Ich stehe in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vor dem Leibniz-Saal und schaue suchend durch die Glastür. Der Raum ist schon für eine Veranstaltung vorbereitet, die am nächsten Tag stattfinden soll: Schwarze Tische bilden ein langgezogenes U, das sich auf der anderen Seite des Saals zu einem Konzertflügel hin öffnet, seitlich sind weiß gedeckte Tische mit Gläsern und Wasserflaschen angeordnet. Ich sehe die historischen Sandsteinpfeiler, den Mosaiksteinboden, die Decke aus Milchglasplatten, die die dahinter liegenden Deckenfenster nur schemenhaft erkennen lassen. Ich sehe, dass der Saal durch rechts und links angrenzende Räume ergänzt wird. Aber ich sehe keine Kunst. Dabei bin ich hierfür gekommen, für Anna Schapiros Arbeit Offene Geheimnisse.
Ein Mann, der aus einem der benachbarten Räume kommt, fragt, ob er mir helfen kann. Ah Anna Schapiro! Er lächelt, bittet mich mitzukommen und führt mich in einen der seitlich an den Saal angeschlossenen Räume, in dem gerahmte Arbeiten an der Wand hängen: Sieben (von insgesamt elf) jeweils 1 x 1,5 m große Bilder in dunkler Farbigkeit, die sich allesamt einer schnellen Rezeption verweigern. Jede Arbeit hat eine ganz eigene Dynamik, die sich aus der Verteilung der Farbe und aus den Formationen der Faltungen ergibt. Sind es wirklich Falten? Oder Nahansichten von Gestein? Und mit welchem Medium haben wir es hier zu tun? Handelt es sich um Fotografien, die ihr Motiv verfremdet wiedergeben oder um Malereien, die die Materialität von Stoff imitieren? Oder sind es tatsächlich gerahmte Stoffe? Bei näherem Betrachten wird deutlich, dass der Bildträger aus Papier ist. Abdrücke des Bodens im Leibnitz-Saal werden erkennbar: viereckige Fliesen aus kleinen Mosaiksteinchen.
Die Werke, die im September 2023 anlässlich des 40-jährigen Jubiläums der Stiftung Preußische Seehandlung installiert wurden, sind Fragmente der 7,8 x 20 Meter großen Arbeit, die Anna Schapiro vom 27. Juli bis zum 21. August 2023 im Leibniz-Saal präsentierte. Sie tragen die Spuren des historischen Bodens, ebenso wie sich im ersten Teil der Ausstellung die Falten des Papiers auf dem Boden abzeichneten: Für diese Arbeit trug die Künstlerin Tusche und Pigmente (namentlich Blauviolett, Indigo, Paynesgrau, Schiefergrau, Bordeaux, Siena gebrannt, Ocker, Gelb, Indigo echt, Eisenoxidpigment und Böhmische Erde) auf 20 Meter lange Bahnen Reispapier auf, legte das Papier in Falten und entfernte es anschließend. Das Ergebnis war eine monumentale In-Situ-Arbeit, die einen Großteil des Bodens bedeckte und die trotz ihrer Größe und ihrer beeindruckenden Präsenz den Saal nicht in den Hintergrund drängte. Vielmehr lud sie dazu ein, den Raum und die ihn umgebenden Gebäude als Ort zu verstehen, an dem sich verschiedene Zeiten überkreuzen, an dem die Vergangenheit nicht nur in Form architektonischer Merkmale in die Gegenwart ragt, sondern in Form offener Fragen auf Auseinandersetzung drängt.
Eine bewegte Geschichte
1901 bis 1903 errichtet, dient das Gebäude am Gendarmenmarkt, in dem sich der Leibniz-Saal befindet, zunächst als Kassensaal der Preußischen Seehandlungsgesellschaft, die 1772 von Friedrich dem Großen gegründet wurde. Sie wird Ende des 19. Jahrhunderts zur Preußischen Staatsbank. Ein Archivbild, das auf der Website der Stiftung Seehandlung zu sehen ist, zeigt die hölzernen Schalter, an denen die Aus- und Einzahlungen getätigt wurden – unverkennbar auch der Boden und sein schlichtes, repetitives Muster.
In der NS-Zeit wird das Gebäude durch einen Anbau ergänzt, in dem sich heute die Büros der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften befinden. Im Zweiten Weltkrieg bleibt das Gebäude weitestgehend von Bomben verschont, ist in den letzten Tagen jedoch umkämpft und wird von der Roten Armee eingenommen. Einige der noch erhaltenen Sandsteinpfeiler tragen die Spuren der Maschinengewehreinschüsse. Die Preußische Staatsbank und das Gebäude am Gendarmenmarkt gehen ab Kriegsende getrennte Wege: 1947 verliert die Bank aufgrund der Auflösung des Landes Preußen ihre Funktion. Ein Teil ihres Restvermögens von 19 Millionen D-Mark nutzt das Land Berlin 1983 zur Gründung der Stiftung Preußische Seehandlung, die sich der Förderung kultureller und wissenschaftlicher Aufgaben verschrieben hat. Unter anderem vergibt sie den Theaterpreis Berlin, den Berliner Literaturpreis, das Stipendium für Junge Kunst sowie den Preis für unkonventionelle Kunstvermittlung. Sitz der Stiftung ist der Spandauer Damm.
Das Gebäude am Gendarmenmarkt wird unterdes in den ersten Nachkriegsjahren von der sowjetischen Militäradministration genutzt und ab 1949 der Deutschen Akademie der Wissenschaften zugewiesen. 1992 wird die Akademie durch einen Staatsvertrag zwischen den Ländern Berlin und Brandenburg in Tradition der Preußischen Akademie der Wissenschaften neu konstituiert. Ein zu DDR-Zeiten gebauter Sitzungssaal verdeckt die Halle, die erst 1999 wieder freigelegt, saniert und modernisiert wird.
All das lässt sich in Broschüren, im Internet nachlesen. Aber Anna Schapiro gibt sich hiermit nicht zufrieden. Um sich mit dem Ort vertraut zu machen, lässt sie alle Möbel aus dem Raum schaffen um ihn auf sich wirken zu lassen, sie führt unzählige Gespräche und verbringt viel Zeit im Akademiearchiv sowie im Geheimen Staatsarchiv. Dort sticht sie „mit einzelnen Nadeln in einige Stellen des riesigen, noch nicht aufgearbeiteten Archivs der Geschichte der Preußischen Staatsbank“, wie sie es selber in einem Telefonat mit der Autorin bezeichnet. Sie durchforstet Bücher der Flotte, sieht Verwaltungsdokumente ein – Bruchstücke der gut belegten Aneignung von Land und Gütern.
Gewesenes sichtbar machen
Schapiro, die in ihrer künstlerischen Praxis immer wieder Räume und Orte markiert, auf ihre Vergangenheit verweist und auf die unsichtbare Präsenz des Gewesenen deutet, entwickelt im Anschluss an das Vertrautmachen mit diesem Ort eine zweiteilige Arbeit, die von einer Frage ausgeht: Wie soll mit dem Erbe aus Kolonialismus und Nationalsozialismus, das dem Gebäude eingeschrieben ist, umgegangen werden?
Es ist ein wiederkehrendes Merkmal ihrer künstlerischen Praxis, nicht nur auf die Geschichte eines Ortes aufmerksam zu machen, sondern auch auf die ausbleibende Erinnerung hieran. So widmete sie sich beispielsweise in ihrer Arbeit Moving Earths (2022) den Grenzen des alten jüdischen Friedhofs in Płaszów, einem Stadtteil von Kraków, auf dem erst ein Arbeitslager und später ein Konzentrationslager erbaut wurde. „Die Massengräber und der alte Friedhof sind unmarkiert, die Anwohner*innen gehen mit ihren Hunden spazieren, im Sommer liegen Betrunkene in den Wölbungen der Massengräber“, schreibt sie in ihrem Portfolio. Und weiter: „Dieser Ort […] stellt die Frage nach einem angemessenen Gedenken.“ Und auch am Gendarmenmarkt stellt sich die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Geschichte. Sie richtet sich auf die Rolle der Preußischen Staatsbank sowohl im Kontext des Preußischen Kolonialismus als auch während des Nationalsozialismus. Der Titel der Bodenarbeit Offene Geheimnisse bezieht sich auf die Tatsache, dass diese Fragen im Raum stehen, ohne bisher explizit angesprochen und bearbeitet worden zu sein.
Als zweiten Teil der Ausstellung entwickelte Schapiro eine Soundarbeit, die im Eingangsbereich der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zum Leibniz-Saal installiert war. Hier zeigt das Ornament des gefliesten Bodens Swastiken – ein Muster, dass die Firma Villeroy & Boch zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Namen „Mäander“ führte. Ein Hinweisschild verweist lediglich darauf, dass der Boden 1902 bis 1904 verlegt wurde und die Kriege unversehrt überstanden hat. Weiterhin wird der Krupp- und der Volkswagen-Stiftung für die Fördermittel, die zur Rekonstruktion des Saals zur Verfügung gestellt wurden, Dank ausgesprochen.
In Schapiros Arbeit Über das Entfernen verfassungsfeindlicher Symbole oder: ich kann beim besten Willen keine Hakenkreuze erkennen war ein eingelesener juristischer Text zu hören, der sich der Frage widmete, wie mit verfassungsfeindlichen Symbolen umzugehen ist. Denn: Einerseits dürfen sie nicht verwendet werden, andererseits ist die Beseitigung verfassungsfeindlicher Symbole vom Eigentum Dritter Sachbeschädigung.
„Ich halte es für ein Versäumnis der Akademie, die historische Bedeutung des Symbols nicht zu thematisieren. Eine solche Geschichtsvergessenheit finde ich hochproblematisch, gerade im Hinblick auf die Rollen, die VW und Krupp in der NS-Vernichtungsmaschinerie innehatten, und die Frage, woher dieses Geld kommt“, so die Künstlerin in einem Interview im Jahresmagazin 2024 der BBAW. Manchmal ist ein Muster eben nicht nur ein Muster, ein Saal nicht nur ein Saal und ein Haus nicht nur ein Haus – zumal in einer Stadt wie Berlin. Und manchmal braucht es die Kunst, um darauf aufmerksam zu machen. Anna Schapiros Ausstellung Offene Geheimnisse macht genau das: Sie weist uns darauf hin, dass Erinnerungsarbeit und Gedenken nicht nur niemals aufhören dürfen, sondern vielenorts noch nicht einmal angefangen haben.
Schapiro studierte übergreifendes künstlerisches Arbeiten an der HfKB Dresden, Bildhauerei an Universidade do Porto, Portugal sowie Jüdische Studien am Institute for Jewish Studies in Stockholm. Sie lehrt an der Universität zu Köln, ist Gründungsmitglied und Mitherausgeberin der Zeitschrift „Jalta – Positionen zur Jüdischen Gegenwart“ und Mitglied im Ministerium für Mitgefühl. Sie lebt und arbeitet in Berlin.