Wie war Ihr Einstieg in das Museum unter diesen besonderen Bedingungen, die dazu geführt haben, dass das Museum wenige Monate nach Ihrem Amtsantritt erneut schließen musste?
Ich musste mir erst einmal einen Überblick verschaffen, was gerade passiert, was geplant ist und vorher schon ausgestellt wurde, und mich mit den Strukturen und Mitarbeiterinnen vertraut machen. Es gibt viele Projekte, die jetzt anlaufen, die vor meiner Zeit geplant wurden, da muss ich mich einarbeiten. Besonders im Sachgebiet Erinnerungskultur und Geschichte, haben wir sehr viel zu tun, da wir neben dem laufenden Geschäft, die Finalisierung der Dauerausstellung auf Hochtouren betreiben. Jetzt durch den Lockdown mussten wir unsere Ausstellungsflächen schließen, deshalb wollen wir unsere Ausstellungen hier im Museum und im Museumslab im Rathaus Tiergarten, nach draußen tragen. Dazu werden wir mit den Kuratorinnen Interviews führen und Impressionen zeigen und diese über unsere Webseite online stellen oder mit einem Youtube-Link verknüpfen. Das erste Projekt, das wir online präsentieren werden, ist die Ausstellung in unserer Aula über das 1930 eröffnete Rathaus Wedding, im Rahmen des berlinweiten Museumsprojekts über 100 Jahre Großberlin. Die Ausstellung sollte am 17. Dezember eröffnen und wird nun spätestens im Januar online zugänglich sein.
Die Dauerausstellung ist ebenfalls eine wichtige Aufgabe. Die grobe Konzeption gab es zwar schon, aber bei der genauen Umsetzung und Fragen dazu, was und wie wir die Dinge erzählen wollen, bei der Objektauswahl und Farbgestaltung konnte ich noch mitwirken. Jetzt beginnt im Januar die räumliche Gestaltung, werden Möbel angefertigt und ab Februar wird eingebaut.
Wir bleiben bei den Uferstudios stehen, um ein Foto zu machen und Nathan Friedenberg fragt, wo wir uns befinden. Ich nehme die Frage zum Anlass, ihn zu seinem Werdegang zu befragen.
Ich habe gelesen, dass sie lange Zeit in Berlin gelebt haben, aber dann ins Ausland gegangen sind zum Studium?
Ich bin zwar in Hamburg geboren, aber von dort kurz nach der Geburt weggezogen und hab viele Jahre in Kreuzberg gewohnt. Seit 2004 habe ich überwiegend in England und Israel gelebt. Eine Zeitlang konnte ich mir nicht vorstellen, zurückzukommen, aber jetzt fühlt es sich gut an. Die Stadt hat sich in den 16 Jahren sehr verändert: Viele Flächen, die heute bebaut sind, kenne ich noch als leere Brachen. Als Teenager Ende der Neunziger fanden wir Berlin nicht urban genug, weil es überall diese Freiflächen gab. Das ist heute natürlich anders. Die Stadt ist viel voller und kosmopolitischer geworden– wobei ich mich manchmal frage, ob das nur auf Berlin zutrifft, denn die ganze Welt hat sich verändert, alles ist moderner und vernetzter geworden.
Wir überqueren die Badstraße und kommen auf dem Weg zur Panke an der Rückwand eines roten Backsteinhauses vorbei. „Hier war ich wirklich noch nicht“, sagt Nathan Friedenberg und erinnert sich gleichzeitig daran, dass es im Durchgang des Hauses eine Gedenktafel gibt, wo es im September eine Kranzniederlegung gab zu Ehren von Georg Benjamin, dem Bruder von Walter Benjamin, der im Haus gewohnt hat. Die Veranstaltung fand aus Anlass seines 125. Geburtstages statt.
Wie waren Ihre ersten 100 Tage?
Es waren so viele verschiedenste Eindrücke und Dinge, da muss ich kurz überlegen. Das meiste war und ist komplett neu für mich, weil ich eigentlich aus der Wissenschaft komme, wo ich zuletzt als Dozent für Neuere Geschichte in Köln gearbeitet habe. Auch in Israel habe ich an der Uni gearbeitet und promoviert. Die Abläufe im Bezirksamt und der Bezirksverordnetenversammlung waren mir erst mal fremd. Aber die Kolleginnen sind bei der Einarbeitung eine große Hilfe gewesen, sie haben mir geholfen und mir alles gezeigt. Besonders Frau Schulze, meine Stellvertreterin, ist Gold wert, weil sie den Überblick über alles und eine wahnsinnige Expertise hat. Ganz toll war die Arbeit an dem Buch, das gerade fertig geworden ist. Der Titel lautet Systematik der Deportationen – Orte und Erinnerungen, es geht um die Deportationen der Juden aus Berlin zwischen 1941 und 45. Es gibt ein Glossar, eine Karte und neben historischen Aufnahmen Fotos der Orte, wie sie heute aussehen. Obwohl ich bei den Vorarbeiten nicht so eingebunden war, habe ich das Projekt übernommen und habe Textredaktion, Bildauswahl und Covergestaltung mitverantwortet. Bald werden die Bücher geliefert, das ist immer ein toller Moment. Der zweite Teil des Buches behandelt in Form eines Aufsatzes erinnerungskulturelle und künstlerische Gestaltungen von Gedenkorten. Da sollen noch zwei weitere Bücher folgen, und ich freu mich drauf, mitzudenken, wo es noch hingehen könnte. Gibt es inhaltliche Herzensangelegenheiten und erste Pläne? Momentan bin ich überwiegend am Reagieren, weswegen ich mich besonders darauf freue, bald selber Programm zu machen. Dabei habe ich festgestellt, dass einiges, das ich ins Auge gefasst hatte, besonders zum Thema Dekolonisation, schon Thema war oder ist. Da ich Holocauststudien betrieben habe, was nicht nur den Holocaust, sondern auch Vorkriegszeit und die Auswirkungen inkl. des Nachkriegsumgangs umfasst, sind das meine Schwerpunkte. Aufgrund meiner Herkunft sind es zudem jüdische Themen. Weil ich viel über Holocaust und Nazis geforscht habe, würde ich gerne mehr über Juden, Erinnerungs- und Gedenkkultur in den verschiedenen Phasen der DDR machen. Das passt auch deswegen gut, weil wir neben Friedrichshain-Kreuzberg der einzige Bezirk in Berlin sind, der sich aus einem Ost- und in unserem Fall sogar zwei Westbezirken zusammengesetzt hat. Interessanterweise kommen eben diese Themengebiete von der Bezirksverordnetenversammlung auf meinen Schreibtisch. Einiges wird auch in Form von Briefen und Büchersendungen an mich herangetragen. Was ich gerne intensivieren würde, sind Kolloquien, Vortragsreihen und Workshops zu denen ich Externe wie z.B. Doktorandinnen aus Berliner Universitäten und anderswo einladen würde, um damit das bisherige Museumsprogramm zu ergänzen.
Haben Sie schon Kooperationspartner im Blick, mit denen Sie gerne zusammenarbeiten würden?
Es gibt private Initiativen und Vereine, mit denen wir bereits zusammenarbeiten. Zum Beispiel arbeiten wir mit einer Initiative zusammen, die Ghettostreber heißt. Das sind junge Leute, die meisten unter 18, die hier im Kiez wohnen, die wir dazu befragt haben, wie sie den Stadtteil heute wahrnehmen. Bei einem weiteren Projekt werden Türkinnen Migrationsgeschichten über verschiedene Generationen bis heute erzählen. Interessanterweise gehören auch Türkinnen im Kaiserreich dazu.
Zusätzlich gibt es den Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen (ABR). Alle Leiterinnen der Bezirksmuseen treffen sich einmal im Monat. Wir tauschen uns aus und planen Dinge zusammen. Z.B. gibt es momentan einen Auftrag und Budgets vom Land, die wir uns teilen und entwickeln miteinander Projekte zum Thema Dekolonialisierung für die nächsten vier Jahre. Weil es in Mitte zudem viele Landes- und Bundesinstitutionen wie das Stadtmuseum oder das Deutsche Historische Museum gibt, die viel größer sind und andere Geschichten erzählen, muss man viele Aspekte berücksichtigen und sich auch zu diesen Institutionen verhalten. Wir stehen an der Kreuzung Badstraße/ Pankstraße und ich weise Nathan Friedenberg auf das Schild hin, das in Richtung Museum weist. „Heimatmuseum“ steht darauf. Passt dieser Ausdruck noch? Und wenn ja, wessen Heimat ist damit gemeint? Oh, ich dachte, dass Schild wäre ausgetauscht worden. Der Begriff Heimat ist sehr komisch konnotiert und öffnet ein großes Themenfeld ausgehend von der Frage: Was ist Heimat? etc. Den Begriff kann man so nicht mehr benutzen, wir wollen über den Tellerrand gucken. Heimat kann heutzutage nicht mehr nur als nostalgischer Begriff mit Lokalbezug verstanden werden. Dafür ist die Welt viel zu vernetzt und interagiert miteinander. Zudem kommt noch etwas anderes ins Spiel: das Mitte Museum besteht aus den drei Sammlungen der Stadtteile Mitte, Tiergarten und Wedding, schon deshalb ist unklar, welche Heimat gemeint ist. In unserer offiziellen Bezeichnung „Regionalhistorisches Museum für Mitte, Tiergarten, Wedding in Berlin“ steckt das noch drin, aber das wird sich ändern. Wir sind wieder vor dem Museum angekommen und rauchen noch eine Zigarette zusammen. Ich frage Nathan Friedenberg zum Abschied, wie er, ob der Vielzahl von Aufgaben, die auf ihn einprasseln, Prioritäten setzt? Das ist ganz schwierig, in der Anfangsphase wusste ich nicht, wo finde ich die entscheidenden Informationen, wo gucke ich nach, wen kann ich fragen? Aber es wird Woche für Woche einfacher. Schwierig ist natürlich, dass ich zwar nicht alles selber machen, aber dennoch alles absegnen muss, das heißt, ich lese alles, was geschrieben wird, noch einmal sehr aufmerksam durch. Aber es ist auch spannend, denn dadurch bekomme ich einen Einblick in vieles. Weil ich als Sachgebietsleiter nicht nur für das Museum zuständig bin, sondern für das ganze Sachgebiet muss ich meine Arbeitszeit gut einteilen und brauche mitunter länger für einige Anfragen hier aus dem Haus, aber ich versuche das gegenüber meinen Kolleginnen möglichst transparent zu machen.
Das stelle ich mir herausfordernd vor – Sie sind nicht nur für die Ausstellungen und das Programm im Museum zuständig, sondern bearbeiten relevante Themen der Bezirksgeschichte in Form von Veranstaltungen, museumspädagogischen Projekten, Workshops, Vorträgen und Lesungen. Ein weiterer, wichtiger Teil Ihrer Arbeit im Sachgebiet sind wissenschaftliche Recherchen zu Straßennamen, Informationstafeln sowie die Entwicklung und Betreuung von Gedenkveranstaltungen und Gedenkorten. Worauf freuen Sie sich im neuen Jahr besonders?
Im Mai werden die neue Dauerausstellung und der Garten geöffnet. Zwei Wochen nach der eigentlichen Eröffnung wird es am Internationalen Museumstag noch mal ein Fest geben, da freue ich mich schon sehr drauf.