Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Zeitdokumente aus Glas

03.07.2023
Eine der historischen Aufnahmen aus der Ausstellung aus dem Bestand des Verlags Walter Meyerheim zeigt den Vorplatz zum Potsdamer Bahnhof. ca. 1929

Eine Fotoausstellung im Mitte Museum dokumentiert das urbane Gefüge des Potsdamer Platzes in den 1920er Jahren. Der Ausgangspunkt: Ein ungehobenes Konvolut von Glasnegativen, die Idee, beim Europäischen Monat für Fotografie mitzumachen und zwei Kurator*innen, die sich für Fotografie begeistern. Das Ergebnis: eine kompakte Ausstellung, die vielseitige Informationen und Anlass für einige Spekulationen bietet.

Bereits im Jahr 1990 erwarb das Mitte Museum über 150 Glasnegative mit Aufnahmen des Potsdamer Platzes. Sie stammen aus dem Nachlass des Berliner Verlags Walter Meyerheim, der einige Jahre in der Alexanderstraße in Mitte ansässig war. Die Idee, sich eingehender mit diesen Fotografien zu beschäftigen, ihrer Geschichte nachzugehen und zu den Motiven zu recherchieren, um damit eine Ausstellung zu machen, gab es schon länger. Der Europäische Monat der Fotografie 2023 bot einen geeigneten Anlass, um diese Pläne endlich umzusetzen.

Die Ausstellung „Stadt auf Glas“ stellt historische Glasnegative aus und macht mit ihnen den Potsdamer Platz der 1930er Jahre wieder lebendig, Foto: ALW

Im Vorfeld wurden die Glasnegative restauriert und digitalisiert, zeitgleich begann die Recherchearbeit, denn es existierten kaum Informationen – weder zum Urheber oder zur Urheberin, noch zum Verlag, den Motiven auf den Negativen oder dem Anlass der Fotografien. Lediglich Notizen auf den Papierhüllen boten einige Anhaltspunkte. So konnten die Aufnahmedaten in den meisten Fällen relativ gut ermittelt und zwischen 1928 und 1934 datiert werden. Der Zweck aber bleibt weiterhin unklar. Der Verlag war auf Ansichtskarten spezialisiert, es ist aber eher unwahrscheinlich, dass diese Fotos als solche gedacht waren, denn dafür sind sie nicht spezifisch genug. Es sind eher alltägliche Straßenszenen dieses Ortes, die hier festgehalten wurden: ein Blumenstand, die Innenansicht des Potsdamer Bahnhofs oder eine Gruppe Schüler*innen vor dem U-Bahn Eingang. War vielleicht eine Dokumentation des Platzes in Form eines Buches geplant, eines Platzes, der damals als Höhepunkt der modernen Stadt verstanden wurde? Und wer hat die Fotos gemacht? War es vielleicht ein Künstler oder eine Künstlerin, die hier unter dem Deckmantel der Gebrauchsfotografie seine oder ihre Spuren hinterlassen hat? Dafür wiederum sind die Aufnahmen zu wenig in Szene gesetzt, wie man es beispielsweise von Fotografien des Bauhäuslers László Moholy-Nagy kennt, der mit neuen, ungewohnten Perspektiven experimentierte. Edouard Compere, wissenschaftlicher Volontär am Mitte Museum, merkt zudem an, dass die Fotos zu wenig fokussiert seien und verdeutlicht seine Worte, in dem er bei einigen den unteren Teil, auf dem oftmals nur Straße zu sehen ist, abdeckt.

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Ausstellungsansichten, Fotos: ALW
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Compere und Sigrid Schulze, die Sammlungsleiterin des Museums, haben die Ausstellung kuratiert und konzipiert. In zwei Glasvitrinen wird eine Auswahl von 75 Glasnegativen sorgfältig präsentiert und eindrucksvoll in ihren Archivumschlägen inszeniert (Gestaltung: Jakob Straub und Jan Wirth). Auf zwei raumteilenden Stellwänden werden ergänzende Informationen bereitgestellt – vornehmlich zum historischen Potsdamer Platz, zu seinen Bauten und Besonderheiten (wie dem Verkehrsturm), aber auch zum Bestand der Glasnegative und seiner Geschichte.

Auf eine Rückseite der Stellwände werden zudem alle Motive aus dem Bestand projiziert, die den Potsdamer Platz zeigen, so dass man sie in größerem Format nochmals genauer anschauen kann. Hier lassen sich nicht nur die Gebäude besser erkennen (darunter neben dem Potsdamer Bahnhof, das Hotel Fürstenhof, das Palasthotel und das Pschorr-Haus), sondern auch zahlreiche Werbeschriftzüge entziffern, wie Hildebrand-Schokolade, Asbach-Uralt oder Odol.

In einer zusätzlichen Vitrine finden sich hilfreiche technische Informationen zu analogen fotografischen Verfahren inklusive Farbdiapositiven, Schwarz-weiß-Negative und Kontaktabzügen. Die Besucher*innen erfahren, dass „Glasplatten, durch eine chemisch behandelte Gelatine-Schicht lichtempfindlich gemacht, […] in den 1920er Jahren ein weit verbreitetes fotografisches Material [waren]. Es gab ein vielfältiges Angebot an Kameras in verschiedenen Formaten, von einfachen Boxkameras bis hin zu präzisen Studiokameras. Die in der Ausstellung gezeigten Motive sind wahrscheinlich mithilfe einer sogenannten ‚Klappkamera‘ entstanden, die sich allerdings nicht genauer bestimmen lässt. Diese verfügten über einen ausziehbaren Balgen zwischen dem Objektiv und dem Körper der Kamera und konnten zusammengefaltet werden, was den mobilen Einsatz erleichterte. Mithilfe eines Rahmensuchers, der einen groben Eindruck des Bildmotivs vermittelte, konnte auch spontan und ohne Stativ fotografiert werden. Solche Schnappschüsse konnten verwackelt oder unscharf sein, was sich erst beim Entwickeln des Bildes offenbarte.“ Tatsächlich sind auf den Wänden einige der Fotos (mit dem charakteristischen schwarzen Rand) unscharf.

Im Archiv befinden sich weitere Negative, Foto: ALW

Potsdamer Platz – früher urbanes Zentrum und heute?  

Die Fotografien geben Aufschluss über den legendären historischen Potsdamer Platz, als der Platz zu den verkehrsreichsten Kreuzungen in Europa zählte und ein beliebter Ausgehort war. „Er stand für das moderne Berlin, für Geschwindigkeit, unendliches Vergnügen und Konsum, für Veränderung. Hier traf sich die ganze Stadt, hier war stets etwas zu sehen und zu erfahren“, heißt es im Ausstellungstext.

Edouard Compere erzählt bei seiner Führung, dass der Platz um 1838 entstanden sei, als der Potsdamer Bahnhof gebaut wurde und sich der Platz zu einem Umsteige- und Vergnügungsort entwickelt habe, der nicht nur Berlin und Potsdam verband. Aus dieser Zeit stammen die meisten Gebäude, die auf den Fotos abgebildet sind, gut zu erkennen am wilhelminischen, pompösen Baustil. Die Moderne schreibt sich erst Anfang der 1930er Jahre in den Platz ein, u. a. mit dem Columbushaus. Auf einigen Fotos ist die Baustelle noch mit einem „Bauzaun“ verdeckt, auf ihm ist der Schriftzug „Galleries Lafayette“ zu lesen. Tatsächlich sollte auf diesem Grundstück nach Plänen des Architekten Erich Mendelsohn ein Kaufhaus des französischen Konzerns gebaut werden, doch das Projekt „wurde aufgrund der schweren Wirtschaftslage und des zunehmenden Nationalismus nicht realisiert“. Weiter heißt es auf der Stellwand: „Anders als viele der Bauten am Potsdamer Platz überlebte das Columbushaus den Krieg, wurde jedoch während des Volksaufstands von 1953 in Brand gesetzt und später abgerissen.“ Damit erlitt das Gebäude dasselbe Schicksal wie die meisten anderen, die bereits während des Zweiten Weltkrieges zerstört worden waren. Der Platz, inmitten des Grenzgebiets gelegen, wurde ausgelöscht und wurde in den 1990er Jahre wiederaufgebaut. Die hochtrabenden Pläne an das damalige quirlige Treiben anzudocken, haben sich jedoch nicht erfüllt. Es sei ein Platz ohne Eigenschaften, sagt Compere, dessen heutige „moderne“ Architektur inklusive unterirdischem Bahnhof an früher anzuknüpfen versuche, aber darin um einiges zu großmaßstäblich rüberkomme und keine gewachsene Struktur darstelle. Die Fotos als Zeitzeugen helfen uns, den heutigen Platz anders zu sehen, als wir es sonst tun würden, weil sie uns davon berichten, wie es einmal war.

Stadt auf Glas. Der Potsdamer Platz in Fotografien aus den Jahren 1928 bis 1934

Mitte Museum, Pankstraße 47, 13357 Berlin
www.mitte-museum.de

März – 30. Juli (mit voraussichtlicher Verlängerung bis September), So-Fr 10 bis 18 Uhr

Am 28. Juli 2023 findet um 16.30 Uhr eine Kurator*innen-Führung durch die Ausstellung statt. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

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