Am Freitag, dem 28. September 2018 beginnt in der Ruine der Franziskaner Klosterkirche das mehrteilige Ausstellungsprojekt Unfinished Histories Vol. I bis IV. Es erforscht das Verhältnis von Geschichte zum Poetischen. Vol. I Night & Angels beginnt mit Texten der libanesisch-amerikanischen Malerin, Lyrikerin und Essayistin Etel Adnan, begleitet durch eine Soundinstallation der Komponistin und Klangkünstlerin Ulrike Haage. Christopher Weickenmeier besuchte Etel Adnan in Paris. Ein Auszug aus ihrem Gespräch.
Christopher Weickenmeier: Einer Ihrer Texte, die wir in der Ausstellung Unfinished Histories Vol. I in der Ruine der Franziskaner Klosterkirche präsentieren, ist Engel, mehr Engel. Was sind Engel für Sie?
Etel Adnan: In der Schule, in der katholischen Schule – es gab keine anderen Schulen –, sagten sie uns, wir hätten einen guten Engel und einen bösen Engel. Also glaubte ich das, und ich fürchtete mich davor, mich umzudrehen und den bösen Engel zu sehen. Wenn ich die Straße entlangging, sagte ich mir, hinter mir ist ein Engel. Ich war besessen davon, dass es zwei Dinge hinter mir gab, die ich nicht sehen konnte.
Als ich 20 Jahre alt war, entdeckte ich Rilke, die Duineser Elegien. Sie beruhen auf Engeln. Und er lässt sie so real werden. Ich dachte wirklich, ein Engel umarmt mich, umarmt ihn, und er war erschrocken. Die guten Engel beeindruckten mich mehr. Ich glaubte als Kind nicht an die Hölle, denn in der katholischen Kirche ist der Teufel ein Engel. Auch im Koran, aber das lernte ich später. Im Koran sind da zwei Engel, wenn wir sterben: Sie warten auf uns, und sie entscheiden dann, wer ins Paradies kommt und wer in die Hölle.
Die meiste Zeit meines Lebens glaubte ich nicht unbedingt an Gott, aber ich glaube an Engel. Wir sind nicht die Einzigen in diesem Universum, und vielleicht gibt es Engel. Das widerspricht nicht der Vernunft. Ich mag die Vorstellung von diesen eigenartigen Realitäten.
CW: Engel bewegen sich zwischen den Welten – sie gehören zu Gott, aber auch zu den Menschen.
EA: Engel sind unsere Verbindung. Ich denke, Engel sind in der islamischen Tradition noch wichtiger als in der christlichen. Wenn Sie zur Kirche Saint Sulpice gehen, finden Sie dort zwei riesige Fresken von Eugène Delacroix. Da ist ein Engel, der mit Jakob kämpft. Das stammt aus der Bibel. Und dann ist da noch ein anderer Engel, der Erzengel Michael. Sie sind außergewöhnlich. Es sind wunderschöne Bilder. Engel sind wunderschön in der Malerei der Renaissance. Sie sind überzeugend. Sie sind himmlisch.
CW: Ihr Text wird in einer Ruine zu hören und zu sehen sein, in der Ruine einer mittelalterlichen Klosterkirche. An einer Stelle schreiben Sie, dass Texte Häuser sind, die Sie für sich bauen. Und zugleich haben Sie in Ihrem Leben viele Ruinen gesehen. Sind Ruinen etwas an sich trauriges?
EA: Archäologische Ruinen sind positiv, weil die Vergangenheit nicht völlig verschwunden ist. Delphi ist eine Ruine, aber es ist der schönste Ort auf Erden. Alte Ruinen sind also positiv, neue Ruinen jedoch nicht. Bei alten Ruinen kannst du sehen, dass nicht alles verloren ist. Und Beirut. Ich sah, wie das alte Beirut bombardiert wurde. Das war schrecklich. Die Straßen, durch die ich gegangen bin, waren nicht mehr da. Hier handelte es sich um eine der schrecklichen Ruinen der Gegenwart, die traurig machen, weil es möglich gewesen wäre, sie nicht zu zerstören. Aber die Vergangenheit, sie muss zerstört werden, weil das Leben weitergeht. Und daher freut man sich, jene Ruinen zu sehen.
CW: An alte Ruinen mag ich, dass sie keine Funktion mehr haben, dass sie anders in der Zeit sind.
EA: Ich mag alte Ruinen, und Ruinen der Gegenwart machen mich traurig. Wie Hiroshima. Ich würde dort nicht gerne hingehen. Dort ist nichts.
CW: In Nacht schreiben Sie, wie Sie mit 20 „an der Tür zur Wirklichkeit standen“, ohne zu wissen, wie Sie diese Wirklichkeit betreten können. Wie hat sich Ihre Beziehung zur Zeit mit dem Älterwerden verändert?
EA: Sie verändert sich sehr. Als Kind existiert die Zeit für einen nicht. Man lebt von Tag zu Tag. Wenn man „morgen“ sagt, ist es weit weg. Und auch „heut Abend“. Und mit dem Alter verändert sich die Zeit emotional. In meinem Alter ist die Beziehung zur Zeit manchmal schwierig. Zum Beispiel, wenn ich Zeitung lese und sie schreiben, das Gebäude wird im Jahr 2025 eröffnet. Ich denke, ich werde nicht mehr da sein, und das ist hart. Aber ich denke nicht ständig daran. Ab einem gewissen Alter ist deine Vergangenheit grösser als deine Zukunft. Das ist hart.
CW: Sie haben viele, viele Texte geschrieben. Ich frage mich, in wieweit Sie das bereits Geschriebene beeinflusst, wenn Sie etwas Neues schreiben?
EA: Nun, ich denke nicht an meine anderen Bücher. Gott sei Dank! Ich denke nie an meine alten Bilder, wenn ich male, und ich denke nicht an meine Bücher, wenn ich schreibe, denn meine Bücher gehören nicht unbedingt zusammen. Vielleicht doch, aber es ist nicht geplant, nicht wie Proust oder Balzac, die eigentlich ihr Leben lang an einem einzigen Buch geschrieben haben.
CW: Da ist etwas in Ihrem Schreiben: Sie scheinen einen Gedanken zu denken, und Sie schreiben ihn auf. Der Gedanke kommt also vor dem Schreiben. Und dann: Durch das Schreiben taucht etwas auf, und Sie müssen darauf reagieren.
EA: Ich weiß nie, was ich schreiben werde. Beim Malen genauso. Ich habe kein Thema. Ich fange an, und es wächst, während ich arbeite. Beim Schreiben ist es ähnlich. Und ich korrigiere sehr wenig. Ich korrigiere nicht viel, weil schon alles da ist und nichts ergänzt werden muss. Ich bin keine Schriftstellerin, die täglich schreibt. Ich weiß nicht, was ich schreiben werde und wann ich schreiben werde. Ich weiß es nicht. Aber wenn es beginnt, hält es an, und wenn es aufhört, kann ich nicht mehr schreiben. Aber ich schreibe nicht eine Seite nach der anderen. Ich schreibe einen Absatz und dann einen anderen. Wenn sie zusammenpassen, ist es okay. Wenn sie nicht zusammenpassen, ist es okay. Ich mache mir nichts aus dem Zusammenhang.
CW: Was Ihnen keine Ruhe lässt, ist nicht das Wissen von dem, was Sie schreiben werden, sondern von etwas, das noch fehlt, das jedoch da ist.
EA: Es ist das Bedürfnis zu schreiben, weiterzumachen. Es ist nichts Konkretes. Es wird konkret, wenn ich schreibe, und dann vergesse, was ich gesagt habe. Manchmal heißt es, ich habe dies oder das gesagt, und ich antworte dann: „Ah, okay“. Ich habe auch keine Angst vor Widersprüchen. Die sind mir egal. Wenn ich heute schreibe, dass ich Altes mag und letztes Jahr gesagt habe, dass ich Altes hasse, ist es okay. Widerspruch ist gut. Es muss nicht immer alles zusammenpassen. Wir können Dinge aus unterschiedlichen Blickwinkeln sehen. In der Schule bringt man uns bei, uns nicht zu widersprechen. Das ist sehr schlimm, denn Widerspruch ist offen. Ich mag keine Gewissheit. Ungewissheit ist Bewegung.
CW: Wenn ich Ihre Texte lese, gibt es vieles, was ich nicht verstehe. Aber es gibt eine Beständigkeit oder Form in diesem Unbekannten, und das schätze ich sehr.
EA: Weil es offen ist. Ich korrigiere nicht, ich lasse es los. Manchmal weiß ich nicht genau, was ich gemeint habe, als ich etwas schrieb, und ich lasse es so stehen. Sobald es da steht, gehört einem das Geschriebene nicht mehr. Und jeder sieht etwas anderes, wir wissen es nicht. Man denkt, sie lesen, was man geschrieben hat. Aber manchmal weiß man selbst nicht mehr, was man geschrieben hat, wie sollten sie es also wissen? Sie immaginieren es.
CW: Es gibt diese Momente in Ihren Texten, wenn etwas in dem Geschriebenen bewusst wird: In Arabische Apokalypse schreiben Sie „Stop“, und für mich war das auch der Moment, in dem ich als Leser in meinen Körper zurückkehrte. Ich wurde mir selbst gegenwärtig, denn manchmal bin ich sehr entkörpert, wenn ich lese. Diese Momente erinnern mich daran, dass eigentlich ich es bin, der liest.
EA: Das ist auch so beim Schreiben. Die Arabische Apokalypse schrieb ich wie im Fieber, und als ich auf einmal „Stop“ sagte, habe ich es für mich gesagt. Genug! Hör auf, dich zu verlieren!
CW: Beim Lesen von Von Frauen und Städten musste ich viel an die aktuelle Diskussion über den westlichen Kunstkanon denken und wie das Patriarchat männliche Künstler privilegiert. Viele Kuratoren*innen, Historiker*innen, Künstler*innen fragen sich, wie Sichtbarkeit neu verteilt werden kann? Wie den Künstler*innen, die keine Anerkennung erhalten und erhalten haben, eine Stimme geben?
EA: Nun, bildende Künstlerinnen waren eindeutig benachteiligt. Und wenn du benachteiligt wirst, arbeitest du viel weniger. Deine Arbeit wird nicht so gut, weil du das Selbstvertrauen verloren hast. Frauen wurden weniger behelligt, wenn sie geschrieben haben. Vielleicht weil es eine stille Arbeit ist. Frauen konnten schreiben, es war aber schwierig, die Texte zu veröffentlichen. Bildende Kunst ist materiell, und Männer, Galerien, die ganze Kunstwelt, sie dachten, es verkauft sich nicht. Heute gibt es viele bildende Künstlerinnen auf der Welt. Ich spreche von jungen Frauen.
Aber wir sollten nicht dogmatisch sein. Picasso zum Beispiel: Man sagt, er hätte Frauen gegenüber Vorbehalte gehabt. Picasso war ein besessener Mann. Und weil er so erfolgreich war, konnte keine Frau so erfolgreich sein wie er. Man kommt dagegen nicht an. Das ist nicht so leicht. In seinen Bildern tauchen sie auf. Er war von Frauen besessen. Er hatte ein Problem. Sie ließen ihn nicht gleichgültig. Der späte Picasso, der alternde, hatte Angst. Das weiß man, wenn man sich seine Gemälde ansieht. Die Frauen sind immer sehr sexuell. Ich denke, er hatte auch Angst vor der Macht, die sie über ihn hatten. Wenn ich das so sage, verteidige ich ihn nicht. Ich lese seine Arbeit. Er war besessen. Wenn du besessen bist, denkst du so.
CW: Es gibt eine vorhandene Struktur.
EA: Die Gefängnisse sind voller Männer. Das sind keine einfachen Leben. Wir vergessen das. Männer werden von anderen Männern unterdrückt. Wenn zum Beispiel ein Mann den ganzen Tag von seinem Chef gedemütigt wird, kommt er wütend nach Hause und demütigt seine Frau. Ich entschuldige das nicht, aber er wurde den ganzen Tag gedemütigt. Arme Männer werden wie Objekte behandelt. Sie haben ihre eigene Erfahrung der Unterdrückung. Wir sollten also nicht denken, dass der eine immer glücklich ist und der andere nicht. Es ist die Gesellschaft, die für alle hart ist.
CW: Sehen Sie heute mehr Dogmatismus?
EA: Er ist sehr stark. Es gibt nicht genügend gute Debatten in unserer Gesellschaft. Es heißt immer: „Ich habe Recht und du nicht.“ Manchmal haben wir beide Recht, oder liegen beide falsch. Wir leben in einer dogmatischen Welt. Nehmen Sie beispielsweise die USA. Sie sprechen dort von einer Demokratie. Es ist eine Demokratie, aber man könnte dort nicht einmal Sozialist sein. Nicht nur kein Kommunist, sondern sogar nicht Sozialist. Man wird an den Rand gedrängt. Es ist ein reiches Land, und wenn man reich ist, glaubt man, man sei frei. Aber nicht in jeder Hinsicht. Man ist frei, sich zwei Paar Schuhe auszusuchen, aber man ist nicht frei zu denken, was man denken möchte. Wohlstand gibt einem das Gefühl von Freiheit. Aber wirkliche Freiheit? Nirgends ist man frei.
Alle Kirchen, alle Religionen glauben, sie besäßen die Wahrheit, oder seien die Besseren. Ich diskutierte mit einem Priester, und ich sagte: „Glauben Sie, dass Nichtchristen nicht in den Himmel kommen?“ – Und: „Ich glaube, Religionen sind Wege zu Gott.“ Und er erwiderte: „Ja, aber unser Weg ist der beste.“
Und sogar der Papst, der vorletzte Papst, der polnische Papst, er hat offiziell gesagt: „Außerhalb der Kirche gibt es keine Erlösung.“ Das ist furchtbar. Heißt das, dass 70 Prozent der Menschheit in die Hölle gehen? Wie kann Gott gerecht sein? Was ist mit einem Kind, das in eine buddhistische Familie geboren wird? Es ist nicht seine Schuld. Aber es wird in die Hölle gehen. So etwas im 21. Jahrhundert! Ich denke, dieser Papst Franziskus ist vielleicht etwas weniger… Zumindest weiß er, dass es in der Welt Armut gibt. Der andere war realitätsfern. Und sie haben ihn zu einem Heiligen gemacht!
Dogmatismus macht blind. Keine Diskussion. Keine Tür öffnet sich. Das ist sehr hart. Ich meine, wir sollten diskutieren und nicht fanatisch werden. Wenn man fanatisch wird, kann man nichts lösen.
CW: Ich glaube, das hat viel mit dem zu tun, was Sie über Widersprüche gesagt haben. Mit Widersprüchen umgehen zu können. Wir sind nur mit sehr einfachen Antworten zufrieden.
EA: Wir sollten zugeben, dass es nicht auf alles eine Antwort gibt. Das betrifft auch meinen Text. Jemand liest ihn und erkennt in dem, was ich geschrieben habe Dinge, an die ich nicht gedacht habe. Ich sollte mich freuen und nicht unglücklich sein. Es bedeutet, dass mein Text reich ist. Aber manche werden wütend. Es ist schön, nicht zu wissen.
Unfinished Histories
Vol. I. Etel Adnan – Night & Angels
Ausstellung in der Ruine der Franziskaner Klosterkirche: 29.09. – 11.11.2018
Geschichte ist zu Narrativen geronnene Sprache; sie schreibt unweigerlich Machtverhältnisse fort und fest. Und dennoch: Die Debatten um die historische Mitte Berlins verdeutlichen, wie Geschichte in einem dauerhaft unabgeschlossenen Verhältnis zur Gegenwart steht. Die Ausstellungsreihe Unfinished Histories Vol. I bis IV erforscht das Verhältnis von Geschichte zum Poetischen. Welche Potentiale eröffnet das Poetische mit seinem Vermögen, die Regeln von Sprache zu unterlaufen und ihrer eigentlichen Kontingenz Form zu verleihen?
Mittelpunkt der Ausstellungsreihe ist eine multimediale LED-Installation auf der Innenfläche der Klosterruine. Künstler*innen, die an der Schnittstelle von zeitgenössischer Lyrik und bildender Kunst arbeiten, sind eingeladen, diese für jeweils sechs bis acht Wochen auszufüllen. So wird die Klosterruine über die saisonale Schließung ab Ende Oktober hinaus zum lebendigen Ausstellungsort: die Installation ist von Außen einsehbar.