„All things are delicately interconnected“ leuchtete 1986 eine Arbeit von Jenny Holzer in Washington, DC. 2001 und 2021 konnte man von ihr in Berlin in der Neuen Nationalgalerie unter anderem folgende Textstücke lesen: „DIFFERENCE IN THE WORLD“ oder „EVERY SAME PLACE“. 13 endlose Wortreihen in Leuchtschrift liefen die Decke der Eingangshalle des Ausstellungshauses entlang und gingen eine Symbiose mit der Architektur des Innenraumes ein – und strahlten zugleich durch den gläsernen Bau in den städtischen Außenraum hinaus. In ihren Arbeiten schafft Jenny Holzer gegenwartsbezogene Botschaften in Form von Textkunst mithilfe von LED-Bändern oder Neonbuchstaben – Leuchtmaterialien, die zunächst ausschließlich im Bereich der Informations- und Werbesysteme angesiedelt waren.
Im Buchstabenmuseum im Bezirk Mitte leuchten nicht weniger Buchstaben, Wörter und Sätze in den Innenraum hinein, nachdem sie einst im Berliner Außenraum strahlten. Es sind gebaute Buchstaben-Objekte, die einmal der Werbung und Infrastruktur dienten und durch ihr Leuchten Orientierungspunkte in der Stadt schufen. Das Museum selbst macht ebenfalls mit großen Lettern in der S-Bahn-Unterführung Bellevue auf sich aufmerksam. Ich treffe mich mit Barbara Dechant, Gründerin des Buchstabenmuseums. Als Designerin mit Schwerpunkt auf Typographie und Markenentwicklung, hatte sie sich schon immer für gebaute Buchstaben interessiert, bevor sie Anfang der 2000er gemeinsam mit ihrer Freundin Anja Schulze, Mitarbeiterin im Stadtmuseum Berlin, beschloss, ihre bislang private Sammlung zu erweitern, zu katalogisieren und öffentlich zugänglich zu machen. Im Mai 2005 zeigten sie in ihrer Wohnung dann eine erste Auswahl, erweiterten die Sammlung um viele neue Objekte, zogen mehrere Male von einer Ecke des Alexanderplatzes in die nächste und seit 2016 sind sie hier: in den Stadtbahnbögen am Rande des Hansaviertels in Tiergarten, umgeben von rund 4000 gebauten Buchstabenobjekten, Schriftzügen und Logos.
Als ich durch die Sammlung mit ihren zusammengewürfelten Buchstabenobjekten gehe, die fast einer großen Collage gleicht, bekomme ich das Gefühl, dass hier die Stadt komprimiert wird und sich Häuser, Straßen und Bewohner*innen verflechten durch die Symbolkraft der aufbewahrten, von den Fassaden abgenommenen Fundstücke. „All things are delicately interconnected“, alle Dinge sind miteinander verwoben, wird hier zum buchstäblichen Rückschluss. Viele Neonobjekte liegen beispielsweise, ihres ursprünglichen Kontexts entnommen, zu farbigen Inseln sortiert, vermischen sich dort zu neuen Wortgebilden und schaffen fiktive Warenangebote oder Geschäftsnamen: S-N-D-E-S. Ein paar Schritte weiter wiederum fällt mir ein Objekt des Künstlers Gregor Hildebrandt auf, das in der aktuellen Ausstellung Final Sale– vom Kaufhaus ins Museum zu sehen ist: Einer Originaltüte vom KaDeWe hat er die Buchstaben KWADE teils neu hinzugefügt, teils stärker hervorgehoben, so dass sich nun der Name des Kaufhauses mit dem der Künstlerin Alicja Kwade überlappt. Diese künstlerische Auseinandersetzung mit Themen wie Wert und Marke sowie deren Verflechtungen zeigt sich auch in den anderen zusammengestellten Objekten: Anhand von originalem Geschäftsmobiliar, Neonbuchstaben und Schautafeln wird beispielsweise von Insolvenzen, Umstrukturierungen oder Fusionen verschiedener Kaufhausketten in Berlin wie Karstadt, Quelle oder Beate Uhse erzählt – und man gewinnt den Eindruck, dass sich solche Erzählungen in regelmäßigen Abständen wiederholen, gegenseitig bedingen, und dass sie globalen technischen und gesellschaftlichen Wandlungen unterworfen sind.
Einzelne Buchstaben aus der Sammlung werden aber auch temporär in andere Kontexte überführt und erfahren somit neue Funktionen und Bedeutungsverschiebungen. Als beispielsweise 2022 die Staatsbibliothek das neue, hauseigene Museum Kulturwerk eröffnete, stellte das Buchstabenmuseum acht ausgewählte Ks aus der Sammlung zusammen, um den Weg dorthin zu kennzeichnen –etwa eines aus dem Schriftzug des inzwischen geschlossenen Berliner Traditionsgeschäfts Korsett Engelke, dem der Handwerkskammer Berlin, aber auch aus Wien, vom nicht mehr bestehenden Lederwarengeschäft Bartik. Im Schaufenster des temporary bauhaus-archivs wiederum installierte das Museum 2020 eine Zusammenstellung von über 100 Lettern, die aus Schriftzügen urbaner Typografien aus über sechs Jahrzehnten entstammten – zum Beispiel ein E vom Tagesspiegel an der Potsdamer Straße in Berlin, ein B von der Deutschen Bahn oder ein Z von Mercedes Benz. Und während Corona gab es in Zusammenarbeit mit dem bauhaus archiv eine Instagram-Foto-Challenge zum Entdecken von buchstabenähnlichen Figurationen im öffentlichen Raum. In einem Fahrradständer wurde ein A entdeckt, einer Ziegelwand wurde ein E zugeschrieben. Daraus wiederum wurde ein Alphabet zusammengestellt und entworfen, das als funktionierende Schrift von der Website heruntergeladen werden kann.
Schriftzüge, Buchstaben, Wörter und einzelne Textzeilen im öffentlichen Raum sind allgegenwärtig und prägen eine Stadt auf subtile Weise – jede Stadt hat ihre ganz eigene urbane Typografie in Form von Leitsystemen, Ladeninschriften, Markensignets oder Werbeanzeigen. So sehe ich im Museum beispielsweise das graue, metallene V vom Haus Vaterland, dem einstigen Tanzpalast am Potsdamer Platz in den 1920er, 1930er Jahren. In einer anderen Ecke stehen die schulterhohen Buchstaben H-A-U-P; Teile vom ehemaligen Hauptbahnhof in Ost-Berlin, der nach dem Fall der Mauer zum Ostbahnhof wurde – nur die ersten vier Buchstaben wurden abgenommen und landeten hier. Neon-Leucht-Objekte wie diese wurden übrigens zunächst überwiegend in urbanen Zentren wie dem Times Square in New York eingesetzt, wo ganze Häuserfassaden ab den 1920er-Jahren als kommerzielle Werbeflächen genutzt wurden. Hier am Times Square gab es dann auch von 1982 bis 1990 das Kunstprojekt „Messages to the public“, in das auch eine Arbeit von Jenny Holzer integriert war: auf einer Werbe-Leuchttafel an der Fassade des Hochhauses One Times Square liefen einen Monat lang, fünfzigmal pro Tag, eingebettet in die regulären Werbeanzeigen, Textstücke wie beispielsweise dieses hier: „I will look at things I don’t want to see“ (Ich werde auch die Dinge betrachten, die ich nicht sehen möchte). Was Jenny Holzer, beziehungsweise die Ich-Erzählerin, nicht sehen möchte, benennt sie nicht. Aber mit ihrer offen gehaltenen Ich-Botschaft, leuchtend gesendet in die Metropole New York hinaus, trat sie in einen unmittelbaren Dialog mit der Stadt und ihrer Bevölkerung. Solch wechselseitige Kommunikation stellt sich auch im Buchstabenmuseum ein, mit all den von den Fassaden abgenommenen Buchstaben, Wörtern und Schriftzügen. Einst hingen sie im öffentlichen Raum und haben uns Informationen geliefert, als Wegweiser gedient oder schlicht als Orientierungspunkte fungiert. Nun liegen und stehen sie hier; übereinander, nebeneinander, geschichtet – gab es wirklich mal einen Ö-Palast?
Über Barbara Dechant:
Barbara Dechant ist Kommunikationsdesignerin mit Schwerpunkt auf Markenentwicklung sowie Beratung und Prozessteuerung von Corporate Design/Corporate Identity diverser Unternehmen und öffentlicher Institutionen. So war sie beispielsweise bei MetaDesign tätig und begleitete hier Brandingprozesse von Kunden wie Volkswagen oder Audi. Für die Agentur Odeon Zwo entwickelte sie über eine Legislaturperiode lang das Corporate Design mit Implementierung für die Bundesregierung. Bei der Kommunikationsagentur A&B One betreute sie das Landesmarketing Mecklenburg-Vorpommern sowie Kunden aus den Bereichen Energie, Gesundheit und Pflege. Ihre Aufgaben im Buchstabenmuseum beinhalten neben der Geschäftsführung auch die Planung und Umsetzung von Dauer- und Sonderausstellungen. Außerdem berät Barbara Dechant mit dem von ihr gegründeten BM-Studio auch zu historischen Beschriftungen oder Stadtschriften. So entstanden die U-Bahn-Schilder der Station Hermannstraße und Boddinstraße. Die unter Denkmalschutz stehende Beschriftung der U-Bahn-Station Hansaplatz wurde originalgetreu nachgegossen und neu montiert. Aktuell arbeitet sie an der historischen Nachbildung der denkmalgeschützten Hausnummer am Gropius-Haus im Hansaviertel.
Buchstabenmuseum e.V.
Museumsleitung: Barbara Dechant
Stadtbahnbogen 424
10557 Berlin
Phone +49 177 420 15 87
https://www.buchstabenmuseum.de/en/
Öffnungszeiten:
Donnerstag–Sonntag
13:00–17:00 Uhr
Die Neonglasbläserei ist ein Handwerk, das nach und nach verschwindet, indem es durch den Einsatz von LED-Systemen abgelöst wird. Bei der manuellen Herstellung wird ein zarter transparenter Glasschlauch zu Schriftzügen gebogen und anschließend durch die richtige Kombination aus Edelgasen und aufgebrachten Farbstoffen zum Leuchten gebracht. Das Buchstabenmuseum bietet hierzu regelmäßig Workshops an.
Nachfragen unter:
Die Schrift MyABC der Typedesignerin Ulrike Rausch steht für nicht-kommerzielle Zwecke zum Download auf der Website des Bauhaus-Archiv bereit:
https://www.bauhaus.de/de/programm/4280_rueckschau/7932_myabc_instagram_challenge/