Ministerium für Mitgefühl

Die Stadt und das Mitgefühl ist der Titel dieser Reihe, die in vier Beiträgen das Mitgefühl im Hinblick auf Stadt und Stadterleben befragt. Das Ministerium für Mitgefühl – ein Kollektiv von Autorinnen und Künstlerinnen, das empathisch Widerstand leistet: gegen die Verrohung der Sprache und soziale Kälte – spricht  mit Menschen in Kiew, Moskau, London und Berlin - kurzum - jenseits des Tellerrands –, befragt sie nach ihrem Erleben und macht ihre Stimmen lesbar. Es entstehen chorische, mehrstimmige Stadtportraits aus den Gegenwarten der jeweiligen Stadt und spiegeln nach Berlin zurück, was hier kaum Erwähnung findet. Die eigene Stadt gewinnt in der Distanz an Dimension, der Referenzrahmen wird weiter. Die Reihe erscheint im Rahmen von institutions extended.

Mitgefühl in Berlin

30.06.2021
Foto © Anna Schapiro
Foto © Anna Schapiro

Die Stadt und das Mitgefühl ist der Titel dieser Reihe, die in vier Beiträgen das Mitgefühl im Hinblick auf Stadt und Stadterleben befragt. Das Ministerium für Mitgefühl – ein Kollektiv von Autorinnen und Künstlerinnen, das empathisch Widerstand leistet: gegen die Verrohung der Sprache und soziale Kälte – spricht mit Menschen in Kiew, Moskau, London und Berlin - kurzum - jenseits des Tellerrands –, befragt sie nach ihrem Erleben und macht ihre Stimmen lesbar. Es entstehen chorische, mehrstimmige Stadtportraits aus den Gegenwarten der jeweiligen Stadt und spiegeln nach Berlin zurück, was hier kaum Erwähnung findet. Die eigene Stadt gewinnt in der Distanz an Dimension, der Referenzrahmen wird weiter. Die Reihe erscheint im Rahmen von institutions extended.

Gibt es für dich einen Unterschied zwischen Mitgefühl und Mitleid?

Morgane: Bei mir drängt sich da schon ein Unterschied auf. In beiden Fällen entsteht eine Verbindung mit dem Anderen. Beim Mitgefühl bleibe ich bei mir und bei dir gleichzeitig. Bei Mitleid besteht die Gefahr einer Vereinnahmung oder einer Übergriffigkeit. Dass man in dem Anderen das Eigene sieht und meint, das wäre der Andere. Bei Mitgefühl ist man im ganzen Raum und verbindet sich mit dem Anderen als Anderer, ohne sich selbst zu verlassen.

Ich frage mich, wo die Augenhöhe ist bei Mitleid. Bei mir klingt dabei immer ein Blick von oben herab mit. Man ist in der Grube und der Andere blickt von oben herab und sagt: Ach, ich leide mit.

Ich kann mich an Situationen erinnern, wo Menschen meinten, mir Mitleid schenken zu müssen und ich das gar nicht haben wollte und ich das als sehr falsch empfunden habe, weil ich mich nicht wiedererkannt habe.

Sasha: Wenn Menschen unmittelbar vor mir sind, die leiden, versuche ich immer ihnen eine Handlung vorzuschlagen:
Versuch es mal so.
Oder: Lass mal so.
Oder: Vergiss das.
Oder: Geh früher schlafen.
Oder: Iss das nicht mehr.

Ich will immer eine unmittelbare Lösung vorschlagen.

Vielleicht ist es mit echten Menschen schwieriger emotional zu sein, als in der Kunst zum Beispiel. Da sind sie im Film und da kann ich mitheulen und richtig mitleiden.

Morgane: Ich habe ein großes Misstrauen gegenüber Mitleid.

Gerhard: Eigentlich kann man die beiden gar nicht so sehr voneinander trennen.

Mitgefühl heißt übersetzt ja nichts anderes als: Ich fühle mit. Und: Mein Mitgefühl ist ein sicherlich anderes als das der Person, mit der ich mitfühle.

Letzten Endes kann man nicht nachvollziehen, was der Andere wirklich fühlt. Sondern man kann sich nur vorstellen, wie das wäre, wenn man dies oder jenes erlebt hätte.

Dass man sagt: ich habe eine emotionale Regung. Beide sind emotional erregt, und beide erleben es anders. Dieses Mitgefühl sagt: es ist einem nicht egal, man ist berührt.

Und durch dieses Mitgefühl, das man äußert, fühlt man sich verpflichtet zu helfen.

Und manch anderer hat das Bedürfnis, dann behilflich zu sein.

Das ist wie in Deutsch: „Mein herzliches Beileid”, das geht natürlich nicht. Ich leide nie, wie der andere. Wir müssten diese Worte nochmal neu überlegen.

Mitleid, ist eigentlich etwas, das wir streichen sollten.
Ich leide ja nicht, er leidet.
Deswegen habe ich ja ein Mitgefühl.
Aber Mitleid ist oder kann sogar abwertend sein.
Dieses Wort sollte man auseinandernehmen, ob man nicht eine andere Vokabel findet.

Bei Mitgefühl stehe ich voll dahinter, aber Mitleid ist eine Anmaßung. Das passiert wirklich vielleicht bei nur wenigen Personen, die mir sehr, sehr nahe stehen, dass ich leide, weil ich sehe, wie sie leiden. Natürlich geht es mir dann nicht gut, wenn ich sehe, wie es ihnen geht.

Mitleid ist in der Regel abschätzend.

Bedeutet Mitgefühl zu anderen die Fähigkeit zu Mitgefühl zu sich selbst?

Morgane: Ja.

Sasha: Ja …., das hat mit Zulassen zu tun und mit Annehmen und Verzeihen.

Wer hat dir das Mitgefühl beigebracht, oder wo hast du es gelernt?
Kann man es erlernen oder ist es eine Gabe?

Morgane: Ich denke, es ist beides.

Sascha: Zugewandt sein oder zuhören, das sind die Handlungen von Mitgefühl, das macht mein Körper schneller als mein Denken.
Das guckt man sich ab, denke ich.
Du kannst die Zugewandtheit beobachten.

Morgane: Also etwas Instinktives, das man gelernt hat, und wenn man es verlernt hat, wieder erlernen kann. Mitgefühl setzt auch voraus, dass man mit einer gewissen Verletzlichkeit in der Welt ist. Das kann von vielen Menschen als bedrohlich wahrgenommen werden und man kann sich viel Aggression damit einfahren von anderen Menschen.

Ich denke es braucht eine Form und Unschuld, oder dass man Selbstvertrauen hat. Und das hat man vielleicht nie verloren oder man hat sich das wieder angeeignet. Und ich glaube das geht über Begegnungen mit Menschen, die einem ein Vorbild sein können oder die einem das Mitgefühl schenken oder auch über Naturerlebnisse, wo man eingebettet ist, und spürt Teil zu sein, in etwas größerem.

Ich hatte eine unglaublich starke Erfahrung von Mitgefühl als Jugendliche. Ich hatte einen fürchterlichen Streit mit meiner Mutter, als Jugendliche, der sehr bedrohlich war, weil es ihr sehr schlecht ging.
Ich war 16 und ging aus dem Haus in die U-Bahn.

Und vor mir saß ein Penner, ein älterer Mann, für mich damals, vielleicht war er fünfzig aus heutiger Sicht. Und er hat mich einfach angeschaut.
Er hat mich angeschaut mit Mitgefühl. Und mir das geschenkt, weil es in der Welt ist und mich daran erinnert. Sein Mitgefühl hat mich gerettet.

Gerhard: Es ist schon auch eine Gabe; es sind so viele Dinge, die wir mitbekommen durch unser Elternhaus. Das Elternhaus, das sind unsere Wurzeln. Das wie wir unser Leben gestalten durch eigene Erkenntnisse, das ist dann das Haus, das wir bauen.
Und dieses Mitgefühl, man sagt mir nach, dass es bei mir sehr ausgeprägt sei.
Das kann ich nicht beurteilen, das müssen andere machen.

Hängt auch mit meiner Erziehung und meinem Elternhaus zusammen, dass wir aufgrund unserer Einstellung für Andere da sein müssen. Wir haben es gelernt – und das ist nicht immer nur positiv für andere, immer da zu sein, ohne zu hinterfragen, was wäre für mich gut. Wir wurden so erzogen, dass wir uns so zu verhalten haben, dass es für die anderen gut ist. Ohne uns selbst zu reflektieren.
Deswegen ist da so etwas drin, ein Automatismus, dem man sich gar nicht entziehen kann.
Das ist eigentlich ein Reflex, der schon drin ist. Irgendwann beginnt der Punkt der Selbst-Erziehung, deswegen kann man es auch durch Ereignisse oder Erfahrungen entwickeln, wenn man es von Zuhause nicht bekommen hat.

Es gibt viele Dinge in der sozialistischen Erziehung, die der christlichen Erziehung gleich sind. Das klingt vielleicht ganz komisch. Aber zum Beispiel Timur und sein Trupp, das kommt aus dem Russischen. Und da mussten die Kinder in der Kinder- und Jugendorganisation Junge Pioniere zu alten Leute gehen. Sie sollten ihnen helfen, einkaufen gehen und so weiter. Wir haben gesagt, das sind christliche Tugenden, und sie haben unter einem anderen Stern das gleiche gemacht.
Deswegen sind da, eigenartiger Weise, Parallelen zu finden.

Das ist die Nächstenliebe. Also in meiner Erziehung. Bei uns war das so zu Hause, dass es nicht nur um Nächstenliebe ging, sondern um gelebte Nächstenliebe.
Da war das wirklich präsent.

Man hat nicht nur davon gesprochen, man hat es getan.

Grenzen deines Mitgefühls

Morgane: Mitgefühl und Grenze empfinde ich wie ein Nonsense. So buchhalterisch: Ich gehe mit meinem Mitgefühl bis dahin und nicht bis dahin.

Und natürlich öffnet man sich dem, oder nicht; zieht sich zurück.

Mitgefühl ist ein Zustand der Öffnung sich selbst gegenüber, der Welt gegenüber, den Anderen gegenüber, für die man sich nicht immer stark genug fühlt. Man muss sich dann auch mit der eigenen Ohnmacht verbinden wollen oder können im Mitgefühl. Und das kann ich nicht immer, in der Erfahrung, in dem Leben, natürlich gibt es eine Grenze.

Schließen sich Mitgefühl und kapitalistische Erfolgsstrukturen aus?

Morgane: Ich bin in diesen theoretischen Fragen nicht ausgebildet, aber so viel habe ich schon verstanden: dass Kapitalismus mit Individualismus zusammenhängt und Individualismus mit einer mitfühlenden Gesellschaft nicht vereinbar ist. Individualismus bedeutet, das Recht des Einzelnen über das Recht der Anderen zu setzen.

Es ist ein System, das darauf basiert, dass Menschen sich als getrennt voneinander wahrnehmen und potentiell Konkurrenz erleben, erleben müssen. Mit der etwas verschrobenen Idee, dass diese Konkurrenz am Ende aber einen Reichtum produziert, der allen zugute kommt, was sich aber nicht einlöst.

Gerhard: Ja. Es gab auch unterschiedliche Zeiten des Kapitalismus. Anfangs ergab sich daraus eigentlich auch eine Verantwortung der Arbeitgeber für die eigenen Arbeiter.

Arbeitersiedlungen zum Beispiel. Natürlich haben sie Siedlungen gebaut, weil sie Arbeiter brauchten. Aber so ist ja auch die Reformpädagogik entstanden. Denn der Fabrikbesitzer hatte noch ein Gefühl der sozialen Verantwortung. Und heute geht es überhaupt nicht mehr darum, sondern nur noch um Rendite.
Als Beispiel Tönnies, der Fleischfabrikant.
Der hat die Leute nicht mal nach Mindestlohn bezahlt. Sie haben gehaust.
Sechs Leute in einem Zimmer und mussten das auch noch bezahlen. Das waren alles keine deutschen Arbeiter. Das waren alles Arbeiter, die er aus den ehemaligen Ostblockländern geholt hatte. Und die ihren Familien das Geld schicken und diese ernähren.
Der hat kein Verantwortungsgefühl für seine Arbeiter.

Wem gegenüber ist diese Stadt mitgefühlslos?

Gerhard: Das kann man nicht pauschal sagen,  weil die Stadt so groß ist und es so viele Gruppen gibt und viele Gruppen mitgefühlslos sind. Die einen sind denen gegenüber ohne Mitgefühl, die anderen jenen gegenüber usw.

Es gibt immer eine Gruppe in der Stadt, die mit Sicherheit für die eine Gruppe Mitgefühl hat und für die andere nicht. Es gibt so viele Leute.

Morgane: In der Stadt etwas ganz alltägliches: Wenn man die U- Bahn nimmt und Leute kommen, denen es schlecht geht, körperlich, psychisch, sie leben auf der Straße, betteln, und man schaut weg und ich schau auch weg. Und es ist unerträglich, aber ich finde dann dafür Rechtfertigungen –  die hinken sicherlich. Beispielsweise: Ich werde diesen Menschen alleine nicht helfen können. Das System soll es lösen, und das System, ja…

Es kann ja nicht die Lösung sein, dass ich hier ein Euro und dort ein Euro gebe. Das System sollte diese Leute aufnehmen können und ich bin natürlich auch für das System verantwortlich. Mitverantwortlich. Das verdränge ich dann auch. Aus Überforderung, aus Bequemlichkeit.

Wie sieht eine Stadt aus, die Mitgefühl fest in ihren Strukturen verankert hat?

Gerhard: Ich kenne keine Stadt, in der Mitgefühl komplett verankert ist. Es gibt sicherlich Unterschiede. Je größer die Stadt wird, umso problematischer. Je kleiner die Stadt ist, umso mehr kennt man sich untereinander, deswegen macht man das vielleicht auch nicht, aus dem Gefühl heraus, man tut es, weil: „was denken die anderen Leute sonst?” Also um die gesellschaftliche Anerkennung und Achtung zu haben.

Selbst diese Struktur gibt es nicht mal auf dem Dorf, und wenn es diese Struktur nicht mal auf dem Dorf gibt dann, warum in einer Stadt?
Das mit dem Mitgefühl ist so: man sagt es. Aber wenn man es sagt, ist es nicht da. Man muss es leben, dann ist es wirklich da. Zwischen dem Gelebten und dem Gesagten gibt es einen Unterschied.

Morgane: Ich betrachte die Welt doch sehr empirisch. Was habe ich schon für Erfahrungen? Und ich würde schon sagen, dass meine Museumsarbeit in der Vermittlung eine politische Arbeit ist, in dem Sinne, dass es eine Arbeit für mehr Mitgefühl ist.
Und das passiert für mich im Kleinen, im Alltäglichen, wenn ich mich in diesem beruflichen Kontext mit kleinen Gruppen von Menschen unterhalte, ob es jetzt  über ein Kunstwerk ist, oder historische Ereignisse.
Es ist egal, was der Gegenstand ist. Viel wichtiger ist, welchen Raum ich in der Gruppe öffne, welchen Raum die Menschen bekommen in der Gruppe, sich selbst zu überraschen, sich gegenseitig zu überraschen, in dem sie das Mitfühlendste in sich entdecken, und es Resonanz in der Gruppe findet und dann vielleicht weitergetragen wird. Wenn es eine Gültigkeit bekommt, eine Sichtbarkeit bekommt. Etwas, das sehr persönlich ist, was aber im öffentlichen Raum Platz einnehmen kann.

Ich wäre dafür, dass man die musischen Fächer in der Bildung wieder stärker macht, für alle. Dass man aufhört, die Bildung nur zu sehen als: Wir müssen Leute erziehen, damit sie funktionieren, damit sie produzieren, damit sie Kompetenzen für eine Arbeit entwickeln, damit sie eine gute Arbeit finden.

Dass sie auch einen Sinn für Kunst, für Literatur haben. Nicht im akademischen Sinne, nicht im elitären Sinne. Das ist etwas, was allen gehört, worauf alle ein Recht haben und einen Zugang finden können. Im Grunde genommen, dass alle sich ermächtigt fühlen, Gefühle zu empfinden, zu äußern und zu teilen.
Das ist meine politische Utopie.
Ich glaube, das ist eine sehr politische Frage.

Ich denke an diese Geschichte, die mein Vater mir erzählt hat über meinen Großvater, seinen Vater. Der Bauer war und mit zwölf von der Schule weg musste. Und später ist er Bürgermeister des Dorfes geworden und er ist es geblieben, 30 Jahre lang. Er wurde wieder gewählt. Er hatte immer nur eine Stimme gegen sich. Er war Sozialist, nicht Kommunist, und als er das erste Mal gewählt wurde, hatte er eine Vision, er hatte ein Programm, dazu zählte: Er hatte eine Möglichkeit der Finanzierung gefunden, um dem Dorf eine Bibliothek zu geben. Man muss wissen, aus diesem Dorf kam man nicht weg. Man konnte dort leben, mit wenig, man hat nicht gehungert, aber man kam dort nicht weg. Und das war ein Abenteurer im Geist. Deswegen die Bibliothek: Mit den Büchern kommt ihr weg! Und er brauchte Stimmen. Der Gemeinderat musste dafür stimmen und sie taten es nicht.
Er hat es trotzdem 30 Jahre lange gemacht, obwohl es mit dieser bitteren Enttäuschung angefangen hatte.

Kannst Du für Dich einen Unterschied festlegen zwischen Solidarität und Empathie?

Gerhard: Mitgefühl ist gelebte Solidarität.

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