Es ist Samstag, früher Abend, langsam füllt sich die Klosterruine mit Menschen. Die sommerlichen Temperaturen bieten perfekte Bedingungen für ein Freiluftereignis der etwas anderen Art: vier musikalische Live-Acts/ Performances, die in der Klosterruine auftreten. Fast idyllisch mutet das Ambiente an, denn die Backsteinruine mit dem geräumigen Innenhof ist mit Pflanzenkübeln und einer Sitzarchitektur gefüllt, die Lust macht zum Dableiben. Die Blumenbeete, die aus Holz gezimmert sind und an die Hochbeete in Nachbarschaftsgärten erinnern, sind mit Farn und Hafer bewachsen. In der Mitte des Geländes wachsen Birken aus einer runden Holzpyramide, auf der man sitzen kann. Dazwischen stehen immer wieder Skulpturen aus getrocknetem Torf herum, unter ihnen ein Pudel mit aufwendiger Fellfrisur. Ein Riesen-Hängenetz lädt dazu ein, sich in die Waagerechte zu begeben und die Schuhe auszuziehen. Gleich neben dem Eingang befindet sich eine Regenwasserverteilungsanlage, die das Wasser sammelt und zu den Pflanzenbeeten leitet. Auf der anderen Seite des Eingangs stehen drei Komposttoiletten. Nachhaltigkeit scheint hier nicht nur ein Schlagwort zu sein, sondern ernst genommen zu werden. Das geschichtsträchtige Kleinod, nicht weit entfernt vom umtriebigen und hoch frequentierten Alexanderplatz, ist zu einem Verweilort geworden, ist zugleich Denkmal und Veranstaltungsort, Garten, Club und Bühne. Das Besondere: Man ist draußen und drinnen zugleich, denn obwohl es kein Dach gibt, erzeugen die erhaltenen Mauerreste das Gefühl eines abgeschlossenen, fast intimen Raum; gleichzeitig dringen die Geräusche der direkten Umgebung hinein und Menschen können durch den Zaun das Geschehen verfolgen.
Während eine eigens für den Ort zusammengestellte Playlist läuft und auf die kommenden Acts einstimmt, ist Gelegenheit sich noch etwas weiter umzuschauen. Unter den Bögen des Mittelschiffes befinden sich zwei merkwürdige Röhren auf Holzgerüsten, in die sich Menschen legen oder gar zu zweit reinquetschen. Ihre Form – zwischen Sarkophag und Brutkasten – kommt einem aus Science-Fiction Filmen merkwürdig bekannt vor. Die Installation Playground – for accepting your mortality stammt vom Künstler*innenpaar Katrīna Neiburga und Andris Eglītis, die zusammen mit Janis Noviks auch den „Garten“ gestaltet haben. Der Titel ist Programm – tatsächlich geht es den Künstler*innen um eine spielerische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit. An einem Ort, der als Begräbnisstätte für die Landesherren diente, und an dem der Alchimist und kurfürstliche Leibarzt Leonhard Thurneysser ein Laboratorium und die erste Druckerei Berlins betrieb, ein naheliegendes Thema. Über Thurneysser heißt es, er richtete ein Labor ein, pflegte einen exotischen Garten und besaß eine Sammlung exotischer Tiere. Plötzlich erschließt sich die Garteninstallation mitsamt den Tieren noch mal anders – sie wird zu einer Referenz zu diesem historischen Vorbild.
Foto: Raisa Galofre
Langsam füllt sich der Ort, es kommen viele jüngere und queere Leute, Partypeople, die den Ort wahrscheinlich erst durch die Creamcake-Reihe kennengelernt haben. Als der erste Act, Brooklyn Bridge, beginnt, sammeln sich die Leute im Chorraum. Hier, vor der eindrücklichen Kulisse der Kirchenfenstergerippe, befindet sich das DJ-Pult. Wie von einer Kanzel wird die Musik in die Menge gesendet und die Menschen zum Tanzen gebracht. Doch das Programm enthält neben dem eher klassischen DJ-Act von Brooklyn Bridge auch performativere Elemente. Als zweites tritt i.Ruuu und Ensemble auf. Eine Gruppe von fünf Frauen in weißen, selbstgeschneiderten Kleidern, die zwischen Opulenz und Schlichtheit changieren, kommen in die Mitte des Kirchenschiffes und fangen an zu singen und Sounds zu machen. Dann bewegen sie sich kreisförmig umeinander, stoßen sich ab und kommen sich näher, auf jeden Fall kommunizieren sie miteinander, auch wenn sie dies nicht durch Sprache ausdrücken. Im Gespräch schwärmt i.Ruuu, die Initiatorin des Stückes, von der Kraft des gemeinsamen Singens: „Es ist ein wunderschönes Gefühl sich mit jemandem über die Stimme zu verbinden. Es ist fast wie eine Droge.“ Für das Stück hat sie mit befreundeten Musiker*innen zusammengearbeitet, mit denen sie bereits zuvor in unterschiedlichen Settings kooperiert hat. Statt einem minutiösen Skript ist ihr das Prozesshafte wichtig – und das Miteinander, das beim Proben und bei den Aufführungen entsteht.
Foto: Raisa Galofre
Der heutige Abend bildet den Abschluss der dreiteiligen Musik- und Performance-Reihe Paradise Found, die von Creamcake, einem Kollektiv bestehend aus Daniela Seitz und Anja Weigl, zusammengestellt wurde. Sie haben 2011 die interdisziplinäre Plattform Creamcake gegründet mit einem speziellen Fokus auf elektronischer Musik sowie queeren und queerfeminischen Künster*innen. Ihre Aktivitäten umfassen Symposien, Konzerte, Performances und Workshops an der Schnittstelle zwischen Musik, Technologie und Kunst. Für ihr Programm in der Klosterruine haben sie für die drei Abende je vier Live-Acts/ Performance-Künstler*innen ausgesucht, die „eine Vielfalt von Klängen, Klangfarben, Lautstärken und Geschwindigkeiten [präsentieren], um die affektiven und somatischen Möglichkeiten der Musik auszuloten, welche einer Umgebung sowohl beruhigende als auch verstörende Momente zu verleihen vermag.“
i.Ruuu ist eine von ihnen. Die US-Amerikanerin hat Musiktheater studiert und versteht sich als multidisziplinär, wie ihr Vorbild Laurie Anderson. Wie sie switchen viele der Künstler*innen von Creamcake zwischen unterschiedlichen Disziplinen, Arbeitsweisen und Geschlechtern – es ist kein Zufall, dass das nächste 3hd Festival von Creamcake, das im Oktober stattfindet, mit Fluid Wor(l)ds betitelt ist.
„Sie machen viele gute Sachen, aber ich finde besonders, dass sie jüngere Künstler*innen ermutigen und fördern“, sagt i.Ruuu über sie, die seit ca. zwei Jahren mit Creamcake zusammenarbeitet und auch mit den beiden befreundet ist. „Sie sind super“, sagt sie mit Nachdruck, „weil sie Genderqueers und Frauen helfen, ihre Stimme zu finden. Tatsächlich ist es ihr Credo, Talente zu fördern und sie sich in ihrem eigenen Tempo entwickeln zu lassen. Für die Reihe in der Klosterruine haben sie deshalb Musiker*innen, Komponist*innen, Produzent*innen, Interpret*innen und Künstler*innen ausgewählt, die zum Teil schon etabliert sind und zum Teil am Anfang ihres künstlerischen Weges stehen. Entscheidend war, dass diese Künstler*innen bereits zuvor mit der Plattform gearbeitet haben. Die Idee dahinter: „Nur durch Empowerment, Kooperation und Verbundenheit in unseren Gemeinschaften, kann das Kuratieren im Kontext einer beschleunigten Musik- und Kunstszene eine fürsorgende Aktivität sein.“ Dieser Care-Gedanke enthält eine politische Dimension, die die Aktivitäten der beiden Köpfe hinter Creamcake auf allen Ebenen durchzieht: Über die Auswahl der Künstler*innen sagen sie, sie zeuge „von der Bemühung, nicht an dem hohen Umsatz des menschlichen Kapitals innerhalb der sogenannten Erlebniswirtschaft von Festivals und kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen, sondern diese arkadische Alternative zu praktizieren. Die Teilnehmer*innen unterbrechen die heilige Achse und Ausrichtung der Kirche – ein Symbol für Konvention und institutionelle Macht – indem sie das subversive Potenzial von queerfeministischen Gesten und agnostischen Ritualen an einem historischen Ort erkunden.“
Den Abschluss des Sommerveranstaltungsprogramms bildet die Performance-ReiheCruising the End Times, kuratiert von Christopher Weickenmeier. Sie greift das Thema der Vergänglichkeit erneut auf – allerding unter deutlich düsteren Vorzeichen. Denn laut Christopher Weickenmeier befinden wir uns mitten in einem sehr realen Massensterben. Wenn wir so weiter machen wie bisher (die Ressourcen aufbrauchen und die Welt erhitzen) ist die Apokalypse nah, es ist eine aussichtslose Situation. Doch Weickenmeier nimmt dieses Szenario zum Anlass für einen Blickwechsel: „Das Ende der Welt ist immer mit unserem Ende verknüpft, mit unserem Aussterben. Darin drückt sich unser anthropozentrisches Denken, das den Menschen beständig in den Mittelpunkt stellt, aus. Doch wenn wir unser Ende nicht äquivalent zum Ende der Erde denken, könnte es auch ein Neuanfang sein, eine Art Erlösung für alle anderen Lebewesen.“
Aus diesem Grund hat er drei Veranstaltungen konzipiert, die sich dem Thema des Weltuntergangs widmen: „Wir fangen am Ende an, und bleiben da, eine Szene, eine Bewegung und einen Tanz lang.“ Stichworte: postapokalyptische Ästhetik, eine Welt im Zerfall, Emergent Emergencies. Zur letzten Veranstaltung hat Weickenmeier die young boy dancing group eingeladen, deren Tänze ihn an die Endzeit erinnern, und die zugleich etwas öffnen, weil sie zeigen „wie man vielleicht in ihnen lebt, indem man etwas findet, das man mag, in dem, was irreduzibel zerbrochen wurde. Und das wahrscheinlich verloren ist, ja.“
Man darf gespannt sein, wie sich diese düstere Stimmung mit der besonderen Stimmung der Klosterruine mischen wird. Klar ist: wo Vergangenheit und Gegenwart sich mit der Zukunft kurzschließen, da funkt und funkelt es!