Cleo Wächter und Lusin Reinsch

Cleo Wächter ist eine bildende Künstlerin, Kuratorin und Anthropologin. Sie interessiert sich für den Begriff der Landschaft und ihre Forschung konzentriert sich hauptsächlich auf unsere Beziehung zu unserer Umwelt und darauf, wie Menschen der Landschaft Bedeutung verleihen. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Kunst, Kultur & Geschichte des Bezirksamtes Mitte, Sachgebiet Stadtkultur mit Schwerpunkt Kunst im Stadtraum und Kunst am Bau. Sie gehört zum künstlerischen Leitungsteam des Bärenzwingers. Ihre Arbeiten wurden u.a. in Stroom Den Haag, der Jan van Eyck Academy in Maastricht, und der Floating University in Berlin gezeigt und veröffentlicht.

Lusin Reinsch (*1992) studierte Business Administration in Berlin und Buenos Aires, Argentinien, und Kulturmanagement in Saarbrücken. Zwischen 2014 und 2017 war sie als Assistentin der Festivalplanung für die B3 Biennale des bewegten Bildes (Frankfurt/Main) tätig. 2016 arbeitete sie als Werkstudentin im Bereich Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit für die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine. Von September 2020 bis August 2023 war sie kuratorische Assistentin und Programmkoordinatorin in der Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten sowie Teil des künstlerischen Leitungsteams des Bärenzwingers. Aktuell arbeitet sie als freie Kuratorin und als Galerieassistentin in der Zilberman Gallery Berlin.

Durch den Asphalt gewachsen: Beikraut als Kunst

07.05.2024
„The Tumble“ von Chan Sook Choi (2023). Video still: courtesy of the artist
„The Tumble“ von Chan Sook Choi (2023). Video still: courtesy of the artist

Welche Parallelen können wir zwischen Pflanzen und Menschen ziehen? Wie beeinflusst der Umgang mit Pflanzen in der Kunst unseren Blick auf die Welt? Verschiedene künstlerische Positionen verhandeln solche Fragen am Beispiel von Pflanzen, die meist unerwünscht sind.

Als Menschen lernen wir schon früh zu kategorisieren. Wenn eine Sache, ein Ort oder ein Phänomen erst einmal eine bestimmte Bedeutung erhalten hat, gestaltet es sich schwierig, die zugewiesene Bedeutung zu ändern. Nehmen wir zum Beispiel Unkraut. Was ein Unkraut wie den bekannten Löwenzahn, wie Brennesseln oder Gänseblümchen zu einem Unkraut macht, ist lediglich der Umstand, dass sie als solche kategorisiert werden. Das Cambridge-Wörterbuch definiert Unkraut als „jede Wildpflanze, die an einem unerwünschten Ort wächst, insbesondere in einem Garten oder auf einem Feld, wo sie die Kulturpflanzen am freien Wachstum hindert“.

Gebrandmarkt als hässlich, invasiv und schädlich oder einfach nur lästig, haben diese Pflanzen keinen guten Ruf. Aber tragen sie ihr Stigma auch zu Recht? Denn sie besitzen eine Vielzahl positiver Eigenschaften, die nun, auch unterstützt durch die Mittel der zeitgenössischen Kunst, langsam ans Licht gebracht werden. Denken wir etwa an die riesigen blühenden Pflanzen von Mona Caron, die sich im öffentlichen Stadtraum von New York City als Symbole der Resilienz und des Widerstands an verschiedenen Hausfassaden emporranken. Oder die meterhohe Löwenzahn-Blume in dem Entwurf von Ahu Dural, für den Kunst-am-Bau-Wettbewerb für die Grundschule Reinickendorfer Straße, die den Schüler*innen Mut machen soll. Das Umdenken in der Haltung gegenüber diesen Pflanzen zeigt sich bereits in der Namensgebung selbst: Immer öfter werden heute Begriffe wie Beikraut oder Begleitvegetation bevorzugt. Denn in der Natur gibt es kein Unkraut; jede Pflanze erfüllt eine bestimmte Rolle im Ökosystem.

Beikräuter stellen das menschliche Bedürfnis nach Hierarchie und Ordnung genauso in Frage wie die Neigung zur Dichotomie, die unser Denken noch immer durchdringt: schön oder hässlich, gut oder schlecht, unterstützend oder destruktiv. Die Unterscheidung zwischen heimisch und fremd oder gewollt und ungewollt scheint jedoch dem Umgang mit Beikräutern inhärent zu sein.

Manchmal ist es hilfreich, die Botanik zu betrachten und Parallelen zu ziehen, sie als Metapher dafür zu lesen, wie wir die Welt kategorisieren. Ähnlich wie Menschen sind auch Pflanzen ständig in Bewegung, wechseln ihre Standorte und werden zu Migrant*innen. An dieser Stelle, wo sich Fragestellungen begegnen, die sowohl das Menschliche als auch das Nicht-Menschliche betreffen, setzen verschiedene Künstler*innen mit ihren Untersuchungen an.

So unter anderem der vietnamesische Künstler Tuấn Mami mit seinem fortlaufenden Projekt „Vietnamese Immigrating Garden“, das auch auf der documenta fifteen zu sehen war. Die performative Installation versammelt vietnamesische Pflanzen sowie Geschichten von vietnamesischen Gemeinschaften in der Diaspora in Form eines Gartens.

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Tuấn Mami, 2023, „Museum of the Immigrating Garden“, Installation in der Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten. Foto: Michael Zeeh
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Tuấn Mami, 2023, „Museum of the Immigrating Garden“, Installation in der Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten. Foto: Michael Zeeh

Seinen Anfang fand das Projekt im Jahr 2021 mit einer Untersuchung der vietnamesischen Communities in Taiwan, die einerseits als Folge des vietnamesisch-chinesischen Krieges geflohen, andererseits aus wirtschaftlichen oder familiären Gründen nach Taiwan ausgewandert waren. Die monatelange Recherche ergab, dass Pflanzen einen wichtigen Bestandteil des Alltags darstellen: Diese aus Vietnam mitgebrachten Samen und Pflanzen umfassen ein vielfältiges Spektrum, sowohl in ihrer Form als auch in ihrer Verwendung. Einige werden für die Zubereitung traditioneller Gerichte genutzt, andere dienen als medizinische Heilmittel. Sie werden in privaten Gärten, auf den Dächern von Wohnhäusern oder hinter Fabrikgebäuden angebaut und fungieren auch als Mittel gegen das Vermissen. Als illegal importierte Pflanzen tragen sie jedoch offiziell das Label Beikraut, weshalb sie im öffentlichen Raum wenig anzutreffen sind.

Welche Geschichten erzählen diese Pflanzen? Und welche Geschichten stecken hinter ihrer Migration? Wie passen sie sich an, um in der neuen Umgebung zu überleben? In Zusammenarbeit mit den Communities kreiert Tuấn Mami Gärten und schafft so auch eine soziale Plattform für Begegnung und Austausch.

Mittlerweile existieren sechs unterschiedliche Ausführungen der Installation, von denen drei in Deutschland umgesetzt wurden. Für sein Projekt „Museum of the Immigrating Garden“ in der Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten (2022) adaptierte er sein Konzept für den Innenraum. In diesem Fall wurde kein gemeinschaftlicher Garten angebaut, sondern die vietnamesischen Communities in Berlin eingeladen, Pflanzen aus ihren privaten Gärten für die Installation beizusteuern. Über mehrere Wochen hinweg sammelte der Künstler insgesamt etwa 150 Pflanzen, die anschließend im Galerieraum ausgestellt wurden. Über die botanischen Eingewanderten hinaus, sind die wenig bekannten Geschichten ihrer Besitzer*innen, die in Form von Video-Interviews erfahrbar werden, elementar für die Installation. Über die Adaption erweitert Tuấn Mami den Diskurs, denn genauso wie seine Interview-Partner*innen, genießen auch die Pflanzen in der Ausstellung eine absolute Anonymität. Er setzt einen spekulativen Ausgangspunkt über die Geschichten der Pflanzen, sowie über ihre Besitzer*innen und hinterfragt den in der Museumspraxis gängigen Ansatz des Benennens und Kategorisierens.

Tuấn Mami, 2023, „Museum of the Immigrating Garden“, Installation in der Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten. Foto: Michael Zeeh

Migration ist für das Überleben einer Pflanze entscheidend. In einigen Fällen wandert die Pflanze mit den Menschen oder wird in ihrer Verbreitung von Tieren unterstützt; in anderen Fällen hilft der Wind. Steppenläufer (Chamaechorie – griech. χαμαί/chamai „auf dem Boden“, χωρεῖν/chōrein „sich fortbewegen“) sind nach ihrer Ausbreitungsmethode benannt. Ihre Samen reiten auf den Wellen des Windes und verbreiten sich so auf dem trockenen Wüstenboden. Sobald die Pflanze ausgewachsen ist und den Prozess der Dehydration durchlaufen hat, löst sie sich von ihren Wurzeln, um dem Wind zu folgen.

Diese Migration, das Loslösen vom ursprünglichen Kontext, das physische Verlagern des Körpers sowie die Beziehung zu Land (Wie kultivieren wir Land? Wie arbeiten wir mit und auf ihm? Wie gestaltet sich das Eigentum von Land?) bilden oft den Ausgangspunkt für Chan Sook Chois recherchebasierte Arbeiten.

Für ihre Dreikanal-Videoinstallation „The Tumble“ reist die Künstlerin in die Wüste von Arizona, um die Pflanzen und die sozialen und natürlichen Exologien, die sie mit sich bringen, näher zu untersuchen.

Die Wüste wird oft als ein Ort dargestellt, an dem nichts passiert. Der Bodenläufer unterstützt diese Erzählung und ist Symbol von Verlassenheit geworden: Die aus Westernfilmen bekannte Szene eines taumelnden Bodenläufers, der durch die leere Steppe weht, hat sich auf cinematische Weise in unsere allgemeine Vorstellung eingebrannt. Durch diese minimalistische Intervention, verwandelt sich die erhabene Landschaft hin zu einer Kulisse, die eine*n Protagonist*in erwartet.

Bei ihrer Ankunft in Arizona wurde der Künstlerin klar, dass das Bild des sich ausbreitenden Steppenläufers eher eine Vorstellung als eine Realität war – sie konnte das bekannte Wüsten-Requisit nicht wirbeln sehen. Deshalb tauchte sie in ihrer Recherche in die Biologie der Pflanze ein, arbeitete mit Archivmaterial und führte Interviews mit Expert*innen.

Durch drei Bildebenen, die weder vergleichen noch hierarchisieren, erhalten wir einen Einblick in Chois Recherche, in der sie das gängige Narrativ dieser Pflanze hinterfragt. Die Künstlerin zeigt aus der Perspektive des Steppenläufers abwechselnde computergenerierte Landschaften, die in künstlich anmutendes blaues Licht gehüllt sind; angesammelte Gruppen von Steppenläufern im Luftstrom, verlassene Supermärkte und unendlich weite Industriehallen, die zwar Spuren von Menschen aufzeigen, aber gleichzeitig ihre Abwesenheit unterstreichen. Im rechten Bild im unteren Bereich werden nach und nach kurze Texte eingeblendet, die sich wie Gedichte lesen. Der Tonfall und die Klanglandschaft der Arbeit haben etwas Meditatives und zugleich Bedrohliches, lassen den Betrachtenden jedoch Raum für Interpretation.

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Installation Chan Sook Chois auf der 12. Seoul Mediacity Biennale. Credit: GLIMWORKERS, courtesy of the Seoul Museum of Art
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Chan Sook Choi, 2023, „The Tumble“. Video still: courtesy of the artist

Ein Wesenszug des Beikrauts ist die Aneignung von Raum und das Verdrängen anderer Pflanzenarten zu den eigenen Gunsten. Chan Sook Chois Frage von Landbesitz und Eigentum begleitet uns durch den Film und kulminiert am Ende in einer Fotografie einer Gruppe aus dem Volk der Apachen, einer der indigenen Bevölkerungsgruppen in Arizona, die einen wichtigen Hinweis liefert: Die Wüste war nie eine Leerfläche.

Ein weiterer Künstler, der sich mit Steppenläufern befasst hat, ist Julius von Bismarck. In Zusammenarbeit mit seinen langjährigen Kollegen Julian Charrière und Felix Kiessling entstand 2016 die Arbeit „Joe is dead“. Sie besteht aus einem Bodenläufer, der auf einem Laufband entgegen dessen Bewegungsrichtung von einem Ventilator angeblasen wird, sodass er in einer ewigen Schleife gefangen ist. Der Bodenläufer läuft – aber wohin? Die drei Künstler spielen so auf humorvolle Weise mit dem oben beschriebenen Film-Klischee.

Die Arbeit war im vergangenen Jahr in der Retrospektive von Julius von Bismarck in der Berlinischen Galerie zu sehen, in der er auch das Erbe seines Namens reflektierte. Er stammt von Otto von Bismarck ab, der große Teile Afrikas kolonialisierte, was den Beginn des deutschen Imperialismus markiert. Im weiteren Sinne befassen sich viele seiner Werke mit der Frage nach unserer Beziehung zur Umwelt, dem Wechselspiel von Staunen und Ehrfurcht, dem Wunsch nach Eigentum an der (unberührten) Landschaft sowie den systemischen Mechanismen hinter der Aneignung von Land.

Eine andere Art von kolonial bedingtem, kultiviertem Kreislauf thematisiert der Künstler Alaa Abu Asad in seinem langjährigen künstlerischen Rechercheprojekt „The Dog Chased its Tail to Bite it off“ (Der Hund jagte seinen Schwanz, um ihn abzubeißen). Dabei folgt er den Spuren des Japanischen Staudenknöterichs, der im Zusammenhang mit europäischen Kolonialzügen in einer deutsch-niederländischen Kollaboration in den 1840er Jahren nach Europa gebracht wurde. Maßgeblich verantwortlich war dafür der deutsche Forscher Philipp Franz von Siebold, der unter der Schirmherrschaft der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) mehrere Jahre in Japan lebte und dort eine botanische Sammlung angelegt hatte.

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Alaa Abu Asad, „Japanese knotweed in blossom“, Ghent, September 2022, courtesy of the artist
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Alaa Abu Asad, „The Dog Chased its Tail to Bite it off“ (the mural), Mediamatic, Amsterdam, 2023. Photo: Jiyoung Lee
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Alaa Abu Asad, „Japanese knotweed leaves and sticks“. ©Kunstfort bij Vijfhuizen, 2023. Photo: Thaddeus Photography

Ursprünglich als Zierpflanze nach Europa eingeführt, setzte das rhizomatische Wurzelsystem der Pflanze, die besonders gut in trockenen Landschaften gedeiht, bald eine großflächige Erkundung des Kontinents in Gang. Heutzutage wird die Pflanze in den meisten europäischen Ländern als „nicht heimische invasive Art“ eingestuft und gilt als Plage. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass mit steigenden Durchschnittstemperaturen im Winter weniger Frostperioden auftreten und somit das Wachstum der Pflanze nicht so stark eingeschränkt wird – ein Symptom des Klimawandels, der durch nicht-ethische Produktion und ausbeuterische ökonomische Strukturen verursacht wurde, die auch auf eine Kontinuität kolonialer Verhältnisse verweisen. Wie die Schlange Uroboros ist der Mensch an seinem eigenen Untergang schuld.

Wie wir etwas kategorisieren und wie wir damit umgehen, wird oft durch die Sprache (entweder verbal oder visuell) bestimmt, die wir dafür verwenden. In der fortlaufenden Arbeit zieht Abu Asad eine Parallele zwischen den Wörtern, die zur Beschreibung von Beikraut und Migrant*innen gewählt werden. Zu diesem Zweck untersuchte er Enzyklopädien, botanische Bücher und Artikel über die Ausbreitung des Beikrauts und schuf ein Bild von bisherigen und aktuellen Kampagnen und Maßnahmen, das die enge Verflechtung zwischen botanischer und nationaler Geschichte porträtiert. Im niederländischen Kontext ist die Tulpe ein gutes Beispiel dafür, wie wir, wenn wir etwas schön finden, es als „unseres“ bezeichnen. Wenn man an Tulpen denkt, denkt man an Holland und nicht an Zentralasien (heute die Türkei und Iran), woher die Blume ursprünglich stammt. Und umgekehrt denkt man an Tulpen, wenn man an die Niederlanden denkt – eine einzige Blume kann ein Land symbolisieren.

Die künstlerischen Projekte zeigen uns, wie tief das menschliche Verlangen zu kategorisieren in unserer kognitiven Struktur verankert ist. Wir ordnen und klassifizieren ständig die Welt um uns herum, sei es durch Sprache, Kultur oder soziale Normen. Hinter jeder Pflanze – ob gewollt oder nicht – steckt eine Geschichte. Es sind Geschichten von Zuhause – gespickt mit Gerüchen oder Geschmäckern aus der Ferne.

Kunst hat die Fähigkeit, uns aus diesen engen Kategorien herauszuholen und uns eine Welt jenseits der Grenzen von Definitionen und Etiketten zu zeigen. Genau wie das Beikraut konfrontiert uns Kunst mit unerwarteten Perspektiven, fordert unsere Vorstellungen von Ordnung und Struktur heraus. Kunst eröffnet Räume für Offenheit und Unbestimmtheit. Wie ein Gänseblümchen, das den Asphalt aufbricht, lädt sie uns ein, das Unbekannte zu erforschen und unsere eingefahrenen Denkmuster aufzubrechen.

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