Ein Spiegelsaal aus dem vorletzten Jahrhundert, eine jüdische Mädchenschule im Stil der Neuen Sachlichkeit, Wattfotos im Bauhaus-Stil, ein ehemals besetztes Haus, dessen Name KuLe die Verbindung von Kunst und Leben propagiert, eine Ausstellung über Phantominseln und drei über die verheerende Wirkung von AIDS – die Auguststraße gleicht einer Wunderkammer, die nicht nur Gebäude und Geschichten aus verschiedenen Zeiten, sondern durch die vielen Ausstellungshäuser diverse Perspektiven auf und Geschichten aus der Welt in Mitte versammelt. Am Gallery Weekend Ende April brummt die Straße vor Aktivitäten und Menschen. Junge Sammler*innen treffen auf eingefleischte Kunstkenner*innen und internationale Künstler*innen, neben einer schwarzen Limousine, die als VIP-Shuttle dient, bewegt sich ein bunter Fahrradrikschakorso durch die Straße.
Die Auguststraße ist immer noch ein zentraler Ort für die Kunst in Berlin. Im Ost-Teil der Stadt gelegen, lebten hier nach der Wende viele Kulturschaffende in den heruntergekommenen Gebäuden, besetzten und sanierten sie. U.a. besetzte eine Gruppe von Theaterstudent*innen im Sommer 1990 das leerstehende Haus an der Auguststraße 10 und gründete das Kunsthaus KuLe. Gegenüber wurden die Kunst-Werke (heute: KW Institute for Contemporary Art) in einer ehemaligen Margarinefabrik gegründet. Auf einer Gedenktafel heißt es: „KW wurde im Winter 1990/91 von jungen Kunstvermittlern gegründet und ist organisiert als eingetragener Verein, der seit 1994 durch das Land Berlin gefördert wird. […] Der zum Teil spätbarocke Gebäudekomplex wurde 1993 aus Mitteln der Stiftung Klassenlotterie erworben und von 1995 bis 1999 saniert und ausgebaut.“1
An der Straße lassen sich exemplarisch die Immobilienentwicklungen der letzten Jahrzehnte verfolgen: die Restitutionen an die in der DDR enteigneten Besitzer*innen, das Verschwinden der Freiräume, die durch ungeklärte Besitzverhältnisse entstanden, Sanierungen und Versuche der Stadt in die Gentrifizierungs-Dynamik einzugreifen sowie eine sich immer schneller drehende Immobilienspekulation heute. Auch wenn die Entwicklung geradewegs in eine Richtung geht, findet sich in der Auguststraße immer noch ein Mix aus allem: zugemauerte Hauseingänge neben Gebäuden mit historischer Patina (wie das Clärchens Ballhaus) neben aufwendig sanierten Architekturklassikern (wie die ehemalige Jüdische Mädchenschule) neben schicken Neubauten aus Glas und Beton (wie dem me Collectors Room). In einigen Fällen entstehen neue Kunstorte, doch in anderen Fällen verschwinden sie einfach: So ist das Tor, durch das man früher von der Auguststraße auf den Hinterhof und die ehemaligen Stallungen des Postfuhramtes gelangte, nun geschlossen. Das Gebäude, das von 2006 bis 2012 von C/O Berlin zwischengenutzt wurde, die mit sehr erfolgreichen Fotografieausstellungen und Veranstaltungen viele Menschen anzogen, wurde 2012 an den Medizintechnikhersteller Biotronik verkauft. Das Unternehmen nutzt das ehemalige Kaiserlichen Postfuhramt heute als Firmenrepräsentanz, wodurch ein ehemals öffentlicher Ort nicht mehr zugänglich ist.
me Collectors Room, Foto: Anna-Lena Wenzel
Was sich in der Auguststraße ebenfalls abbildet ist die Diversität des Kunstfeldes: neben vielen kommerziellen Galerien gibt es auch die galerie weisser elefant, die eine kommunale Galerie ist. Sie bezog ihre Räume 1998 und ist aufgrund ihrer Gründung in der DDR im Jahr 1987 noch in Zeiten verankert, deren Spuren sich ansonsten fast gänzlich verflüchtigt haben. „Vor allem jüngere Künstlerinnen und Künstler, die in Berlin leben, haben hier die Möglichkeit, inmitten des wichtigsten Galerienviertels der Stadt einem breiten Publikum zu begegnen, ohne der kommerziellen Verwertbarkeit ihrer Werke verpflichtet zu sein.“2
Darüberhinaus gibt es mit den KW einen Ort für die Produktion, Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Kunst, der ebenfalls öffentlich gefördert wird. Daneben befinden sich mit dem me Collectors Room Berlin / Stiftung Olbricht und der Alfred Ehrhardt Stiftung Institutionen, die privat finanziert sind und vor allem der eigenen Sammlungspräsentation bzw. dem Andenken des Fotografen Alfred Ehrhardt dienen. Hier zeigt sich die deutliche Tendenz zu Privat- und Sammlermuseum, die die Museumsszene in den letzten Jahren verändert hat.
Ein exemplarischer Ort für die Veränderungen der Auguststraße sind die Geschichten der St.-Johannes-Evangelist-Kirche und der Jüdischen Mädchenschule. Die Kirche, die 1900 eingeweiht wurde, hat eine bewegte Geschichte: im Krieg zerstört, wurde sie erst 1957 wieder eingeweiht. Da die Gemeindemitgliederzahl jedoch stark dezimiert war, wurde die Parochie im Jahr 1978 wieder aufgelöst und unter den drei Nachbargemeinden aufgeteilt. Weil sie bereits zuvor durch einen Mietvertrag an die Humboldt-Universität übertragen worden war, diente sie als Büchermagazin für die nahegelegene Universitätsbibliothek. Mit Auslaufen des Mietvertrags hatte das Universitätsmagazin im Sommer 2002 die Kirche geräumt und ihrer Eigentümerin zurückgeben. Am 10. Januar 2003 wurde sie erneut eingeweiht und wird heute von der Antiochenisch-Orthodoxen Kirchengemeinde St. Georgios genutzt. Daneben finden dort aber auch immer wieder Veranstaltungen wie Ausstellungen und Konzerte statt.
Auguststraße 54, Foto: Anna-Lena Wenzel
Die Geschichte der Jüdischen Mädchenschule, die 1927–1930 von Alexander Beer errichtet wurde, zeugt von den Spuren der jüdischen Gemeinde, die in der sogenannten Spandauer Vorstadt beheimatet war. Auf einer Gedenktafel heißt es: „In der Pogromnacht 1938 wurde die Mädchenschule beschädigt und 1942 von den Nationalsozialisten geschlossen Die meisten Schülerinnen fielen der ‚Shoa‘ zum Opfer. Bis Kriegsende diente das Gebäude als Krankenhaus und danach bis 1990 wieder als Schule.“ Im Haus selber hängen neben historischen Fotoaufnahmen und einem Wandporträt von Bertolt Brecht zwei weitere Hinweisschilder, auf einem wird die Geschichte des Hauses in der DDR beleuchtet: „In der DDR wurden die Räume im Jahr schließlich wieder zu ihrem ursprünglichen Nutzen zurückgeführt. Die wiedereröffnete Polytechnische Oberschule ‚Bertolt Brecht‘ wurde nach dem in Ostberlin ansässigen, bekannten Bühnenautor und Theaterregisseur benannt. Nach der Wende musste die Schule aus Mangel an Schüler*innen 1996 ein weiteres Mal die Tätigkeit aufgeben und das Gebäude wurde in den darauffolgenden Jahrzehnten dem Verfall überlassen“ – und diente unter anderem der Berlin Biennale 2006 als spektakulärer Ausstellungsort. 2011 verpachtete die Jüdische Gemeinde das Gebäude an den Galeristen Michael Fuchs, der das Gebäude sanieren ließ. Heute stehen bis auf dessen Galerieräume im dritten Stock und die Gastronomie im Erdgeschoss viele Räume leer. Zum Gallery Weekend allerdings bildete sich vor dem Gebäude eine lange Schlange: der französische Künstler JR ist mit seinem Fotomobil gekommen, in dem man sich fotografieren lassen kann, woraufhin das Porträt in Schwarz-Weiß auf ein Plakat gedruckt und an der Fassade aufgeklebt wird. Dieses partizipative Projekt ist Teil der Ausstellung des Salons Berlin des Museum Frieder Burda. Sie führt „drei künstlerische Positionen unterschiedlicher Generationen, Herkunft und Strategien zusammen, die alle eines im Fokus haben: Den Appell an den Betrachter, als Akteur im Sinne des Kunstwerks ‚mitzumachen‘ und dieses damit seinem eigentlichen Zweck zuzuführen.“3
Es wäre schön, wenn der Ansatz der Ausstellung – das Zusammenkommen unterschiedlicher Generationen, Herkunft und Strategien – auch noch ein bisschen für die Auguststraße gelten würde.
[1] https://www.gedenktafeln-in-berlin.de/nc/gedenktafeln/strasse/alph/A/strasse/Auguststra%C3%9Fe/
[2] http://www.galerieweisserelefant.de/?page_id=370
[3] https://www.museum-frieder-burda.de/de/salon-berlin/