Ferial Nadja Karrasch

Immer wieder Neues zu lernen, die Welt für einen Augenblick mit den Augen einer fremden Person sehen, sich auf die unterschiedlichsten Perspektiven einlassen – das sind nur einige Aspekte, die Ferial Nadja Karrasch an ihrer Tätigkeit als Kunstjournalistin so schätzt. Sie lebt in Berlin und schreibt für verschiedene digitale und analoge Formate über Kunst und Kultur. Studiert hat sie Kunstwissenschaft, Philosophie und Ausstellungspraxis an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, an der Universiteit van Amsterdam sowie an der Universität der Künste Berlin.

Die Stimme als Zeitkapsel

12.10.2021
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In der performativen Installation Who’d have thought that snow falls setzt sich Matthias Schönijahn mit der Frage auseinander, was Stimme jenseits von Worten vermitteln kann.

Drei großformatige Projektionswände hängen an Traversen von der 13,5 Meter hohen Decke der St. Elisabeth-Kirche in der Invalidenstraße 3, zwei auf der rechten, eine auf der linken Seite. Sie unterbrechen die Ausrichtung des Blickes und der Aufmerksamkeit auf die Apsis und schaffen stattdessen mehrere Bereiche, die einerseits voneinander getrennt, andererseits miteinander verbunden sind. Außen und Innen, Hier und Dort – all das geht in dieser Anordnung ineinander über, lässt sich nicht wirklich voneinander trennen. Für die Besucher*innen stehen in dem ansonsten leeren Kirchenraum Betonhocker bereit, die ebenfalls keine Blickrichtung vorgeben. Und dann ist da noch der Hinweis, den man bei Betreten der Kirche erhält: Man könne sich gerne während der Performance bewegen, den Platz wechseln. Die (Hör-)Perspektive ändern.

Die Projektionswände zeigen zunächst drei unterschiedliche Fenstermotive: Ein regennasses Fenster, ein aus einem Innenraum heraus aufgenommenes Fenster sowie eine Person, die vor einem geschlossenen Fenster steht. Im Laufe der Vorstellung werden hier ruhige, zuweilen beinah malerische Filmaufnahmen zu sehen sein, die im Osten der Ukraine aufgenommen wurden. Immer wieder erscheinen ukrainische Frauen, zumeist höheren Alters, die inmitten der Landschaften Volkslieder singen, mal alleine, mal in der Gruppe.

Ihre Gesänge wechseln sich ab mit denen der weiblichen Performerinnen vor Ort, die, immer wieder ihre Positionen im Raum wechselnd, singend miteinander kommunizieren. Es entsteht der Eindruck einer starken Verbundenheit zwischen den jungen Frauen, die von den unterschiedlichen Stellen des Innen und Außen, des Hier und Dort Kontakt zueinander halten.

Immer wieder gibt es außerdem Momente, in denen sie sich vor einer der Projektionswände positionieren und mit den dort zu sehenden Frauen (es sind nur wenige Männer darunter) über den Gesang in einen Dialog zu treten scheinen. Und doch steht fest, dass keine wirkliche Interaktion möglich ist. Hier und Dort unterscheiden sich in diesem Fall eindeutig, der Chor ist durch Zeit und Raum voneinander getrennt.

Matthias Schönijahn (*1981, lebt in Berlin), künstlerischer Leiter der performativen Installation Who’d have thought that snow falls, setzt sich in dieser Arbeit mit der Wirkung der Stimme auseinander. Dabei geht es vor allem um die Frage, was Stimme jenseits von Worten vermitteln kann: Ist es möglich, dass sie erlittene Traumata von einem Körper zu einem anderen transportiert? Und was von unserer individuellen Geschichte, aber auch von unseren Vorfahren, Freund*innen und Bekannten ist in unsere Stimme eingeschrieben?

In Vorbereitung der Arbeit reiste Schönijahn nach Luhansk, einem Gebiet der Donbass-Region, wo seit 2014 der sogenannte Ostukraine-Konflikt herrscht: Kurz nach der Maidan-Revolution hatten Anfang 2014 russische Spezialeinheiten die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim besetzt und gewaltsam von der Ukraine abgetrennt. Seither kontrollieren prorussische Separatisten, unterstützt durch die russische Regierung, Teile der Donbass-Region.

Schönijahn wurde bei dieser Exkursion von der Musikwissenschaftlerin und Komponistin Vlada Rustina begleitet. Auf eigenen Forschungsreisen im Jahr 2011 stellte Rustina fest, dass sich die Gesänge in den ostukrainischen Dörfern weniger durch die unterschiedlichen Regionen unterschieden, als vielmehr durch die Erfahrungen und Erlebnisse der Sänger*innen. Aufbauend auf diesen Beobachtungen wirft Rustina in ihrem die Installation begleitenden Text Zeitkapsel für künftige Generationen die Frage auf, wie sich der aktuelle kriegerische Konflikt auf die Gesänge und die Stimmen auswirken wird. Eine Antwort hierauf wird freilich – wenn überhaupt – erst in einiger Zeit möglich sein. Doch Who’d have thought that snow falls ist eine Annäherung, ein Schritt hin zu einer künstlerischen Betrachtung dieser Fragestellung:

Gemeinsam besuchten Schönijhan und Rustina drei Gesangsgruppen in den Orten Bilolutsk, Osynove und Horodyshche, die unterschiedliche Gesangspraktiken vertreten und nahmen hier zahlreiche Lieder auf, die in der Berliner Installation zu hören sind. Was für das ungeübte Ohr nicht zu hören ist, jedoch in Rustinas Text erläutert wird, ist, dass sich die unterschiedlichen Gesangspraktiken bereits innerhalb einer Gruppe von Generation zu Generation unterscheiden. So schreibt sie über eine der ältesten Sängerinnen der Gruppe „Osynivchanka“ aus dem Dorf Osynove:

„Der Gesangsstil von Kateryna Tkachenko ist in dem Lied I Remember Those High Mountains, das sie als Solistin vorträgt, deutlich zu spüren. Sie singt dieses strukturierte Lied auf eine melodischere Art und Weise, die dem Lied die Zeichen der Romantik verleiht. Ihr Gesang ist ein lebendiger Beweis für die Existenz verschiedener Aufführungsarten, die sich historisch gesehen von Generation zu Generation ändern.“

Während die Hungersnot in der Sowjetunion in den 1930er-Jahren und der Zweite Weltkrieg bereits dazu führten, dass viele Träger*innen alter Traditionen verschwanden, tun Urbanisierungs- und Globalisierungsprozesse heute ihr übriges und stellen „die Existenz der Volksliedtradition in Frage, die ein wichtiges geistiges Erbe des Volkes und eines der Kennzeichen seiner nationalen und kulturellen Identität ist“ (Rusina).

Mit Blick auf dieses langsame Verschwinden der Tradition ist Who’d have thought that snow falls nicht nur ein berührendes Klang- und Bilderlebnis, die performative Installation lässt sich auch als ein Archiv verstehen, das die Lieder der drei Gesangskollektive dauerhaft bewahrt und sie mithilfe der teilnehmenden Laiensängerinnen in einen neuen Raum übersetzt.

Natürlich entsteht bei der/dem Hörer*in ein anderer Eindruck, je nachdem, ob eine der ukrainischen Gruppen die Lieder singt oder der vor Ort anwesende Chor. Auf diese Weise wird Schönijahns Fragestellung, ob Stimme Erfahrungen transportiert, am eigenen Leib erfahrbar.

Auch der Ort ist im Hinblick auf das Erleben dieser performativen Installation nicht ganz unwichtig. Die 1835 erbaute, von Karl Friedrich Schinkel entworfene Kirche St. Elisabeth in der Invalidenstraße 3 wurde 1945 bis auf die Grundmauern zerstört und existierte anschließend mehr als 50 Jahre nur als Ruine. Seit einigen Jahren finden nun in dem wiederaufgebauten, 315m² großen Kirchenraum Konzerte, Musik- und Tanztheater, Performances und Ausstellungen statt.

St. Elisabeth ist einer von fünf Orten in Berlin-Mitte, die von der gGmbH Kultur Büro Elisabeth übernommen wurden, um sich zum einen um deren Instandsetzung und Erhalt zu sorgen, und zum anderen, diese für Kulturveranstaltungen zu öffnen. Neben der St. Elisabeth gehören hierzu das ehemalige Gemeindehaus Villa Elisabeth (ebenfalls in der Invalidenstraße 3), die Zionskirche (Zionskirchplatz), die Sophienkirche (Große Hamburger Straße 29/30) sowie die Golgathakirche (Borsigstraße 6).

Das 2003 zunächst als Kulturbüro Sophien gegründete Kultur Büro Elisabeth (seit 2014) ist mittlerweile eine wichtige Adresse für Kulturveranstaltungen in Berlin-Mitte und als solche Partner für die unterschiedlichsten Akteure.

So auch für Digital in Berlin, einer in Berlin fest etablierten Adresse für Musikveranstaltungen, die vom 1. bis zum 4. Oktober auch die performative Installation Who’d have thought that snow falls präsentierte.

Digital in Berlin wurde 2008 von Michael Rosen (*1978 in Transsylvanien, lebt in Berlin) gegründet und versteht sich als „das musikalische Archiv Berlins“. Als unabhängige Kulturagentur fungiert Digital in Berlin als Plattform für „Musikkultur zwischen Avantgarde, Popkultur und interdisziplinären Künsten“.

Neben Projekten wie dem Festival „Hydroacoustics“, das Anfang Oktober im Wasserspeicher in Prenzlauer Berg (Berlin-Pankow) stattfand, ist vor allem der 2015 von Rosen gegründete Kiezsalon eine feste Institution in Berlins Musikszene.

Die Konzertreihe Kiezsalon findet für gewöhnlich in der Musikbrauerei in der Greifswalder Straße 23a (ein Ort mit bewegter Geschichte und vielseitiger aktueller Nutzung) statt und zeichnet sich unter anderem durch sein besonderes Konzept aus: An einem Kiezsalon-Abend finden in vergleichsweise intimem Kreis (mit maximal 250 Besucher*innen) zwei Konzerte à 30 Minuten statt, wobei die performenden Künstler*innen, sich hinsichtlich der Stil-Richtungen „so weit wie möglich voneinander unterscheiden“, so Rosen. Der Diversität der Musiklandschaft Raum zu geben und mit seiner Konzertreihe die ganze Bandbreite anspruchsvoller Musik abzudecken, ist seit Beginn des Kiezsalons Rosens Anliegen. Dabei sind die meisten Acts Künstler*innen, die zuvor noch nicht in Berlin zu sehen waren und von hier aus auf größere Bühnen gebucht werden. Mit diesem Konzept ist der Kiezsalon auch weit über Berlins Tore hinaus bei Musikkenner*innen und -liebhaber*innen bekannt und geschätzt für seine Neuentdeckungen.

Ein weiteres Merkmal ist die individuell zusammengestellte Weinauswahl, die einen Kiezsalon-Abend begleitet sowie die Möglichkeit, im Anschluss an die Konzerte noch vor Ort zu bleiben. So vereint die Konzertreihe Musik, Wein und das Ambiente einer Bar – oder eben eines Salons.

Während die Konzerte bis 2020 in der Musikbrauerei stattfanden, war es im Zuge der Corona-Pandemie erforderlich geworden, neue Orte zu finden, die den Hygienevorschriften entsprachen. So gastierte der Kiezsalon im Bezirk Mitte unter anderem im Haus der Kulturen der Welt und im Bärenzwinger. Was zunächst aus einer Notwendigkeit heraus entstand, erwies sich als gelungene Erweiterung des bisherigen Konzepts: Neben musikalischen Newcomern und besonderen Weinen können die Besucher*innen nun auch Orte entdecken, die sie zuvor noch nicht kannten oder die noch nicht für musikalische Veranstaltungen genutzt worden waren, so Rosen.

Für 2022 ist wieder eine Mischung aus Konzerten in der Musikbrauerei und Konzerten „außer Haus“ geplant.

Man darf gespannt sein.

Immer wieder Neues zu lernen, die Welt für einen Augenblick mit den Augen einer fremden Person sehen, sich auf die unterschiedlichsten Perspektiven einlassen – das sind nur einige Aspekte, die Ferial Nadja Karrasch an ihrer Tätigkeit als Kunstjournalistin so schätzt. Sie lebt in Berlin und schreibt für verschiedene digitale und analoge Formate über Kunst und Kultur. Studiert hat sie Kunstwissenschaft, Philosophie und Ausstellungspraxis an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, an der Universiteit van Amsterdam sowie an der Universität der Künste Berlin.

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