Sophie Aigner

Sophie Aigner ist Künstlerin und Autorin. Sie studierte Bildhauerei an der HfBK Hamburg. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in folgenden Ausstellungsräumen gezeigt: Benaki Museum Athen, Union Gallery London, Hiltibold St. Gallen, Eikon Schauraum/Museumsquartier Wien, Galerie im Körnerpark Berlin, Industriemuseum Chemnitz, Temporary Gallery Köln, D21 Leipzig, Museo dell`Osservatorio Vesuviano Neapel, Kunsthaus Hamburg, Kunsthalle Schloss Isny, Emily Harvey Foundation New York. In ihren Arbeiten interessiert sie sich für den „suchenden Menschen“ sowie für die Darstellung von Fragilität und Instabilität in der uns umgebenden Realität. Sie gibt regelmäßig Seminare, wie zum Beispiel an der HfBK Hamburg und an der UdK Berlin, die sich oft den Schnittstellen von Kunst und Schreiben widmen.

Arts of the Working Class: Utopie als Gemeinschaftsunternehmen

19.07.2024
Foto: Arts of the Working Class
Foto: Arts of the Working Class

Arts of the Working Class ist eine alle zwei Monate erscheinende deutsche Kunstzeitung und vielen in Berlin vor allem durch den Straßenverkauf bekannt. Seit nunmehr sechs Jahren wirkt sie den Ausgrenzungsmechanismen in der Gesellschaft und im Kunstbetrieb durch eine gemeinschaftliche Praxis entgegen, von der sich auch für das eigene Zusammenleben einiges lernen lässt.

Vor einigen Jahren bot mir ein Straßenverkäufer die Arts of the Working Class an, das muss eine der ersten Ausgaben gewesen sein. Ich erinnere mich noch, wie ich mich darüber freute, dass es nun eine preiswerte Zeitung über Kunst gab. Und ich erinnere mich an meine Freude über die gestalterische Aufmachung: Themen der Kunst – raus aus dem Hochglanzmagazin, hinein in matte Zeitungspapierseiten mit collagenhaft aufbereiteten Beiträgen.

Seitdem habe ich die Arts of the Working Class oft gekauft, gelesen, auch aufgelesen – und weitergegeben. Sie ist eine mehrsprachige Zeitung mit Fokus auf Kunst und Gesellschaft oder auch: Eine Zeitung für Armut, Reichtum und Kunst, wie es auf der Website heißt. María Inés Plaza Lazo, Kunsthistorikerin und Kuratorin, und Pauł Sochacki, Künstler, sind die beiden Gründer*innen der Zeitung, die eine Auflage von ca. 70.000 Stück hat. Nun ist die 31. Ausgabe erschienen.

Die Ausgabe Nr. 31 in den Büroräumen von Arts of the Working Class. Foto: Sophie Aigner

Lesen

Ich beginne darin zu lesen. Unter dem Thema “Foreigners Everywhere” haben die Gastredakteur*innen Christine Gerbich und Tanja Schomaker Beiträge zu Arbeitsmigration von und in die DDR vor und nach 1989 gesammelt. Dabei gehen sie in den Texten folgenden Fragen nach: Wie fühlt es sich an, in Deutschland fremd zu sein? Welche Erfahrungen von Verbundenheit stehen dem entgegen?

In den beiden Kapiteln “The Communities we choose” und “The Communities we change” erfahre ich beispielsweise, wie Migrant*innen sich gleich zweimal, erst in der DDR und dann in der BRD, neu einfinden und fremde Verhaltenscodes erlernen mussten. Ich lese auch darüber, wie sich das Werk von DDR-Künstler*innen durch die Wende verändert hat bzw. wie deren Werk anders aufgenommen, oft missverstanden oder schlichtweg ignoriert und zerstört wurde. So wurden zum Beispiel der Künstlerin Gertraude Pohl mit der beginnenden Privatisierung nach 1990 ihre Urheberrechte an architekturbezogener Kunst entzogen – manche ihrer Wandarbeiten und Plastiken verschwanden quasi über Nacht.

Das Thema “Foreigners Everywhere” bezieht sich aber auch auf die unter demselben Titel laufende Venedig-Biennale, die sich wiederum vom Titel einer Arbeit des Künstler*innenkollektivs Claire Fontaine inspirieren ließ. In dieser Arbeit leuchten die zwei Worte “Fremde überall” in geschwungener Schrift in Form von Neonröhren, mehrere Sprachversionen gibt es davon. Apropos Sprache: Je mehr ich lese, desto stärker denke ich über die Bedeutung von Schreiben und Sprache nach. Wer schreibt über wen, und in wessen Sprache schreiben und lesen wir überhaupt? Welche codierten Begriffe verwenden wir täglich und führen damit Ein- und Ausschlussmechanismen fort? Die aktuelle Ausgabe der Arts of the Working Class widmet sich diesen Fragen in Form einiger Beiträge – innerhalb des Jahresthemas “Codes of Conduct”.

Lernen

So schreibt beispielsweise Amelie Jakubek über gewaltfreie Kommunikation, abgekürzt GfK – ein von Marshall Rosenberg entwickeltes Handlungskonzept. Dieses strebt an, Konflikte durch abgestimmte Kommunikationsstrategien und im gemeinsamen Einvernehmen zu lösen. Amelie Jakubek beschreibt dabei nicht nur ihre eigene systematische Anwendung von GfK – so lernte sie mit ihrer Freundin, Beobachtungen wertfrei auszusprechen, eigene Gefühle und Bedürfnisse zu benennen sowie eine Bitte an die andere zu formulieren. Amelie Jakubek beschreibt auch das mitunter Problematische und Manipulative an GfK. So gebe es laut Marshall Rosenberg universelle Bedürfnisse, welche eins zu eins jeder Mensch anstrebe – losgelöst von jedem soziopolitischen Kontext. GfK erzeuge somit ein höchst individualistisches Weltbild und verschleiere Abhängigkeitsverhältnisse.

Am Abend spreche ich mit meinem Sohn und seinem Freund darüber. Wir geraten in eine Diskussion über Kommunikationsformen im Allgemeinen – und im Speziellen darüber: Welche Formen wenden wir eigentlich an, wenn wir um etwas bitten? Dabei lernen wir, unsere Erwartungen an andere zu hinterfragen, unsere eigenen Kommunikationsmuster nicht als allgemeingültig anzusehen und vor allem: dass wir häufig erwarten, unser Gegenüber würde sich stets trauen, eine Bitte auszuschlagen.

Innenteil der Ausgabe Nr. 31. Foto: Sophie Aigner

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“Why should we learn from each other” wiederum ist ein Artikel von CIVIC, einem Diskurs- und Ausstellungsraum an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel. CIVIC versteht sich als Bildungs- und Experimentierumfeld mit dem Ziel, das Verständnis der gesellschaftlichen Relevanz von Kunst und Design zu fördern. In dem Text wird ein Workshop beschrieben, bei dem Teilnehmende mit unterschiedlichen Herkünften und Backgrounds in Basel zusammenkamen, um über Strategien der Zusammenarbeit, Benennung von Lebensrealitäten oder die Schaffung neuer Netzwerke zu sprechen.

So werden im Artikel einige ganz konkreten Anregungen der Studierenden erwähnt, die zur Grundlage der Gespräche wurden – und die zur Grundausstattung eines*r jede*n werden könnten, sobald ein öffentlicher Raum betreten wird: „Nimm dir einen Moment Zeit, um im Raum anzukommen. Wo genau bist du hier? Wer ist nicht hier? Wer kann nicht hier sein? Passt dein Zuhause in diesen Raum?“

Beim Lesen denke ich an all die Menschen und Projekte, die unterrepräsentierten Stimmen eine Plattform bieten – so wie Arts of the Working Class. Mit der Zeitung haben María Inés Plaza Lazo und Pauł Sochacki eine inklusive Ökonomie geschaffen, von der auch die Ärmsten unserer Gesellschaft profitieren. Menschen mit keinem oder niedrigem Einkommen verdienen durch den Straßenverkauf der Zeitung dazu, der Erlös bleibt komplett bei ihnen. Um das zu ermöglichen haben María Inés Plaza Lazo und Pauł Sochacki ein Team aus Redakteur*innen, Projektmanager*innen und Anzeigenbetreuer*innen aufgestellt, auch ein fester Kreis von Unterstützer*innen und Volunteers gehört dazu. Die Beiträge stammen von einem ständig wachsenden Netzwerk aus internationalen Gasteditor*innen, Künstler*innen und Denker*innen. So ist Arts of the Working Class vor allem eines: eine Zeitung von Vielen für Viele.

Gruppenfoto mit María Inés Plaza Lazo (ganz vorne) und Pauł Sochacki (vordere Reihe, zweiter von rechts). Foto: Arts of the Working Class

Ich habe in der aktuellen Ausgabe gelesen: von Projekten, Menschen und Stimmen. Ich möchte immer weiter lernen: etablierte Kommunikationsformen zu hinterfragen und somit anderen Sprachen und Lebensrealitäten Raum zu geben. Über all den Artikeln steht der Wunsch nach einem friedvollen und respektvollen Zusammenleben. Utopia Is Not A Promise But A Joint Venture – ein früherer Titel von Arts of the Working Class – könnte auch die Überschrift der aktuellen Ausgabe sein: Lasst uns teilen.

Arts of the Working Class
https://artsoftheworkingclass.org

Für alle, die Arts of the Working Class auf der Straße verkaufen möchten, gibt es in Berlin folgende Abholstationen:

Office: Lynarstrasse 38, 13353 Berlin: Abholung außerhalb des Eingangs 24/7 möglich

Acud macht neu, Veteranenstraße 21, 10119 Berlin: Abholung im Lagerraum neben dem Eingang 24/7 möglich

Zentrum Gitschiner 15, Gitschiner Straße 15, 10969 Berlin, Öffnungszeiten: Mo-Mi 10-16 Uhr, Do 12-16 Uhr, Fr 9-15 Uhr

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