Die Parkanlage im Rücken, den Blick auf die Backsteinbauten in der Bristolstraße gerichtet, auf die teils heraustretenden, teils verglasten Loggien und die markanten weißen Putzstreifen, befindet man sich inmitten eines Gebiets, das in städtebaulicher und architektonischer Hinsicht einen Wendepunkt markiert. Die Gebäude zwischen Dubliner und Oxforder Straße bilden den Auftakt zu der ersten großen Berliner Wohnsiedlung im Stil des Neuen Bauens.
„Dieses Areal war Anfang des 20. Jahrhunderts Dünengelände und daher weitestgehend unbebaut“, beginnt Thomas M. Krüger von Ticket B den rund zweistündigen Rundgang. Um einen Ausgleich zu den sehr beengten und unhygienischen Wohnverhältnissen der im Wedding lebenden Arbeiter zu schaffen, wurde zwischen 1909 und 1913 auf dem Terrain der Wandersanddünen der Schillerpark angelegt. Anders als bis dahin in öffentlichen Grünanlagen üblich, lud der erste „Volkspark“ Berlins die Menschen dazu ein, die Wiesen für sportliche Betätigungen und sonstige Freizeitaktivitäten zu nutzen.
Kurz nach Fertigstellung des Schillerparks begann der Berliner Spar- und Bauverein – heute bekannt als Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892 eG – die Planung einer Siedlung, die unmittelbar an den Park anschließen sollte. Von Anfang an beteiligt war der Architekt und Vertreter des Neuen Bauens Bruno Taut (1880-1938). Taut arbeitete bereits an der Realisierung der Gartenstadt Falkenberg in Treptow, die ebenfalls vom Berliner Spar- und Bauverein in Auftrag gegeben worden war. Die Siedlungen waren der Beginn einer sehr produktiven Schaffensphase Tauts. Die Liste der Wohnungsbauprojekte in Berlin, die er durchführte oder an denen er maßgeblich beteiligt war, ist lang: Neben der Gartenstadt Falkenberg und der Siedlung Schillerpark war er u.a. für die Hufeisensiedlung in Britz, die Wohnstadt Carl Legien in Prenzlauer Berg und die Siedlung Onkel Toms Hütte in Zehlendorf verantwortlich. Die Siedlungen in Treptow, Britz, Prenzlauer Berg und im Wedding sind seit 2008 in die Welterbeliste der UNESCO eingeschrieben.
Bruno Tauts Ansatz, seine Entwürfe an neusten sozialen und Hygienestandards zu orientieren und die Gestaltung möglichst kostengünstig auszuführen, zielte auf eine Verbesserung der Wohnsituation sogenannter „minderbemittelter Schichten“, wie man einkommensschwache Bürger*innen damals bezeichnete. Seine Praxis im Bereich des sozialen Wohnungsbaus stimmte insofern mit den Prinzipien des Berliner Spar- und Bauvereins überein: Der Verein entstand 1892, um der Wohnungsnot in der schnell wachsenden Industrie- und Handelsmetropole beizukommen. Denn aufgrund des massiven Zuzugs aus ländlichen Gebieten wuchs nicht nur die Nachfrage nach Wohnraum, sondern auch der Preis für ebendiesen. Innerhalb von nur einem Jahrzehnt stiegen die Mieten gegen Ende des 19. Jahrhunderts um fast 75%. Die Folge waren sehr beengte, feuchte und dunkle Wohnverhältnisse sowie sich unter diesen Bedingungen schnell ausbreitende Krankheiten, die in den ärmeren Vierteln der Stadt grassierten. Diesem Zustand wirkte der Berliner Spar- und Bauverein durch sein Genossenschaftsmodell entgegen, das günstigen, modernen Wohnraum auch für ärmere Bevölkerungsschichten zur Verfügung stellte. Wie fortschrittlich diese Idee zu jener Zeit war – und mit Blick auf die heutige Wohnsituation noch immer ist –, wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass der Wohnungsbau Ende des 19. Jahrhunderts beinah vollständig durch wohlhabende Grundstückbesitzer und Investoren erfolgte. Schon damals galten Immobilien als sichere und gewinnbringende Geldanlage.
Diesem auf Ungleichheit basierenden Prinzip wollten die aufkommenden Wohnungsbaugesellschaften entgegenwirken, indem sie ihren Mitgliedern Wohnraum zu weitestgehend gleichbleibenden Konditionen zur Verfügung stellten.
Doch bevor es dazu kommen konnte, unterbrach der aufkommende Erste Weltkrieg die Planungen. Nach 1918 half die Einführung der Hauszinssteuer dabei, trotz leerer Staatskassen den dringend notwendigen sozialen Wohnungsbau voranzutreiben. Die Steuer sah eine Abgabe auf Erträge aus dem Wohnungsmarkt vor und basierte auf der Tatsache, dass der Wert der Immobilien selbst zu Inflationszeiten (1914-1923) stabil blieb.
Nachdem Taut unmittelbar nach Kriegsende die Planungen wieder aufgenommen hatte, konnten die ersten Bauabschnitte der Siedlung Schillerpark ab 1924 errichtet werden. Taut konzipierte sie als sogenannte Dreispänner, bei dem in jeder Etage jeweils drei Wohnungen vom Treppenhaus abgehen. Um ausreichend Lichteinfall sicher zu stellen, wurden alle Wohnräume nach Südosten oder Südwesten ausgerichtet.
Während in der warmen Jahreszeit die Höfe ausreichend Platz für das Aufhängen gewaschener Wäsche boten, standen bei Nässe und Kälte die Trockenböden in den oberen Geschossen der Häuser – von außen erkennbar durch die kleineren Fenster – zur Verfügung.
Dieses Trockengeschoss entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem Erkennungsmerkmal Tauts und ist in allen von ihm geplanten Gebäuden der Siedlung zu finden.
Außerdem lassen die Fassaden Tauts Prinzip erkennen, die Bauelemente zu reduzieren (und dabei Kosten zu sparen) ohne monoton zu wirken: Der Wechsel zwischen den hervortretenden und balkonartig umbauten Loggien, den verschieden großen Fenstergrößen und den Putzstreifen lassen die Häuser zu „skulpturalen Körpern“ werden, so Krüger. Auch die Gestaltung der Türen – Taut begann hier, mit Farbe als Gestaltungselement zu experimentieren – verleiht den Gebäuden einen besonderen Charakter. Die Vollendung dieses Stilmittels lässt sich in der Gartenstadt Falkenberg beobachten, die aufgrund ihrer Farbenvielfalt auch als Tuschkastensiedlung bezeichnet wird.
In den zwischen 1924 und 1928 entstandenen Häusern der Siedlung Schillerpark befanden sich die Toiletten bereits innerhalb der Wohnungen – für damalige Verhältnisse der Arbeiterklasse ein sehr fortschrittlicher Komfort. Vollständige Badezimmer wurden allerdings erst in den später entstandenen Bauabschnitten integriert; ein heute nicht mehr existierendes Waschhaus diente den Bewohner*innen der zuerst fertiggestellten Wohnungen als sanitäre Anlage.
Im Hinblick auf die Gesamtanlage der Siedlung übernahm Taut die für Berlin typische Blockrandbebauung aus dem 19. Jahrhundert, öffnete diese jedoch an vielen Stellen, so dass sie einen Gegenentwurf zu den oft schattigen und kühlen Höfen Berlins darstellten: Die offene Gestaltung ermöglicht noch heute eine gute Belüftung und stellt sicher, dass nicht nur die Innenhöfe, sondern auch die Wohnungen selbst ausreichend Sonnenlicht erhalten. Gleichzeitig bilden die umbauten Rasenflächen einen von der Straße geschützten Raum, in dem sich die Bewohner*innen für Sport und Freizeit aufhalten können. Während man die Freiflächen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg als Parkplätze nutzte, wurden sie Anfang der 2000er Jahre im Zuge umfassender Renovierungen und Sanierungen der Siedlung wieder in ihren ursprünglichen Zustand gebracht.
Die zeitlich unmittelbar an die Fertigstellung der ersten Wohnungen anschließenden Gebäude des zweiten Bauabschnitts zwischen Windsorer und Oxforder Straße unterscheiden sich leicht von den ersten Bauten. Hier mussten neu entwickelte Standards des sozialen Wohnungsbaus umgesetzt werden, um weiterhin eine Finanzierung durch die Hauszinssteuer zu gewährleisten. Mit dem Ziel, eine bessere Lüftung innerhalb der Wohnungen zu ermöglichen und die einzelnen Wohnungen größer werden zu lassen, wurden nun nur noch zwei Wohnungen pro Stockwerk gebaut. Dies gilt auch für den letzten von Taut geplanten Abschnitt zwischen Oxforder Straße und Barfusstraße, der jedoch aufgrund des Nationalsozialismus bis auf einige Randbauten nicht fertiggestellt werden konnte:
1933 floh Bruno Taut vor den Nationalsozialisten über die Schweiz nach Japan. Von dort zog er 1936 in die Türkei, wo er die Leitung der Architekturabteilung an der Akademie der Schönen Künste in Istanbul übernahm. Schon kurze Zeit später, am 24. Dezember 1938 erlag er in Istanbul seiner schweren Asthmaerkrankung.
Im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit vervollständigen Bruno Tauts Bruder Max (1884-1967) und Hans Hoffmann (1910-1990) – beides frühere Arbeits- und Bürokollegen Bruno Tauts – die Siedlung am Schillerpark. Max Taut betreute die durch einen Bombeneinschlag notwendigen Reparaturen und ergänzte das Gebäude an der Ecke Bristol- und Dubliner Straße um ein viertes Geschoss.
Hoffmann übernahm gemeinsam mit dem Gartenarchitekt Walter Rossow (1910-1992) den Ausbau des Areals nordwestlich der Corker Straße. Die zwischen 1954 und 1959 entstandenen Häuser zeichnen sich durch einen zeitgemäßen, großflächigen Einsatz von Glas und Metall aus und entsprechen dem klassischen Erscheinungsbild der späten 1950er Jahre. Die damals sehr beliebten Blumenfenster oder auch Pflanzenbecken genannt, wurden nach der 2011 erfolgten Sanierung beibehalten und sorgen damals wie heute nicht nur für einen hübschen Anblick, sondern auch für eine positive Energiebilanz.
Besonders schön sind die von Rossow geplanten Gärten, die die Anlage in diesem Areal zu einem grünen Hain werden lassen. Als „die Côte d’Azur Berlins“ bezeichnet Krüger die Hoffmann-Bauten – und in der Tat ruft die Mischung aus saftigem Grün, blühenden Rosen, gestreiften Markisen und den großen Fenstern Assoziationen an die Französische Riviera hervor.
Von diesem kleinen, grünen Paradies – das übrigens nicht Teil des UNESCO-Welterbes ist – geht die Führung weiter zur Weißen Stadt in Reinickendorf. Der von 1929 bis 1931 erbauten Siedlung liegt ein städtebaulicher Entwurf von Bruno Taut und Martin Wagner (1885-1957) zugrunde, ausführende Architekten waren Otto Rudolf Salvisberg (1882-1940), Bruno Ahrends (1978-1948) und Wilhelm Büning (1881-1958). Die in weiß gehaltenen Gebäude unterscheiden sich deutlich vom Erscheinungsbild der Siedlung Schillerpark und erinnern stark an Bauten des Bauhauses. Vom Dach des Brückenhauses blickt man über die Torbauten der Weißen Stadt in der Aroser Allee in den Wedding und sieht weit entfernt am Horizont den Fernsehturm aufragen…
Informationen zu den Architektur-Führungen von Ticket B gibt es hier.