Maike Brülls

Maike Brülls arbeitet als Journalistin in Berlin. Sie hat Kulturjournalismus studiert. Ihre Texte sind unter anderem in der taz, bei VICE, ZEIT Online, DUMMY und MISSY erschienen. Außerdem arbeitet sie an Videos für verschiedene Formate des funk-Netzwerks.

Die Müllerstraße – ein Straßenporträt

27.05.2019
Beliebter Ort in der Müllerstraße: der Leopoldplatz
Beliebter Ort in der Müllerstraße: der Leopoldplatz

Die Müllerstraße im Wedding ist einen Besuch wert. Denn hinter ihrer liebenswerten Hässlichkeit lassen sich einige Spuren deutscher Geschichte finden.

Wenn man die Müllerstraße im Wedding heute entlangläuft, kann man sich schwer vorstellen, dass sie einst „Ku’damm des Nordens“ genannt wurde. Das war vor dem Krieg, als es in der Straße noch schicke Kaufhäuser gab, an denen die Menschen entlang flanierten. Heute hat die Müllerstraße mit dem Ku’damm wenig gemein. Statt nobler Geschäfte gibt es vor allem Dönerbuden, Supermärkte, Drogerieketten, Spätis und Ramschläden. Und laut ist sie! Autos, Menschen, Straßenbahnen, noch mehr Autos, Flugzeuge, Busse – wer erfahren möchte, welchen Einfluss der Stadtlärm auf den eigenen Stresspegel hat, dem sei ein Spaziergang an der etwa 3,5 Kilometer langen Müllerstraße wärmstens empfohlen. Das auszuhalten lohnt sich, denn die Müllerstraße hat ein besonderes Flair.

Südlich der U-Bahn-Haltestelle Reinickendorfer Straße, dort, wo die Panke unter der Straße hindurchfließt, wird die Chausseestraße zur Müllerstraße. Besonders ästhetisch ist dieser Abschnitt nicht. Die Straße ist vierspurig, ein paar Wohnhäuser stehen an der Seite, darunter Sex-Shop neben Bäcker, einige Schritte weiter der große, weiß-gläserne Komplex des Pharmaunternehmens Bayer. Bis zur Übernahme durch Bayer im Jahr 2006 war dies das Unternehmen Schering. Dass Mitte des 19. Jahrhunderts der Apotheker Ernst Christian Friedrich Schering ausgerechnet die Müllerstraße für den Bau seiner Chemiefabrik erwählte, prägte den Wedding, denn weitere Industrie folgte und viele Arbeiter zogen in den Bezirk.

Doch im Zuge dieser Industrialisierung verschwand auch, was der Müllerstraße einst ihren Namen gab: die Mühlen. 22 Mühlen standen in der Straße, die meisten von ihnen waren Getreidemühlen. Waren sie zuerst auch einer der Gründe, warum sich Industrie in dem Stadtteil ansiedelte, wurden sie bald von neueren Technologien überholt – und abgerissen. Auch dem Bau der Ringbahn fiel eine Mühle zum Opfer: Wo sie stand, steht heute die S-Bahn-Haltestelle Wedding.

Bei einem Spaziergang die Müllerstraße entlang ist diese S-Bahn-Haltestelle das Signal für: Sie verlassen jetzt den Ring und dringen tiefer in den Wedding ein. Versteckt zwischen leicht heruntergekommenen Gebäuden entdeckt man hier den ältesten Plattenladen des Bezirks, Moon Dance, einen Falafel-Imbiss, der seine Kichererbsen-Bällchen in einem alten Bus serviert und das Prime Time Theater, in dem seit über 15 Jahren die Theater-Sitcom „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ aufgeführt wird.

Vorbei am Jobcenter auf der rechten Seite nähert man sich schon bald einem Gebäude, an dem die roten Buchstaben SPD angebracht sind. Es ist das Kurt-Schumacher-Haus, der Sitz des Berliner SPD-Landesverbands. In dem Gebäude gibt es nicht nur eine Galerie, in der von Zeit zu Zeit Ausstellungen zu betrachten sind. Auch dieses eher unauffällige Gebäude erzählt etwas über die geschichtliche Bedeutung der Müllerstraße. In der Weimarer Republik nannte man den Bezirk auch den „Roten Wedding“, denn er war ein Zentrum der SPD und der KPD. Letztere Partei nutzte die Pharussäle, ein Veranstaltungszentrum in der Müllerstraße, so regelmäßig, dass sie auch das „zweite Wohnzimmer“ der KPD genannt wurden. 1927 kam es zu einer Schlacht in dem Saal, als Joseph Goebbels ihn mietete, um an diesem vom Feind viel genutzten Ort symbolische Präsenz zu zeigen. Heute ist von dem Gebäude kaum noch was übrig. Ein großer Teil wurde im Krieg zerstört, ein anderer abgerissen. Im noch übrigen Teil hat die Krankenkasse AOK nun ihr Servicecenter.

Auch heutzutage ist von dem roten Flair noch etwas zu merken. Zur Walpurgisnacht, also der Nacht vor dem 1. Mai, zieht seit Jahren ein antikapitalistischer Demonstrationszug vom U-Bahnhof Seestraße zum U-Bahnhof Osloer Straße.

Der Leopoldplatz, das neue Zentrum

Aber zurück zum Kurt-Schumacher-Haus und diesem Abschnitt der Müllerstraße. Gegenüber des Hauses liegt eine dreieckige Grünfläche, der Max-Josef-Metzger-Platz. Auffällig gepflegt ist diese Fläche, große Bäume stehen auf einer sauber gemähten Rasenfläche. Darauf steht ein Turm, die zwölf Meter hohe Trümmersäule von Gerhard Schultze-Seehof, gebaut aus Trümmerschutt. 40.000 Mosaiksteinchen zeigen Menschen in Aktion, wie sie etwas zerstören, wie sie etwas wiederaufbauen, wie sie protestieren. Die Geschichte Berlins, so kann man es verstehen, ist hier künstlerisch eingefangen.

Trümmersäule von Gerhard Schultze-Seehof.

Ein gutes Stück weiter erreicht man das heutige Zentrum der Müllerstraße, den Leopoldplatz. Die Alte Nazarethkirche vom bekannten Berliner Architekten Karl Friedrich Schinkel gibt dem Platz sein Gesicht. Auf diesem Platz ist immer etwas los. Auf den Stufen der Kirche oder auf den Bänken nahe der Wasserfontäne sitzen Menschen. Oft halten sie Kaffee, Döner, Bier oder Backwaren in der Hand. Dienstags und freitags ist hier ein kleiner Markt, samstags oft Flohmarkt und an manchen Sonntagen findet der Kunst- und Designermarkt Weddingmarkt hier statt.

Läuft man weiter, an der Bücherei und dem Arbeitsamt vorbei, findet sich auf der linken Seite die Galerie Wedding. Die aktuelle Ausstellung passt wunderbar in diesen Erkundungs-Spaziergang der Müllerstraße. Denn auch die Künstlerin Sissel Tolaas beschäftigt sich mit der Frage nach der Essenz dieses Ortes. Sie arbeitet dabei mit Gerüchen.

Geruchslandschaften in einer Galerie

Schon beim Betreten der Galerie bläst einem ein Windhauch verschiedener Düfte entgegen. Sie stammen von 22 im Raum aufgestellten Ventilatoren. Die Künstlerin nimmt hier die Zahl der Mühlen auf der Müllerstraße auf. Die schwarzen Ventilatoren also sind im Raum verteilt. Sie pusten nicht alle gleichzeitig, sondern wechseln sich ab. Als Besucher*in kann man so von Ventilator zu Ventilator gehen und erschnuppern, was für einen Geruch die Künstlerin da wohl eingefangen hat. Ist das hier vielleicht ein Mensch, der gerade die Straße entlanggegangen ist? Und das hier vielleicht ein Kastanienbaum? Oder eine Linde? Und riecht dieser Lufthauch nicht wie jener, der manchmal aus den U-Bahn-Schachten steigt?

Tolaas' Ventilatoren
Tolaas’ Ventilatoren in der Galerie Wedding.

Tolaas hat einen Mechanismus erfunden, mit dem sie einzelne Geruchsmoleküle einfangen und speichern kann. Vor jedem Ventilator hängt ein kleines Kästchen mit durchsichtigen Kügelchen, in denen die Geruchsfragmente gespeichert sind. Durch die Luft des Ventilators werden sie freigesetzt. So erstellt die Geruchskünstlerin eine „smellscape“, eine Geruchslandschaft. Ergänzt wird diese Landschaft durch Kurzgeschichten der Autorin Lauren van Vuuren, die kurze Episoden zu verschiedenen Zeitpunkten von 12 000 v. Chr. bis 2020 erzählen. Die kurzen Geschichten lesend und die Gerüche erschnuppernd bilden sich in der Fantasie neue Bilder, neue Eindrücke der Straße. Aktuelle Düfte verschmelzen mit Geschichten aus der Vergangenheit, gehören untrennbar zusammen.

Verlässt man die Galerie Wedding, hat man eine neue Aufmerksamkeit für die Gerüche der Stadt gewonnen. Angenehmerweise schlägt einem dabei der Geruch der Kaffeerösterei „Coffee Star“ entgegen. Sie ist, wie die Galerie auch, in dem roten Backsteingebäude des Rathauses Wedding untergebracht. An dieser Stelle lässt sich das Flair des „Ku’damm des Nordens“ noch erahnen. Denn neben der Kaffeerösterei ist ein kleiner Musikladen und die Goldschmiederei Krössel mit ihrem geschwungenen Schriftzug. Die Goldschmiede ist seit bald 50 Jahren am gleichen Standort, nennt sich heute aber arte diversa.

Gentrifizierung auch hier

Schon bis hierhin hat der Spaziergang gezeigt: An einer einzigen Straße lässt sich viel über die Entwicklungen in einer Stadt generell erzählen. Und auch die aktuellsten Entwicklungen Berlins bilden sich an der Müllerstraße ab. Auf der rechten Seite, Ecke Utrechter Straße, steht ein Neubau mit auffälliger Fenster-Fassade. Es ist das Luxus-Studentenwohnheim „Youniq“. 20-Quadratmeter-Zimmer, ausgestattet mit Möbeln, Internet und Fernseher, kosten über 500 Euro. Bevor es abgerissen wurde, stand dort ein Wohnhaus. Für viele ist das Wohnheim nun Symbolbild der Gentrifizierung im Wedding. Direkt nach der Eröffnung bewarfen Gentrifizierungsgegner*innen das Gebäude mit Farbbeuteln, um gegen diese Verwendung von Wohnraum zu protestieren.

Die nächsten Abschnitte der Müllerstraße prägen vor allem Supermarktketten. Fast alle, die Deutschland so zu bieten hat, gibt es hier: Real und Rewe, Lidl und Aldi, Kaufland und Edeka, Biocompany und Denns. Eine nette Abwechslung sind jene Märkte wie Bolu, der „multikulturelle Frischemarkt“, wie sich die Kette selbst nennt. Dort liegen Obst und Gemüse in Auslagen vor den Märkten, die Verkäufer rufen laut die Angebote des Tages und wiegen die unverpackten Früchte für jede*n Kund*in ab. Und auch diese Läden verraten etwas über die Geschichte. Denn im Wedding wohnen viele Familien jener Türk*innen, die in den 1950er Jahren als sogenannte „Gastarbeiter“ nach Deutschland geholt wurden.

Ein kleiner Eiffelturm am Centre Français.

Dann, ein gutes Stück weiter, hinter der U-Bahn-Station Rehberge, wird es endlich ruhiger an der Müllerstraße. Hier fahren deutlich weniger Autos, statt Supermärkten stehen Wohnhäuser an der Straße. Irgendwann entdeckt man auf der rechten Seite einen kleinen Eiffelturm. Er gehört zum Centre Français, einem deutsch-französischen Kulturzentrum, ein Relikt der französischen Militärregierung, die diesen Teil Berlins nach dem Krieg besetzten. Heute gibt es darin nicht nur ein Restaurant und ein Hotel, das Centre organisiert auch Austauschprojekte für Schüler*innen und dient als Begegnungsstätte und Ort für Fortbildungen. Außerdem beherbergt es das City Kino Wedding, das einzige Programmkino auf der Müllerstraße. Fans der Berlinale dürften das Kino kennen – denn auch hier wurden im Rahmen der Reihe „Berlinale Goes Kiez“ Filme gezeigt.

Hier hinten, in dieser viel begrünten Wohngegend, deren Ruhe lediglich durch Flugzeuge gestört wird, endet die Müllerstraße und geht über in der Scharnweberstraße. Was ist also die Essenz der Müllerstraße? Sind es die Gerüche, auf die die Künstlerin Sissel Tolaas ihren Fokus legt? Ist es die Geräuschkulisse mit ihrem Mix aus dem Brummen von Autos, dem Rufen der Obstverkäufer, dem Dröhnen der Flugzeuge? Oder ist es doch diese liebenswerte Hässlichkeit, hinter der sich Spuren der Geschichte entdecken lassen? Gehen Sie spazieren und entscheiden Sie selbst.

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