Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Auf (DDR-)Zeitreise im Untergrundmuseum

14.09.2021
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Küntler Rainer Görß führt durch das von ihm gemeinsam mit Ania Rudolph betriebene Untergrundmuseum, Fotos: ALW
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Reste aus der Zeit, als hier früher eine Gießerei war.
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Wort und Objekt sind hier in ständigem Dialog.

Die Unterschiede könnten kaum größer sein: in der Auguststraße feiern die KW – Institute for Contemporary Art auf drei Stockwerken gerade ihr 30. Jubiläum mit internationaler Künstler:innenliste, eine Straße weiter, in der Linienstraße, kämpft der Betreiber des Untergrundmuseums – ebenfalls 30 Jahre alt – mit den Corona-Verordnungen. Dabei fing alles unter ähnlichen Umständen an:

Nach der Wende stand in der Auguststraße eine Margarinefabrik leer und wird von einer Gruppe Studierender aus Westdeutschland als Arbeitsort genutzt. In der Linienstraße wird die Schilder- und Reliefgießerei, die hier seit 1860 ansässig ist, abgewickelt und Ost-Berliner Künstler:innen ziehen ein, um einen Projektraum zu gründen. Während der Gebäudekomplex in der Auguststraße durch die Stiftung Deutsche Klassenlotterie erworben wurde, kaufte ein privater Investor den Komplex in der Linienstraße. Mit der Sanierung im Jahr 2000 muss der Projektraum aus den zwei Gewerbegeschossen ausziehen und siedelt in den Keller um. Das Untergrundmuseum U144 entsteht. Im Unterschied zu den Kunst-Werken (wie die KW damals noch hießen), die die Räume zu einem White Cube ausbauen, versteht sich U144 explizit als Ort für Kunst und Geschichte– und wenn man die Räume betritt, weiß man auch sofort, warum. Denn die engen Gewölberäume, die in neun Themenräume unterteilt sind, sind voll mit historischen Artefakten von Druckerei- und Gießereierzeugnissen bis hin zu einer Plastesammlung, Stalinplakaten, Militaria und Unterlagen der VEB Druck- und Formenbau. „Der Sammlungsursprung basiert im Kern auf den Exponaten der Gießerei und einem Kreis von Objekten aus Abwicklungsaktionen zur DDR Staatshaushaltsauflösung (1990-95) aus über 50 Betrieben/ Institutionen und Haushalten“, heißt es auf der Webseite. Ergänzt wird diese Sammlung durch Kunstwerke von Rainer Görß und Ania Rudolph, die das Museum gemeinsam betreiben. „In unserer Sammlung geht es darum, die etablierten Spezialisierungen und Trennungen infrage zu stellen. Natur- und Kultur-Artefakte mit der Frage nach dem Wesen der Dinge in Beziehung zueinander zu setzen. In diesem Sinne ist das Untergrundmuseum eine Art Kunst- und Wunderkammer.“[1] Und tatsächlich kommt man aus dem Staunen und Entdecken nicht heraus, ist man förmlich erschlagen von der Fülle an Objekten, Schaubildern, Beschriftungen. Hinzu kommt ein Händchen für effektvolle Beleuchtungen, so dass die Besucher:innen aus einem alten Helm rote Augen anfunkeln, Bernsteine golden strahlen und die Bar stimmungsvoll in Szene gesetzt ist, was so ungefähr den größten Gegensatz zu den kahlen Räumen, weißen Wänden und der möglichst funktionalen Beleuchtung in anderen Ausstellungshäusern darstellt, den man sich vorstellen kann.

Beim Gang durch die Gewölbe, die er als „begehbare Erzählung“ bezeichnet, entschuldigt sich Rainer Görß immer wieder für herumstehende Kartons und den unaufgeräumten Zustand, aber erstens wären seit März 2020 keine Besucher:innen mehr hier gewesen und zweitens würden gerade Arbeiten aus verschiedenen Ausstellungen zurückkommen, die noch nicht wieder verstaut wären. Dabei handelt es sich um eigene Kunstwerke oder Werke aus der Sammlung, zu denen auch Design-Klassiker gehören, da der Vater von Ania Rudolph, Lutz Rudolph, in der DDR ein bekannter Formgestalter war. Es wird deutlich, dass das Paar nicht nur das Untergrundmuseum betreibt, sondern auch den Nachlass des Vaters betreut, der in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit bekommt. Zudem gibt es zwei weitere Orte auf Rügen und in Brandenburg, an denen sie arbeiten und leben.

Beim Rundgang merkt man Görß trotz der Corona-Pause die Routine an, mit der er durch die Ausstellung führt und die eigenwillige Präsentation erläutert, denn der Besuch der Räume ist hauptsächlich in Form einer Führung möglich. Darüber hinaus, erzählt Görß, hätten sie hier – früher in den großzügigeren Räumen oben und später im Keller – zahlreiche Veranstaltungen wie Lesungen und Performances veranstaltet und die Räume für Seminare zur Verfügung gestellt. Da verwundert es nicht, dass Görß in der DDR zur Gruppe der Autoperforationsartisten gehört hat, die in Ost-Berlin Performances und Aktionen durchgeführt haben, zu einer Zeit als die offizielle Kunst vor allem aus Sozialistischem Realismus bestand. Zu seinen Mitstreitern gehörten neben Micha Brendel und Via Lewandowsky auch Else Gabriel, die noch ab und zu mit ihren Studierenden für eine Führung vorbeikommt.  

Görß beobachtet, dass die Führungen immer mehr zu Einführungen in deutsch-deutscher Geschichte werden, denn den nachkommenden Generationen fehle oft das historische Wissen, um den Anspielungsreichtum und den Wortwitz zu verstehen, den das Künstlerpaar hier in Szene gesetzt hat. Basis der Zusammenstellung der Objekte und der Erzählung durch die Räume ist ein assoziatives Denken – gepaart mit der anarchistischen Aneignungskraft der Dadaisten. Davon zeugen nicht zuletzt die Überschriften, mit denen die Räume bzw. die angebotenen Führungen betitelt sind: Feuerland Linie, Brandspace Berlin, Systemschmelze oder Zinswunder.

 

Sammlung mit Logos aus VEB-Beständen.

Nach unserer Begehung der Räume setzen wir uns in die Bar und Rainer Görß bietet mir einen Tee an und gießt sich selber einen Kaffee auf. In den Regalen stehen unzählige Flaschen mit selbstgebrannten Spirituosen, doch auch hier gibt es diverse Gegenstände, deren Funktion nicht sofort erschließbar ist. Der Ausdruck Wunderkammer kommt mit wieder in den Sinn, der mir viel treffender erscheint als die Bezeichnung Museum. Schließlich werden die Objekte hier nicht in Vitrinen präsentiert, es gibt keine Erklärtexte und keine Objektbezeichnungen. Aber eben auch keine Lüftung, die einen Besuch Corona-konformer machen würde…  

Plaste-Sammlung in der Bar

Wir sprechen über Dies und Das, über die unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs Untergrund und springen zwischen den Zeiten hin und her. Görß erzählt davon, wie er über einen Zeichen-Zirkel unter der Leitung von Robert Rehfeldt zur Kunst kam und sich nach dem Abschluss der Abendschule an der Kunsthochschule Weißensee beworben hat. Als wir über die Veränderungen des Scheunenviertels sprechen, berichtet er von seiner WG in der Auguststraße, in der die Tür immer offen stand und man sich auf Kassenrollen Nachrichten hinterlassen hat. Dann springen wir zur Zukunft des Ortes, dieses spezifischen Universums, das einerseits so eine persönliche Sprache spricht, andererseits einen wertvollen Geschichtsschatz darstellt, der sowohl die spezifische Geschichte des Ortes und der Schilderdruckerei und Gießerei erzählt als auch den DDR-Alltag greifbar macht. Doch was passiert mit diesem Ort, wenn die Betreiber in den Ruhestand gehen? Darüber denkt Görß bereits nach und führt Gespräche mit verschiedenen Museen. Es bleibt zu hoffen, dass bis dahin der Ort an sich, mit seiner Überfülle an Objekten und Erzählungen, noch etwas erhalten bleibt. Eine nächste Besuchsgelegenheit gibt es zur Art Week. Weil das Untergrundmuseum dieses Jahr den Preis zur Auszeichnung künstlerischer Projekträume und –initiativen der Senatsverwaltung für Kultur und Europa erhalten hat, nimmt er an der Art Week teil und öffnet zu diesem Anlass wieder seine Türen. Zudem gibt es am 16. Oktober 2021 im Rahmen der Ausstellung „… oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende“ der nGbK zwei weitere Führungen –jeweils um 14 und 17 Uhr. Bitte vorher eine Mail an .

[1] „Jenseits des Guten und Schönen“, in: Schattenwelt, Magazin der Berliner Unterwelten e.V., Ausgabe 04/2013, S. 12

Infos:
Untergrundmuseum: Linienstraße 144, Hinterhof links
www.untergrundmuseum.de

Im Rahmen der Art Week wird das Untergrundmuseum vom 16.9. (von 18 bis 22:30 Uhr) und vom 17. bis 19.9. jeweils von 14 bis 19 Uhr geöffnet sein.

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