Marina Naprushkina: Egill, als ich das erste Mal deine Zeichnungen gesehen habe, war ich verliebt.
Egill Saebjörnsson: Zeichnen ist wie Sprache für mich. Mein Bruder und ich haben damit angefangen, als wir Kinder waren und konnten dadurch unseren Altersunterschied überwinden. Ein Zwölfjähriger und ein Sechsjähriger, das geht nicht immer gut zusammen. Er wollte natürlich so zeichnen wie ich, ich fand seine kindischen Zeichnungen toll, so haben wir voneinander gelernt. Wir haben uns in unserer ausgedachten, gezeichneten Welt getroffen. Und diese Welt gibt es immer noch. Genau wie diese kindliche Welt erfunden ist, so ist unser Alltag auch erfunden, wir leben in einem dauerhaften Abenteuer.
MN: Deine Arbeiten haben oft einen Witz, das macht sie unheimlich lebendig. Schwierige Situationen im Leben würde man ohne Humor nicht überleben, aber die Kunst schafft es heute oft ohne Humor auszukommen.
ES: Oft stecken wir gedanklich in einer Situation fest. Der Humor zeigt uns dann einen Weg raus. Deswegen mag ich die Trolle sehr. Spielen zu können, Humor zu haben, das ist sehr human und ist notwendig für die Gesellschaft. Leider wird das Spielerische immer weniger.
MN: 2017 hast du Island bei der 57. Venedig Biennale vertreten und du hast zwei Trolle Ugh and Boogar den Pavillion gestalten lassen. Woher kommen diese Wesen?
ES: Ich habe die Trolle für Venedig vorgeschlagen, sehr intuitiv. Ich fand, dass diese Biennale der richtige Ort für diese Idee ist. Hochkultur ist oft zu ernst, ich wollte mich nicht anpassen. Das ist dann tatsächlich out of control (so hieß die Installation) gewesen. Es hat auch sehr viel mit einem Spiel zu tun. Ich habe die Trolle einfach machen lassen. Sie haben vieles veranstaltet, was ich als Künstler nie machen würde.
MN (lacht): Deine Trolle haben auch Nagellack und Parfüm produziert, Merchandising also. Mein Ziel ist nicht unbedingt, dass meine Arbeiten als Kunstwerke im Museum hängen. Ich finde es gut, wenn es Kunst zum Anziehen gibt, wenn Leute sich das leisten können und die Kunst auf die Straßen bringen.
ES: Mein Traum wäre ein Atelier mit einem Lokal zusammen. Ich packe jetzt auch immer Tische in meine Ausstellungen, damit man sitzen und Kaffee trinken kann. Aber die ganzen Läden für Sneaker, Brillen und Klamotten bieten auch Kaffee an. Wir leben jetzt wohl in der Café-Ära.
In Brasilien in den 1920er-Jahren haben die Künstler*innen sich mit der westlichen Kunst auseinandergesetzt. Oswald de Andrade and Lesley Bary beschreiben das in dem Cannibalist Manifesto von 1928. Die Brasilianischen Künstler haben die westliche Kunst aufgesogen (gegessen) und wieder ausgespuckt in ihrer eigenen Art. Man muss all diese Sneaker fressen. Ignorieren kann man sie nicht. Kapitalismus kann Material für Kunst werden.
MN: Was kommt nach Kaffee und Sneaker?
ES: Was kommt nach dem Ende der Religion? Spiritualismus und Glaube sind ja älter als alle Religionen. Christentum und Islam sind ziemlich jung, und haben beide mit der Entwicklung von gesellschaftlichem Leben in Großstädten zu tun. Vor 2000 Jahren war es wichtig ein Modell zu entwickeln, wie sehr viele Menschen in einer Stadt oder in einem Reich zusammenleben können. Dieses Leben musste organisiert, die Menschen zum Zusammenleben diszipliniert werden, nichts anderes sind die 10 Gebote. Diese Religionen werden sich über kurz oder lang auflösen und ich frage mich, welche Form Glaube und Spiritualismus dann annehmen werden.
MN: Und deine Gedanken zur Zeit?
ES: Ja, das Zeitmodell! Es gibt gar keine Zeit, Sachen bewegen sich nur in der Welt, die Idee vom Big Bang als einen Anfangspunkt ist völlig falsch. Wir leben im selben Raum wie die Römer, wie die Neandertaler, wie die Dinosaurier. Auch die Akropolis ist immer noch dieselbe. Die Welt kann auch ohne Zeit gesehen werden. Das würde dann heißen, Zeit läuft nicht, sondern Dinge bewegen sich. Man wird nicht alt, weil man eine bestimmte Zahl an Jahren gelebt hat, sondern weil sich der Körper langsam in einen chaotischen Zustand umgebaut hat.
MN: Du schreibst auch über diese Themen, sehr viel vielschichtiger als wir uns in einem solchen Gespräch darüber unterhalten können. Das sind ja große philosophische Fragen. Und das ist die andere Seite an dir, eine große Ernsthaftigkeit, die du über das Spielerische dann wieder zu leichten Arbeiten auflösen kannst. Woran arbeitest du jetzt?
ES: An einer „Swim-in“ Skulptur für eine Therme in Bukarest!
MN: Du hörst nie auf zu experimentieren, bewegst dich von einem Medium zum anderen, arbeitest interdisziplinär.
ES: Oh ja, als ich jung war, habe ich mir Lebensläufe von bekannten Künstler*innen angeschaut. Manche machen, seitdem sie 25 Jahre sind, die gleiche Kunst. Ich habe mir geschworen, dass ich nie so sein werde!
Egill Saebjörnsson, Steinkugel (Stone-sphere), Robert Koch-Institut-Campus an der Seestraße
MN: Du hast eine Arbeit für den Bau des Robert-Koch-Instituts in der Seestraße im Wedding entwickelt. Ein guter Weg sich die Stadt zu erschließen, in dem man für sie eine Skulptur baut.
ES: Ich wurde in einem Wettbewerb ausgewählt und ich finde es mutig, dass die Kommission sich für eine Videoarbeit im öffentlichen Raum entschieden hat. Es ist ein sich selbst generierendes Video, eine Projektion, die sich nie wiederholt. Die Arbeit ist jetzt schon fünf Jahre da und sie läuft hoffentlich noch lange.
Und ich habe in den letzten Jahren Interesse für Architektur entwickelt. Ich sehe es sehr kritisch, wie heute, hundert Jahre nach Bauhaus, gebaut wird. Ich finde, auch wenn das Haus in privatem Besitz ist, ist die Fassade Teil des öffentlichen Raums. Und wir haben alle Rechte daran.
MN: Mein Großvater ist Architekt. Er sagte immer: Wir gestalten die Räume und dann gestalten sie uns. Und ich sehe viel Potential bei den Künstler*innen, die frei denken können und etwas verändern wollen.
ES: Die ebenen Wände machen mich krank. Wände ohne Tiefe oder Vielfältigkeit sind wie Personen ohne Persönlichkeit. Farben, organische Formen ohne direkte Funktion, Details, all das wird in der Architekturlehre des 20. Jahrhunderts abgelehnt, es sind quasi Tabus. Ich sehe das als ein tiefes Missverständnis, die ganzen simplen Fassaden, die sich in Berlin ausbreiten sind lieblos. Glatte Wände sind nicht gut für unser Nervensystem. Wir brauchen mehr Komplexität und Tiefe bei Oberflächen.
MN: Es ist einfacher einer Norm zu entsprechen, sich auf etwas zu beziehen, was es schon gibt. Sonst muss man sich verteidigen.
Architektur spielt ja auch immer eine Rolle an und in Ausstellungsorten. Ausstellungsräume ähneln einander immer mehr: White Cubes mit gut beleuchteten Objekten. Aber ist das das Ziel der Kunst? Und sind wir Künstler*innen geworden, um noch eine und noch eine Ausstellung zu produzieren?
ES: Die Kunst gibt es schon viel länger als Ausstellungen! Was ist dann deine Idee?
Blick aus dem Fenster
MN: Ich habe die Initiative (Neue Nachbarschaft/Moabit). Es ist auch eine Form der Gestaltung für mich. Ein Raum, in welchem ich mich bewege und denke, andere kennenlerne. Das sind bewegliche, lebendige Räume. Und nicht ein paar schön ausgeleuchtete Objekte.
ES: Ich finde es wichtig einen Raum zu haben, in den Leute kommen und selber was machen können. Kunst ist jetzt ein Kreis aus selbsternannten Expert*innen. Sie machen Kunst für andere. Deswegen finde ich Initiativen wie die Neue Nachbarschaft/Moabit interessant, da wird Kunst geöffnet. Ich wollte eine Bäckerei eröffnen, in der man Brot backen und auch mit Ton arbeiten kann. Jeder sollte sich ausprobieren können. Weil bei der Kunst geht es nicht um das Genie, sondern um die kreative Kraft, die jeder von uns entdecken kann. Als die Künstler der Renaissance angefangen haben eigene Bilder zu signieren, war das der Anfang des Individualismus. Der Künstler als Genie wurde geschaffen. Kunst ist Macht, ist Kapital. Kunst wird in für Kunst bestimmten Räumen gezeigt. Viele werden davon ausgeschlossen, als Zuschauer*innen und auch als Kunstschaffende.
MN: Die Frage ob jemand Künstler*in ist, wird öfters über ein Kunststudium definiert. Aber lernt man wirklich Künstler*in zu sein an einer Kunstakademie? Und wie steht es mit dem Zugang zum Studium?
ES: Ich fand das Kunststudium wenig inspirierend und wollte mehrmals abbrechen. Dabei kann Kunst machen heilend sein, kann helfen Selbstvertrauen aufzubauen. Gerade beschäftige ich mich damit, meiner Mutter zu helfen ein Buch über Sigridur Björnsdottir, (verheiratet mit Dieter Roth), zu publizieren. Sie war eine der ersten Kunsttherapeut*innen der Welt. Sie hat in den 1950er-Jahren angefangen im Krankenhaus zu arbeiten und den Menschen Kunst nachezubringen. Sie ließ die Menschen mit Ton und Farben arbeiten oder mit Bewegung und Tanz das eigene Selbst spiegeln. Das finde ich eine sehr noble Nutzung der Kunst. Und das greift ja gerade deine Frage auf, wer Künstler sein darf.
MN: In Schweden in der Stadt Kristinehamn hast du das Projekt Kärahär gestartet mit Menschen, die in einer Notunterkunft leben. Wie kam es dazu?
ES: Andreas Brändström war damals Museumsdirektor dort und er schlug mir vor, mein Atelier einfach dort aufzubauen. Er sprach davon, es gebe viele Menschen, die nichts zu tun hätten und dass es doch cool wäre, mit ihnen was in meinem Atelier zu produzieren, sie mitmachen zu lassen. Ich bin dann hingefahren, um mir das alles mal anzuschauen, denn ich war mir nicht sicher, ob ich ihn in allem richtig verstanden hatte.
MN: Deine Idee von einem erweiterten Studio finde ich richtig. So hat auch Dan Peterman die Einrichtung Experimental Station in Chicago gegründet. Er hatte ein Studio und wollte sich mit der Nachbarschaft verbinden. Daraus ist ein Kulturzentrum entstanden.
ES: In Kristinehamn waren über 2.000 Menschen in diesen Notunterkünften, in einer Stadt von gerade mal 20.000 Einwohner*innen. Wenn diese Menschen nach Europa kommen, sind sie zum Nichtstun verdammt durch den Staat. Ich wollte, dass die Menschen auf den Äckern was anbauen können, dass sie etwas konstruieren und zusammenbauen können, wir wollen doch alle was machen. Es ist wichtig, dass wir irgendwo mitmachen können, auch wenn das vielleicht nur rudimentär ist. Ich wollte ein Café/ Restaurant aufbauen, mit syrischer, schwedischer, afghanischer Küche. Wir würden Gewächshäuser bewirtschaften, mit dem Boot Fische fangen, Beeren aus dem Wald holen, den ganzen Laden gestalten, Fliesen brennen für Boden und Wände, Kaffeetassen, Teller, Schalen, alles was man selber machen kann.
Foto: Egill Saebjörnsson
MN: Also das Gegenteil von einem Sneakerladen.
ES: Naja, ich bin tatsächlich dorthin gezogen und habe vier Monate dort gelebt und das Projekt aufgebaut. Es ist nicht alles gelungen, ich hatte viele Probleme mit dieser Engstirnigkeit der Einheimischen und den Formalitäten der schwedischen Gesellschaft. Das hat fast das Projekt getötet. Aber im Gespräch mit Marjetica Piotrc habe ich gelernt, froh darüber zu sein, dass es jetzt dort ein kleines Kulturzentrum gibt, obwohl es nach drei Jahren immer noch kein Restaurant ist. Sie sagte, dass ein sozial-interaktives Projekt immer anders verläuft, als man es am Anfang plant. Dass bestimmte Dinge eben nur so schnell gehen können, wie die Teilnehmer*innen auch dafür bereit sind. Es ist so ein Glück für Europa, dass diese Menschen da sind und deren Kinder.
MN: In solchen Arbeitsprozessen lernt man selbst unheimlich viel. Ich kenne das von der Arbeit in der Initiative. Und oft kann man das nur aus direkter Arbeit mit Menschen erfahren.
ES: Ezzat, ein 27-jähriger Mann, und heute ein Freund von mir, aus Afghanistan hat mir gezeigt, dass wir in Europa alle so sehr auf Objekte fixiert sind, auf Computer und im Grunde sehr einsam sind. Mit ihm und zehn anderen afghanischen Jungs saß ich fast täglich zusammen und habe Tee getrunken, Brot gebacken. Es war sehr schön und nährend in dieser Gruppe zu sein. Ein „Keiner“ in dieser Gruppe zu sein, hat mir gut gefallen. Denn obwohl ich der einzige Europäer unter ihnen war, haben sie mich manchmal vergessen und ich war nur im Schatten dabei. Das war das Gegenteil von europäischer Stadteinsamkeit.
Ugh & Boogar – The Trolls in Helsinki, von Egill Saebjörnsson, argobooks
MN: Stadteinsamkeit finde ich einen sehr treffenden Begriff. Er erklärt sich sofort von selbst. Du bist ja schon vor Langem von der kleinen Metropole Reykjavik in die größere Metropole Berlin umgezogen. Was trieb dich?
ES: Ende der 1990er-Jahre war Island noch ziemlich isoliert. Ich wollte einfach raus, Reykjavik war mir irgendwann zu klein. Ich war einer der ersten isländischen Künstler hier. Berlin als Kunstmetropole war bei uns damals noch nicht so bekannt. Es gab auch keinen direkten Flug nach Berlin von Island, ich musste immer erst mit dem Bus nach Kopenhagen fahren. Das ist jetzt aber schon 20 Jahre her.
MN: Vielleicht habe ich eine sehr romantische Vorstellung von Island. In einem der Künstlergespräche hast du mal erwähnt, dass es in Reykjavik wenig Bäume gibt und dass Natur dein größter Lehrer sei.
ES: Doch in Reykjavik gibt es mittlerweile sehr viele Bäume. Als ich klein war, wurde viel gepflanzt. Die Bäume sind so alt wie ich und die Stadt Reykjavík ist heute gleichzeitig Islands größter Wald. Aber Bäume in der Landschaft in Island sind selten. Die Natur und die Landschaft spielen für mich eine sehr große Rolle. Ich lerne viel von der Natur, das hat einen großen Einfluss auf das, wie ich Kunst verstehe und mache.
MN: Wir haben heute über sehr vieles gesprochen. Aber nicht über die Liebe oder den Spiritualismus. Wollen wir nächstes Mal damit anfangen?
Das Gespräch mit dem Künstler führte Marina Naprushkina (Künstlerin) in seiner Berliner Wohnung im November 2019.