädagogin, die uns im Umgang mit der offensiven Darstellung von Nacktheit und Sexualität im museumspädagogischen Kontext schulte. 

Zeichnen nach Warhol. Foto: Maxime Lübke

Flaming 

Als Klaus Biesenbach und Lisa Botti uns das erste Mal durch die Ausstellung führten, war mir etwas unbehaglich dabei, so unerwartet Voyeur eines Schauspiels aus fleischlicher Lust und Liebeshunger zu werden und dazu einen so intimen Teil der verfemten „Liebe ohne Namen” hier ausgestellt zu sehen. Diesen Warhol, einen so schwulen Warhol hatte ich bisher noch nicht zu Gesicht bekommen, oder wie Wayne Koestenbaum es in seiner Biographie formuliert: „How gay was Andy? As gay as you can get.”[2] Ich wusste, dass mich diese latente Scham durch die Ausstellung weiter begleiten würde, weil sich in den Bildern eine Welt offenbarte, über die sonst keiner sprach und die, wenn sie aufkam, nur den Appetit der Fantasie anheizte. Ich fühlte, als hätte jemand ungefragt einen Teil meiner eigenen Welt ausgestellt – dieses Gefühl ließ mich auch über die Kuration in dieser Ausstellung nachdenken. 

Inside Out: Dandy Andy im purpurroten Volant

 „Exhibition“, der englische Begriff für Ausstellung, erhielt seine Bedeutung als kuratorische Praxis, in der das „Exponat” die für sich attraktivste Platzierung beansprucht, erst Anfang des 17. Jahrhunderts. Das Verb „to expose“ geht zurück auf das lateinische „exponere” für „darlegen, offenlegen, ausstellen, offenbaren oder veröffentlichen”.[3] Ende der 1690er Jahre meinte es ferner auch das Enthüllen oder Demaskieren; denn das „Zur-Schau-Stellen” und Entblößen einer Sache trifft sich gleichermaßen im Performativen des Kuratierens wie der Scham: Stelle ich etwas aus, gebe ich damit immer auch einer Sache den Vorrang vor einer anderen, die dadurch in den Hintergrund tritt. Ob nun darauf bedacht oder unbewusst, bleibt eines ungesehen oder verdeckt – und selbst das Verdeckte ist vor einer raschen Hand oder flammenden Augen nicht gefeit. Roland Barthes benannte dieses Wechselspiel des nackten Angezogen-Seins oder der angezogenen Nacktheit in seinem Striptease-Essay als die „Schamhaftigkeit des Fleisches”.[4] Die Queer-Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick spricht in ihrem berüchtigten Warhol-Aufsatz von der Performativität queerer Scham.[5] Ferner fügt sich daran der Begriff „exposure” an, der bedeutet, einem Risiko ausgesetzt zu sein –  was im Leben des Künstlers als Schwuler während der AIDS-Krise in den 1980er Jahren keine unwesentliche Rolle spielen sollte. 

Warhol war ein meisterhafter Camoufleur und flamboyanter Exhibitionist, der seine eigene Scham unter einer kosmetischen und doch atmenden Bildhaut seiner berührenden Ikonographie zum Sprechen brachte. Über den Moment des Angesehenwerdens während meiner Führungen gelang es mir, in den performativen Strom seiner Arbeiten einzutauchen. Sedgwick schreibt von der kontaminierenden Scham, die, wenn sie einmal entdeckt ist, einen selbst befällt. So besteht nicht nur die Gefahr, dass man zu lange und intim eine Sache betrachtet, von der man weiß, dass man sie eigentlich nicht ansehen sollte, sondern auch die Gefahr, dass die Sache selbst so ausgestellt und für alle sichtbar wird. In dieser intimen Landschaft bewegte ich mich während meiner Führungen durch Warhols Bilderwelt, der noch als Andrew Warhola Strategien entwickelt haben musste, um mit der Scham um seine Sexualität und seinen Körper in einer heteronormativen Welt umzugehen, der Wut über das erdrückende und quälende Anders-Sein, das einen zu einem Außenseiter macht. 

An einem Aktionstisch konnten Besuchende der Neuen Nationalgalerie eigene Pop-Art-Selbstporträts anfertigen. Foto: Maxime Lübke

Neu für mich war, wie früh Andy Warhol schon an die Kunst herangeführt wurde und dabei Ausdrucksmöglichkeiten fand, die ihm im Umgang mit seiner Schüchternheit und Scham helfen sollten.  Als Kind von tschechoslowakischen Einwanderern, seinem Vater Andrej und seiner Mutter Julia Worhola, wuchs er in einem griechisch-katholischen Milieu auf, im Arbeiter*innendistrikt von Pittsburgh. Trotz der bescheidenen Umstände seines Milieus wurde seine Kreativität früh gefördert. Seine Mutter, die zentrale Figur in seiner Kindheit, schnitt mit ihm Schmetterlinge aus Magazinen und Campbell-Dosen aus und schenkte ihm, als er acht Jahre alt war, einen Filmprojektor. Mit neun fand sich sein suchendes Auge vor der Baby-Brownie-Kamera. Seine Pigmentstörung und die Erkrankung an Chorea minor im Kindesalter, verantwortlich für den sogenannten Veitstanz, machten ihn unweigerlich zu einem Outsider. Und dann war da auch noch dieses andere Geheimnis, das in ihm wühlte. Den Sommer über lag er mit seiner Charlie-McCarthy-Puppe, umringt von weiteren ausgeschnittenen Puppen auf seinem Laken. Der kleine Andy war früh besessen von Filmen. Wenn er sich nicht heimlich in Filmvorstellungen schlich, klebte er Fotos seiner Lieblingsstars in sein Stickerbuch. Shirley Temple himmelte er an. Er wollte wie sie Stepptanz können und fertigte einmal ein Selbstporträt an, dem er ihre Gestalt gab. Die Carnegie Museen in Pittsburgh waren zu jenem Zeitpunkt ein Museumsverbund, ähnlich den Staatlichen Museen zu Berlin, die samstags Zeichenkurse anboten. Nach dem Kunstunterricht in der Grundschule bei Annie Viekmann, besuchte Warhol den Zeichenkurs von Joseph Fitzpatrick am Carnegie und lernte hier über Farbe, Komposition und Perspektive. Das Carnegie bot ihm dazu die Möglichkeit, den Sammlungsbestand auszukundschaften und Werke von Rembrandt, Rubens, Poussin, Rousseau oder Picasso zu sehen, die jährlich während der Carnegie International nach Pittsburgh kamen.[6] 

Eine früh beginnende Kunstpädagogik kann ein Kind dazu anregen, für sein Anderssein eine Formsprache im Rahmen des kulturell Verfügbaren zu entwickeln und zu einem weniger schambehafteten Umgang bei Themen rund um Liebe, Körper oder Sexualität verhelfen. Warhol drückte es in etwa so aus: „People have so many problems with love, always looking for someone to be their Via Veneto, their soufflé that can’t fall. There should be a course in the first grade on love. There should be courses on beauty and love and sex. With love as the biggest course. And they should show the kids, I always think, how to make love and tell and show them once and for all how nothing it is. But they won’t do that, because love and sex are business.”[7] In der Neuen Nationalgalerie konnten die Besuchenden parallel zur Ausstellung an einem Aktionstisch ihre eigenen Selbstporträts wie Warhols Icons mit Transparentpapier und Farbkarton anfertigen. Das Konzept für „Oh Beauty” stammt von Felicitas Fritsche-Reyrink und hat jung wie alt begeistert. 

Bereits 2001/2002 gab es in der Neuen Nationalgalerie eine Andy Warhol Retrospektive, kuratiert von Heiner Bastian, bei der allerdings die vielbeachteten „Thirteen Most Wanted Men” – eine Zusammenstellung genetesquer Figuren mit eindeutig homoerotischem Charakter – im Lichthof der Mies van der Rohe-Halle hängen sollten. Sie wurden dann aber kurz nach den Anschlägen am 11. September in den Saal des Untergeschosses verfrachtet, erinnerten sie doch zu sehr an die damals kursierenden Fahndungsfotos. Der Verweis darauf ist nicht unwesentlich, verdeutlicht er doch einmal mehr, wie eng Kunst und Kuration zeitpolitisch verbandelt sind und gleichermaßen, wie vulnerabel und fragil die Möglichkeit zur Sichtbarwerdung rund um queere Kunst heute wie damals ist. Mit Blick auf den Erfolg der politischen Rechten hierzulande wie im restlichen Europa, und der wachsenden Kritik an queeren Bildungsbemühungen, stellt sich die Frage, ob eine Ausstellung wie diese nicht in einiger Zeit „einmalig” genannt werden wird. [8]

[1] Sichel, Jennifer: “„ ‚Do you think Pop Art’s queer? ‘ Gene Swenson and Andy Warhol“, Oxford Art Journal, vol. 41, no. 1, 2018, 59-83.

[2] Koestenbaum, Wayne: Andy Warhol: A Biography, Open Road Media, 2015, 8.

[3] https://www.etymonline.com/word/expose

[4] Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Paris: Seuil, 1957.

[5] Sedgwick, Eve Kosofsky: „Queer Performativity: Warhol’s Shyness / Warhol’s Whiteness”. In: Pop Out: Queer Warhol, edited by Jennifer Doyle, Jonathan Flatley and José Esteban Muñoz, New York, USA: Duke University Press, 1996, pp. 134-143.

[6] Koestenbaum, Wayne: Andy Warhol, 2001.  [7] Warhol, Andy: The Philosophy of Andy Warhol from A to B, New York: Harcourt, 1977, 43.

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