Was wäre, wenn jede*r einen Dachzugang hätte? Wie können Dächer stärker gemeinschaftlich statt kommerziell genutzt werden? Welche öffentlich zugänglichen Dächer, die nicht exklusiv als Dachgeschoßloft oder Vorstandsetagen dienen, gibt es überhaupt? Und welche Voraussetzungen braucht es, um Dächer als Gärten zu nutzen und zu Orten der Nachbarschaft zu machen? Diesen Fragen in einer sich stetig verdichtenden Stadt mit steigenden Immobilienpreisen geht das Kollektiv Operation Himmelblick nach. Auftakt der künstlerisch-politischen Initiative war 2020 beim Festival Begehungen in Chemnitz, seitdem sind sie an verschiedenen Orten in Berlin und nun im dritten Jahr auf dem Dach des Cittipoint-Gebäudes im Wedding aktiv. Die Idee: Einen offenen Raum für alle, zum Werkeln, Experimentieren und Zusammenkommen zu schaffen.
Dafür haben sie sich ein maximal funktionalen Gewerbebau in der Müllerstraße 141 ausgesucht: im Untergeschoß befindet sich eine Rewe-Filiale, im Erdgeschoss ein Nagelstudio und ein Asia-Supermarkt, die oberen vier Geschosse sind Parkdecks. Das letzte Parkdeck, auf dem schon länger keine Autos mehr parken, wird für die Sommermonate in einen öffentlichen Treffpunkt transformiert. Eine „Werkel-Woche“ Anfang Juli bildete den Auftakt der Dach-Aktivitäten. Dabei wurde zunächst die „Basis“ errichtet – eine Art mobile Garage mit Küche, Tisch und Ablageflächen – und Sitzgelegenheiten aufgestellt. Es folgten ein Dachfest und eine Aktionswoche zum leerstehenden Karstadt-Gebäude am Leopoldplatz, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindet. Mitte August wurden für eine Woche acht Künstler*innen eingeladen, auf und mit dem Dach zu arbeiten und im Rahmen einer Werkschau ihre Ergebnisse mit Besucher*innen zu teilen.
Den Auftakt der „Roof Glitches-Residency“ bildete ein Dachspaziergang durch die Nachbarschaft, bei dem exemplarische Dachnutzungen vorgestellt wurden. Erste Station war ein Parkhaus an der Kreuzung Fennstraße / Ecke Müllerstraße. Hier befindet sich seit 1972 in den beiden oberen Stockwerken die betriebseigene Kita von Bayer inklusive eines 3000 qm großen Dachlandschaftsgartens, der 2010 neu gestaltet wurde und mit Pflanzen, Schiff und Trampolin ausgestattet ist. Die Fläche ist mit Mauern umgeben, so dass zugleich ein offener und geborgener Raum entsteht und die Kinder nicht über die Brüstung klettern können. Die Leiterin der Kita, Silke Mailahn, klärt uns über die Vor- und Nachteile auf: „Eine Herausforderung ist die Statik des Daches – deswegen dürfen die Pflanzenkübel nicht zu schwer und nicht zu groß sein. Ein weiteres Problem ist die Lust der Kinder, Dinge herunterzuschmeißen. Da sind wir ausnahmsweise sehr streng“, sagt sie.
Die nächste Station ist der Dachgarten des Silent Green in der Gerichtstraße. Hier empfängt uns Merlind David. Sie erzählt, dass es den Dachgarten auf dem Neubau, der 2015 errichtet wurde, schon länger gibt, aber erst dieses Jahr die Bewirtschaftung so richtig Fahrt aufgenommen hat, dank des Projektes The Vegetable Parliament, das auf der Rasenfläche aufgebaut wurde. Monserrat Peniche ist eine Gärtnerin mit viel Erfahrung, die sich auch des Dachgartens angenommen hätte, mit dem langfristigen Ziel, das Mars, die Gastronomie auf dem Gelände, mit frischem Gemüse zu versorgen. Es gibt drei langgezogene Beete, auf denen eine faszinierende Vielzahl von Pflanzen wächst – Blumen, Auberginen, Tomaten etc. Leider ist auch dieser Garten nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. David erklärt: „Das ist organisatorisch leider nicht umsetzbar, zudem gibt es Sicherheitsbedenken und wir müssen auf die Nachbarn Rücksicht nehmen.“ Die Gruppe zieht zur nächsten Station: Das Centre Française im nördlichen Teil der Müllerstraße. Hier wird das Dach des City Kinos zur Honigproduktion genutzt, wie uns Florian Fangmann, der Leiter der Institution erzählt. 16 Völker leben hier und produzieren Stadthonig. Beim Blick in die Baumwipfel erfahren wir, dass die Stadt diversitätsmäßig besser aufgestellt ist als viele ländliche Gebiete, wo oftmals Monokulturen dominieren. Fangmann erzählt, dass sie das Dach auch schon mal als Kunstwerk genutzt hätten: „Als der Flughafen Tegel noch aktiv war und hier viele Flugzeuge rübergeflogen sind, haben wir mit dem Streetart-Duo Ella & Pitr ein Dachgemälde realisiert – zwei sich küssende ältere Damen. Davon sind aber nur noch Spuren übrig.“
Zum Abschluss der Dachtour werden die Teilnehmer*innen auf das Cittipoint-Dach eingeladen, um beim gemeinsamen Abendessen die Eindrücke der verschiedenen Dachnutzungen zu diskutieren. Eine gute Gelegenheit, um Jakob Margit Wirth und Kamila Juruć zwei der Organisator*innen zum Kollektiv und ihren Hintergründen zu befragen. Die beiden kennen sich noch aus dem Raumstrategien-Studium an der Kunsthochschule Weißensee. Jakob Margit Wirth erzählt, dass die Arbeit fast komplett ehrenamtlich sei – dazu zählen neben den Dachaktivitäten wöchentliche Plena, das Schreiben von Anträgen und die Pressearbeit. „Das funktioniert nur, wenn man die kollektive Arbeit als Teil der eigenen (künstlerischen) Praxis versteht“, erklärt Wirth, „sonst sei es ein ganz schönes Commitment.“ In diesem Jahr gebe es eine Förderung vom Programm Lebendige Zentren und Quartiere – Müllerstraße des Fachbereichs Stadtplanung des Bezirksamts Mitte. „Da haben wir 10.000 Euro bekommen, aber die sind schnell ausgegeben – für Miete und den Transport der „Basis“, die in den Wintermonaten bei Bekannten auf dem Land unterkommt.“
Ich frage nach den Erfahrungen der letzten Jahre, denn das Format hat sich von dem einwöchigen Festival Drüber machen im Jahr 2023 zu einem sommerfüllenden Programm unter dem Motto Hochgarage Cittipoint entwickelt. Kamila Juruć erklärt, dass sie nach dem kräftezehrenden letzten Jahr beschlossen haben, dieses Jahr konzentriertere Aktionen zu machen, um sich klarer von kommerziellen Nutzungen wie dem Klunkerkranich in Neukölln abzugrenzen und die politische Agenda nicht aus dem Blick zu verlieren. „Wir wollen keine Eventveranstalter sein.“ Bei der einwöchigen Aktion False promises brought us here! zum Karstadt-Leerstand haben sie sich gezielt mit anderen lokalen Initiativen zusammengeschlossen und eine öffentliche Parade durchgeführt, die auf dem Dach endete. Worauf sie sich besonders freue, sei die diesjährige Kooperation mit dem Jugendzentrum Casablanca aus der Nachbarschaft. „Im September werden die Jugendlichen selber ein Programm für Jugendliche kuratieren.“ Ein Beleg dafür, dass es den Macher*innen nicht nur darum geht, eigenes Programm zu machen, sondern die Dach Werk Stadt für andere zur Verfügung zu stellen. „Mein Traum wäre, dass das Dach wie eine Eckkneipe funktioniert – als Nachbarschaftstreffpunkt und Austauschplattform“, sagt Juruć.
Infos:
Cittipoint, Parkdeck 4 (mit dem Aufzug)
Müllerstraße 141, 13353 Wedding
https://operation-himmelblick.org/dachwerkstadt/
Weitere Termine:
1. September: 19 Uhr Netzwerktreffen für Engagierte, die sich mit dem Karstadt Leerstand beschäftigen.
3./4./5. September von 16 bis 21 Uhr: Takeover durch Jugendliche, die kulturelle Events von und für Jugendliche Organisieren – offen für alle! – in Kooperation mit dem Jugendzentrum Casablanca aus dem Wedding.
13. September, ab 16 Uhr: Abschlussevent mit Musik, Karaoke und Reflexion des diesjährigen Programms.