Maike Brülls

Maike Brülls arbeitet als Journalistin in Berlin. Sie hat Kulturjournalismus studiert. Ihre Texte sind unter anderem in der taz, bei VICE, ZEIT Online, DUMMY und MISSY erschienen. Außerdem arbeitet sie an Videos für verschiedene Formate des funk-Netzwerks.

Die offene Gesellschaft im Kleinen

30.07.2019
Kaffee trinken, quatschen, sich kennenlernen in der
Kaffee trinken, quatschen, sich kennenlernen in der "Neuen Nachbarschaft" in Moabit

Die „Neue Nachbarschaft“ ist ein Ort des Lernens und des Austausches. Sein besonderes Konzept macht ihn längst über die Grenzen Moabits hinaus bekannt. Ein Besuch.

Der Geruch frischen Knoblauchs kommt einem schon an der Tür entgegen. Betritt man den großen Raum, schaut man direkt in die Küche. Dort stehen zwei Menschen und schnippeln – vermutlich ebenjene Knolle mit dem markanten Duft. Ein Weiterer kommt dazu, wird freudig begrüßt. Ein bisschen hat es die Atmosphäre, als würde eine WG zusammenkommen, um gemeinsam zu kochen. Keine Zweck-WG, sondern eine, die auch abseits von höflichen Gesprächen in der Küche etwas miteinander unternimmt.

Nur, dass sich zu dem Lachen aus der Küche viele weitere Stimmen mischen. Links um die Ecke, an Sofas vorbei, stehen auf einer erhöhten Ebene einige Tische. Daran sitzen Männer und unterhalten sich. Sie sprechen auf Deutsch, hier und da klingt es gebrochen. Genau deswegen sind sie hier: um in netten Gesprächen mit anderen aus der Umgebung Deutsch zu lernen.

Es ist ein Mittwochabend in diesem großen Raum, der sich „Neue Nachbarschaft“ nennt. Das bedeutet: um 18 Uhr gibt es den Deutschstammtisch, danach ein gemeinsames Essen. „Der Deutschstammtisch hat eine andere Struktur als andere Sprachcafés und klassischer Deutschunterricht“, sagt Marina Naprushkina. „Es gibt hier keine Lehrer*innen und auch keine Schüler*innen. Alle lernen von allen.“

Der Deutschstammtisch steht damit exemplarisch für das Prinzip der „Neuen Nachbarschaft“. Denn hier geht es genau darum: Niemand ist besser als der*die andere. Jede*r kann etwas, was der*die andere nicht kann. Und jede*r kann sein Wissen an den*die andere*n vermitteln. Das macht es insofern zu einem besonderen Projekt, als dass es sich vor allem auch an Geflüchtete richtet. Angefangen hat das Projekt 2013 mit einer ersten Notunterkunft in Moabit. Damals gründeten sie eine Initiative, kümmerten sich um Unterkunft, um Bürokratisches, um die Versorgung mit Nahrung und Kleidungsstücken. Zu der Zeit sind in ganz Deutschland verschiedene Institutionen entstanden, um Geflüchteten zu helfen. Doch es gibt ein Paradigma, was die „Neue Nachbarschaft“ von vielen anderen unterscheidet: „Das hier ist ein gemeinsamer Lernort, keine Hilfe für Geflüchtete“, sagt Naprushkina. „Der Ansatz, helfen zu wollen, ist eine schwierige Sache. Denn es erzwingt Dankbarkeit, das funktioniert auf Dauer nicht.“ Sie legt jeder*m nahe, zu reflektieren, warum man es gut finde, zu helfen.

Viel auf dem Plan

2016 dann bezog die „Neue Nachbarschaft“ ihre eigenen Räume. Die bezahlen und mieten sie selbst, mithilfe von Freund*innen der Initiative und Einnahmen aus Verkäufen von Büchern oder Drinks an der Bar. Ihr neuestes Projekt, „Moabit Mountain College, eine Lernschule, bei der wissenschaftliche wie künstlerische Themen bei Veranstaltungen möglichst niedrigschwellig vermittelt werden, wird außerdem von Stiftungen unterstützt.

Der Deutschstammtisch und das gemeinsame Essen sind längst nicht die einzigen Programmpunkte dieses Projektraumes. Jeden Abend gibt es Programm, von Yoga über Schachabende bis hin zu einer juristischen Beratung. Doch die „Neue Nachbarschaft“ ist nicht nur ein Ort der Begegnung, sondern vor allem einer, wo Kunst gemacht wird. Denn da kommt Marina Naprushkina her: von der bildenden Kunst. Mittlerweile lehrt sie unter anderem an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Aber sie will gar nicht so sehr im Mittelpunkt stehen, wenn es um die „Neue Nachbarschaft“ geht. Denn sie ist nicht das Herz dieses Projektes – alle, die daran mitwirken, sind es. „Uns geht es darum, dass wir uns gemeinsam weiterentwickeln. Dass wir uns fragen: Was brauchen die Menschen und wie kann man darauf mit Kunst reagieren?“ Denn durch Kunst könne man direkter kommunizieren.

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All diese Büchlein wurden in der “Neuen Nachbarschaft” geschrieben.

Naprushkina steht auf und holt ein paar kleine Büchlein aus dem Regal. Sie alle wurden hier in der „Neuen Nachbarschaft“ geschrieben und illustriert. Die Bücher sind zweisprachig, einmal auf der Muttersprache der*des Autor*in und auf Deutsch. „Und jetzt bin ich frei“ heißt etwa eine Geschichte von Nauras Ali, zu lesen auf Deutsch und Arabisch. Eine poetisch-rührende Geschichte über den Abschied von Damaskus. Oder „Mein fantastischer Beruf“ von Zainab Sedawi, ein Buch von einem Kind für Kinder, ebenfalls auf Deutsch und Arabisch. Zainab erfindet darin neue Berufe, wie zum Beispiel die Soldatin-Tennisspielerin, die eigentlich Soldatin ist, aber keinen Krieg mag und deswegen lieber Tennis spielt. Das berühmteste der Bücher heißt „Die tolle Maus aus Marzahn, die alles reparieren kann“ auf Deutsch und Russisch von Umar Gadziev. Das Buch ist nicht nur regelmäßig ausverkauft, es soll demnächst auch verfilmt werden.

Alles nicht elitär

Erscheint ein neues Buch, gibt es auch eine Lesung, bei der ein Chor singt. „Das alles ist nicht elitär“, sagt Marina Naprushkina. „Zu unseren Veranstaltungen kommen auch Leute, die sonst nicht zu einer Lesung gehen würden. An vielen anderen Kulturorten wird diese Nähe und dieser Austausch nicht gelebt“, sagt sie. Die „Neue Nachbarschaft“ ist ein so vielfältiger Ort, man könnte viele unterschiedliche Berichte über sie schreiben. Über die Performances, die hier stattfinden. Oder Siebdruck-Abende. Oder über Sommerfeste und Tanzabende.

Der Deutschstammtisch ist zu Ende. Vor der Tür zur Küche steht nun ein riesiger Topf, darin die Kirchererbsen-Spinat-Suppe, die das Küchenteam gerade gekocht hat. Gegen Spende kann sich hier jede*r einen Teller Suppe und ein Stück Fladenbrot nehmen. Das machen auch Fahrid Ahmad und Abdul Ghowsi. Sie haben gerade an dem Stammtisch teilgenommen, freuen sich nun über die Suppe. „Dann muss ich mir nicht selber etwas kochen“, lacht Ghowsi. Die beiden kommen dreimal die Woche her. Montags zum Swingtanz, dienstags zum Yoga und mittwochs zum Stammtisch. „Ich habe vorher schon viele Sprachcafés besucht“, erzählt Ahmad, „hier gefällt es mir besser. Weil man an kleineren Tischen sitzt, nicht an einem großen.“ Die beiden kommen aus Syrien, Ahmad ist 18 Monate in Deutschland, Ghowi drei Jahre. Ahmad lebt in Hohenschönhausen – zwei Stunden ist er unterwegs, um in die „Neue Nachbarschaft“ zu kommen.

Offenbar richtet sich diese schon längst nicht mehr nur an die Menschen, die in der Umgebung wohnen? „Am Anfang war es so, dass nur direkte Nachbarn da sind“, sagt Nele van den Berghe. Sie ist schon seit Beginn des Projektes dabei. „Mittlerweile sind wir aber bekannter und auch aus anderen Stadtteilen kommen die Menschen hierher.“ Als van den Berghe 2013 eingestiegen ist, stand auch bei ihr die Idee, helfen zu wollen, im Vordergrund. Mittlerweile ist das Projekt für sie eine Schule, wo sie viele Dinge gelernt hat und weiterhin lernt. Zum Beispiel, wie man Struktur in eine Gruppe bunt zusammengewürfelter Menschen bringt, wie man sich organisiert, wie man sich verständigt, auch wenn verschiedenste Sprachen gesprochen werden. Das alles sind Aspekte, die sie mittlerweile auch in ihrem Job einbringen kann, denn nach all den Erfahrungen hier hat sie sich entschieden, in einem Flüchtlingsheim zu arbeiten. Trotzdem ist sie zwei bis drei Abende in der „Neuen Nachbarschaft“. „Die offene Gesellschaft muss man jeden Tag leben“, sagt sie. „Das ist Arbeit.“

Freunde in der neuen Stadt

Der große, niedrige Raum füllt sich. Viele Menschen stehen in der Suppen-Schlange, einige an der Bar, viele sitzen draußen auf Stühlen an der Straße. Sie trinken Bier, essen die Suppe. Einer von ihnen ist Ghaith Alnwelati. Seit knapp vier Jahren wohnt er in Berlin. Er kommt oft her, um bei den Jamsessions teilzunehmen. Denn auch Musik wird in den Räumen der „Neuen Nachbarschaft“ gemacht. Nicht in einer Band, sondern in einem Kollektiv: „Zu den Sessions ist jede*r willkommen“, erzählt Alnwelati. „Und bei Konzerten wechseln wir uns mit dem Spielen ab“. Er selbst spielt Oud, eine dickbäuchige Laute mit gekrümmten Hals. Vorher hat er Gitarre gespielt, mit der Oud umzugehen hat er bei den Jamsessions gelernt.

Die Musik bei den Sessions ist unterschiedlich. Zu Beginn coverten sie vor allem Lieder aus den verschiedensten Regionen der Welt. Aus Tunesien, Deutschland, der Türkei oder Ägypten zum Beispiel. Mittlerweile spielen sie aber auch eigene Songs, in die Einflüsse der verschiedenen Musikstile miteinfließen.

Ghaith Alnwelati findet in der „Neuen Nachbarschaft“ aber nicht nur musikalische Freuden. „Ich komme seit ungefähr zwei Jahren hierher“, erzählt er. „Und für mein Leben hier hat das eine totale Verbesserung gebracht.“ Weil er Leute kennengelernt hat, mit denen er neue Dinge in der Stadt entdecken und etwas unternehmen kann.

Erfahrungen wie diese machen diesen Lern- und Begegnungsraum so wichtig. Um es in den Worten von Nele van den Berghe zu sagen: „Die Durchlässigkeit in einer Gesellschaft kann die Stadt nicht herstellen. Deswegen braucht es Räume wie diesen.“

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