Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Was aus den Kindern von der Fischerinsel geworden ist

17.08.2021
In seinem Buch "Die Kinder von der Fischerinsel" sucht Autor Andreas Ulrich seine damaligen Klassenkameraden auf. Gemeinsam blicken sie auf ihre Kindheit und Jugend im Fischerkietz, der hier vom Rolandsufer aus fotografiert ist. Foto: ALW

Mitten im Herzen Berlins befindet sich die Spreeinsel, deren nördlicher Teil als Museumsinsel und deren südlicher Teil als Fischerinsel bekannt ist. Dort stehen sechs Hochhäuser (oder auch Plattenbauten) des Typs WH GT 18, von denen sogar eines 21 geschossig ist. Sie wurden zwischen 1969 und 1973 gebaut. Andreas Ulrich, Autor und Moderator, hat hier seine Kindheit und Jugend verbracht und begibt sich fünf Jahrzehnte später auf die Suche nach seinen damaligen Klassenkameraden. Das Ergebnis ist das Buch „Die Kinder von der Fischerinsel“.

Als Ausgangspunkt dient ein Klassenfoto der 5. Klasse der 15. Polytechnischen Oberschule in der Wallstraße aus dem Jahr 1971. Der Journalist Andreas Ulrich hat versucht, Kontakt zu seinen ehemaligen Mitschüler*innen aufzunehmen und sie zu ihren Erinnerungen zu befragen. Obwohl einige schon nicht mehr leben, ist es ihm gelungen, die Lebenswege von 16 Personen nachzuzeichnen. Sie leben heute an der Schleswig-Holsteinischen Küste, in Lychen, in Kreuzberg und in Alt-Hohenschönhausen– nur im „Fischerkietz“, wie er im Buch genannt wird, wohnt niemand mehr.

Damals war dieser Kietz jedoch eine begehrte Wohnlage – wegen der Neubauten und der zentralen Lage. In unmittelbarer Nachbarschaft befanden sich das Pergamonmuseum, der Palast der Republik, das Auswärtige Amt und das ehemalige Staatsratsgebäude, aber auch Kreuzberg und damit die Grenze zu Westberlin war ganz in der Nähe. In den Hochhäusern wohnten daher viele Parteifunktionäre, Diplomaten und Künstler*innen, die die Wohnungen vom Kulturministerium bekommen hatten. Bei einer Buchvorstellung in der Philipp-Schaeffer-Bibliothekerzählt Ulrich, dass dies dazu geführt hätte, dass seine Klasse relativ durchmischt war, was die Hintergründe der Familien betraf. Es gab neben Donald aus Syrien und Tatjana aus Moskau auch zwei Schülerinnen aus Westberlin, wie Bernd, der mit seinen vielen Westsachen punkten konnte: „Fast alles von ihm stammte von drüben, Klamotten, Füllfederhalter, Spielsachen. […] Vorne in der Mitte steht Nele, das Mädchen mit der Brille. Ihr Vater war Professor, was so auch an der Wohnungstür stand. [… ] Bei uns im Haus, in der Fischerinsel sechs, gab es außerdem Ägypter, Polen und Palästinenser. Die meisten von ihnen waren Diplomaten. Später kamen auch noch einige Korrespondenten dazu.“ (S. 15)

Wobei nicht nur Kinder von Prominenten oder Diplomaten hier zur Schule gingen, sondern auch solche aus kinderreichen Familien. Das lag daran, dass neben dem Kulturministerium und dem Dienstleistungsamt für ausländische Vertretungen auch das Wohnungsamt Wohnungen vermitteln durfte. Auf diese Weise war Ulrichs Familie 1970 an eine Wohnung in der Fischerinsel gekommen: seine Mutter wollte mit ihren vier Kindern unbedingt aus der Ofenheizungswohnung im Prenzlauer Berg heraus und ging hartnäckig so lange aufs Amt, bis sie die Vier-Raum-Neubauwohnung im Erdgeschoss bekam. „Heute kann man sich das nicht vorstellen, wie man 140 qm gegen 75 qm eintauschen konnte, aber damals war das so. Man wollte modern wohnen, mit fließend heißem Wasser und Heizungen. Das war der damalige Zeitgeist.“[1] Der hat damals auch in Kauf genommen, dass für die Neubauten zum Teil denkmalgeschützte Altbauten zerstört wurden. Im Buch beschreibt Ulrich eindrücklich wie er beim Streunern durch „dunkle, muffige Hausflure und Treppenhäuser“ in der Friedrichsgracht, wo noch Häuser aus dem 17. Jahrhundert stehen, plötzlich einem alten Mann begegnet und sich kolossal erschreckt.

Die meisten Geschichten seiner Mitschüler*innen beginnen aber im Heute – und erzählen nicht nur etwas über das Wohnen auf der Fischerinsel in den 1970er Jahren, sondern auch über das Leben in der DDR vor und nach der Wende.

Da ist zum Bespiel Donald. Seine Eltern zogen als er sechs Jahre alt war nach Damaskus in Syrien, wo der Vater die DDR-Handelsvertretung leitete. „Viele Eltern auf der Fischerinsel waren die ersten Akademiker in ihren Familien, Männer und Frauen, die die Bildungs- und Aufstiegschancen, die ihnen der neue Staat bot, entschlossen ergriffen und dem Land später loyal ergeben waren, bis zu dessen Ende und oft darüber hinaus. Auch Donalds Eltern, die sich Anfang der fünfziger Jahre kennengelernt hatten, griffen entschlossen zu. Als Ingenieure für Entwicklungsländer gesucht wurden, war Donalds Vater sofort zur Stelle. Kurz darauf landete Donalds Vater 1956 in Kairo, wo er ägyptische Bauprojekte betreute.“ (S. 22)

Da ist aber auch Moritz, der Sohn der Schriftstellerin Sarah Kirsch. Diese wohnte bis 1977 in einer Zwei-Raum-Wohnung in der Fischerinsel, als sie mit ihrem Sohn in den Westen ausreiste: „‘Am Tag der Ausreise sind wir von der Fischerinsel zum Bahnhof Jannowitzbrücke gelaufen. Die Umzugskisten waren schon ein paar Tage vorher rübergebracht worden. Als wir im Tränenpalast am Abfertigungsschalter standen, hat zu guter Letzt noch ein Zöllner DDR-Münzen in Sarahs Jackentasche gefunden – Ostgeld auszuführen war ja verboten. Haben die ernsthaft gedacht, dass wir Alu-Chips in den Westen schmuggeln wollten?‘ Moritz ist noch heute fassungslos, wenn er an die Szene denkt und gesteht, dass sie in dem Moment Angst hatten, dass man sie in letzter Sekunde doch nicht rauslassen würde. ‚Aber dann sind wir ein paar Minuten später in Charlottenburg, also in Westberlin, aus der S-Bahn gestiegen. Freunde holten uns ab. Bei denen konnten wir auch die erste Zeit wohnen und mussten zum Glück nicht in dieses Notaufnahmelager.‘“ (S. 147)

Sabine ist dagegen immer im Osten geblieben. Sie ließ nach dem Mauerfall vierzehn Tage verstreichen, bevor sie das erste Mal rübergegangen ist. „Sabine ließ sich Zeit mit dem Erstbesuch, weil sie es ‚unwürdig fand, sich da in die Schlange für die einhundert Westmark Begrüßungsgeld zu stellen.‘“ (S. 182) Anders Nele: Sie war am 7. Oktober demonstrieren, hochschwanger. Als sie kurz darauf bei einem westdeutschen Unternehmen anfangen will, zu arbeiten, macht sie jedoch eine ähnliche Erfahrung wie Sabine: Sie wird gefragt, wie sie sich das vorstelle: „Mutter eines Kleinkindes zu sein und zugleich arbeiten zu wollen?“ Das war im Westen nicht üblich und führte dazu, dass die Frauen mit ihrem Arbeitswunsch für Irritationen sorgten.

Diese kurzen Eindrücke sind hilfreich, um zu verdeutlichen, dass man ostdeutsche Biografien nicht verallgemeinern sollte, dass aber doch bestimmte spezifische Erfahrungen geteilt werden.

Das Buch deutet auch die Veränderungen des Viertels nach der Wende an. Unter anderem wurde das charakteristische und viel genutzte „Ahornblatt“ am Mühlendamm abgerissen – eine Großgaststätte nach den Plänen von Ulrich Müther, einem der Pioniere des Schalenbetonbaus: „Nachmittags und abends war das Ahornblatt öffentliche Gaststätte, und am Wochenende Disco. Wochentags versorgte das Ahornblatt als Kantine die Schüler der 15. POS sowie Büro-Mitarbeiter aus der Gegend mit täglich 5.000 Mahlzeiten“, heißt es auf Seite 222. Neben einem Foto des Gebäudes ist auch eine Getränkekarte des Silvesterballs von 1981 abgedruckt.

Auf den Seiten davor werden im Post-Skriptum ein paar Fakten zur heutigen Situation zusammengetragen: Das Durchschnittsalter der ca. 3.500 Menschen, die auf der Fischerinsel wohnen, beträgt 47,5 Jahre (mit sinkender Tendenz) und der häufigste Familienname lautet Nguyen. Die Wohnungen gehören der Wohnbaugenossenschaft Mitte. Sie hat das Potential der Lage erkannt und will das Areal nachverdichten.[2] Eine Baustelle an der Ecke Mühlendamm/ Breite Straße verkündet seit 2016 von diesen Neubauplänen, die jedoch aufgrund von archäologischen Funden längere Zeit unterbrochen werden mussten. Unter anderem wurde eine mittelalterliche Latrine gefunden, die mittlerweile geborgen und in eine Grünanlage in unmittelbarer Umgebung versetzt wurde.[3] Die Neubaupläne sind ein Indiz für die Knappheit bezahlbaren Wohnraums in Berlin, aber auch dafür, dass die in den 1990e Jahre in Verruf geratene Hochhaussiedlung heute wieder attraktiv ist.


[1] Das Gespräch ist auf Youtube dokumentiert: https://www.youtube.com/watch?v=RV4NkFGwmdM

[2] https://www.wbm.de/neubau-berlin/mitte/fischerinsel/

[3] https://abendblatt-berlin.de/2021/05/03/mittelalterliche-latrine-bleibt-auf-der-fischerinsel/

Infos

Andreas Ulrich: Die Kinder von der Fischerinsel, be.bra verlag 2021

https://www.bebraverlag.de/autoren/autor/647-andreas-ulrich.html

Andreas Ulrich, geboren 1960 in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und arbeitet seit Jahren als Reporter, Redakteur und Moderator vor allem für das rbb-Fernsehen, radioeins, Deutschlandradio Kultur und den NDR-Hörfunk. Seine Themen sind Sport, Politik und Berliner Geschichte, die er am liebsten in Form von Lebensgeschichten erzählt. So veröffentlichte er im Jahr 2006 „Der Palast der Republik – ein Rückblick“ und erzählt in „Torstraße 94“ (2015) Lebensschicksale aus einem weiteren Berliner Mietshaus, in dem er selber gelebt hat.

Teilen