Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Fotograf des Alltäglichen

22.09.2020
Fotograf des Alltäglichen Eine Retrospektive im Hamburger Fotograf des AlltäglichenBahnhof würdigt den Fotografen Michael Schmidt
Michael Schmidt: Stadtoberinspektor beim Bezirksamt Wedding, aus der Serie "Berlin Wedding, 1976-78, © Stiftung für Fotografie und Medienkunst Michael Schmidt
Fotograf des Alltäglichen Eine Retrospektive im Hamburger
Michael Schmidt: Stadtoberinspektor beim Bezirksamt Wedding, aus der Serie "Berlin Wedding, 1976-78, © Stiftung für Fotografie und Medienkunst Michael Schmidt

Eine Retrospektive im Hamburger Bahnhof würdigt den Fotografen Michael Schmidt

Im Jahr 1976 erarbeitete der Fotograf Michael Schmidt für das Bezirksamt Wedding ein konkretes Projektvorhaben, mit dem er ein „wahrheitsgetreues und ehrliches Bild“ des Kiezes zeigen wollte, das aus Stadtlandschaften und Porträts bestehen sollte.[1] Das Ergebnis, die Serie Berlin Wedding, 1976-78, ist nun in einer großen Retrospektive im Hamburger Bahnhof zu sehen. Neben Straßenszenen aus der Seestraße, der Malplaquet- oder Chausseestraße enthält sie fünf Doppelporträts von Personen aus dem Wedding, die er jeweils an ihrem Arbeitsplatz und zu Hause fotografiert hat. Schmidt hat die Fotografien in zwei Reihen angeordnet und ermöglicht so einen vergleichenden Blick auf die Personen, die er sowohl dokumentiert als auch inszeniert hat. Seine große Kunst besteht darin, mit unscheinbaren Motiven höchst eindringliche Fotografien zu schaffen, die es vermögen, nicht nur konkrete Lebensrealitäten, sondern auch Atmosphären und historische Verschiebungen zu vermitteln. Oft haftet den Fotografien eine Schwere an, die jedoch nie reißerisch oder – die Gefahr bestünde vor allem im Falle der Porträts – entblößend ist.

Dahin, wo es weh tut

Die Schwere hat mit den Motiven zu tun, für die sich Schmidt entscheidet: Benachteiligt heißt eine Serie, andere Waffenruhe oder Ein-heit, Schmidt hält mit ihnen das fest, was weh tut: die Lebensrealität von kranken Menschen, die Zerstörungen der Stadt, die der Krieg hinterlassen hat, die Folgen des Mauerbaus und die ausbeuterischen Zustände der heutigen Lebensmittelproduktion. Trotz dieser heavy Themen bleibt Schmidt sachlich nüchtern und polemisiert nicht, wozu auch seine Entscheidung beiträgt, in schwarzweiß zu fotografieren, von der er erst mit der Lebensmittel-Serie aus den Jahren 2006-2010 abweicht. Zudem hat er sich für eine serielle Arbeitsweise entschieden, die er in thematisch abgesteckten Publikationen versammelt. Ein schönes Beispiel: seine Arbeit Die berufstätige Frau in Kreuzberg, 1975. Sie besteht aus zwei Fotoserien mit je 15 Bildern, die in der Ausstellung untereinander gehängt sind: oben sieht man den Alltag einer Arbeiterin, unten den Alltag einer Ärztin. Im Vergleich werden die unterschiedlichen Wohn- und Arbeitsverhältnisse umso deutlicher.

Ein weiteres Beispiel für seine Fähigkeit gesellschaftlich brisante Themen aufzugreifen, ohne plakativ zu werden, ist die Serie Frauen, die zwischen 1996 und 1999 entstanden ist. Sie zeigt Frauen, angezogen oder nackt, zum Teil als Fragment, oft ist nur der Rumpf ohne Kopf zu sehen. Es geht um Nacktheit in seiner Ambivalenz von Verletzlichkeit und Erotik wobei die Fotografien mit dem kunsthistorisch traditionell männlichen, begehrlichen Blick spielen, ihn aber nicht reproduzieren. Indem die Fotos der nackten Körper mit angezogenen Frauen und abweisenden Gesten kombiniert werden, verwahren sie sich vor einem einseitig voyeurisistischen Blick.

Die Arbeit in Serien ermöglicht ihm, verschiedene Motive nebeneinanderzustellen und dadurch ein Thema in unterschiedliche Richtungen auszuarbeiten. Das gelingt ihm besonders eindrücklich bei der Serie Ein-heit, für die er eigene Fotografien mit Motiven (Personen, Architektur und Texte), kombiniert, die er aus Zeitschriften oder Publikationen abfotografierte, so dass ein Konglomerat deutscher Geschichte entsteht, in dem NS-Zeit mit RAF und DDR verbunden sind.

„Grau ist für mich eine Farbe der Differenzierung“

Vitrine mit Publikationen von Michael Schmid, Foto: Anna-Lena Wenzel
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Vitrine mit Publikationen von Michael Schmidt, Foto: Anna-Lena Wenzel
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Ausstellungsansicht, Foto: Matthias Völzke
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Selbstporträt des Künstlers

Späte Würdigung in den letzten Jahren

Die Ausstellung wirbt damit, die erste Überblicksausstellung des Künstlers seit 25 Jahren zu zeigen, was stimmt und wiederum auch nicht stimmt, denn in den letzten zehn Jahren gab es mit der Ausstellung Lebensmittel im Martin-Gropius-Bau (2013) und der Ausstellung Kreuzberg – Amerika, die sich seiner Werkstatt für Photographie 1976 – 1986 widmete und 2016 in Berlin bei C/O gezeigt wurde, sowie der Teilnahme Schmidts bei der Berlin Biennale 2010, als seine Serie Frauen im öffentlichen Raum plakatiert wurde, mehrere umfangreiche Ausstellungen, die sein Oeuvre gewürdigt haben. Dennoch leistet sie Pionierarbeit, wenn sie Schmidts Werk von den Anfängen 1965 bis zu seinem Tod 2014 zusammenbringt. Mit dem Fotografieren begonnen hatte Schmidt mit 20 Jahren als er bei der Berliner Bereitschaftspolizei arbeitete. Er war ein Autodidakt, der jedoch schon nach wenigen Jahren selber Volkshochschul-Kurse gab und 1976 die Werkstatt für Photographie gründete. Im Ausstellungstext von C/O hieß es damals über sie: „Ihre programmatische Ausrichtung mit dem Fokus auf einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Fotografie war einzigartig und führte bereits zu einem frühen Zeitpunkt zu einem tiefgehenden Verständnis des Mediums als eigenständige Kunstform. Die Werkstatt für Photographie erlangte mit intensiver Vermittlungsarbeit durch Ausstellungen, Workshops, Vorträge, Bildbesprechungen, Diskussionen und spezialisierten Kursen allerhöchstes internationales Niveau.“ [3] Schmidt holte für die Werkstatt nicht nur renommierte, internationale Fotograf*innen nach Kreuzberg, er wurde selber zu einem wichtigen Lehrenden in Sachen Fotografie.

[1] So ungewöhnlich es aus heutiger Zeit klingen mag, dass sich ein Künstler mit einem konkreten Projekt an den Bezirk wendet, so ist es für Schmidt typisch, denn er schrieb bereits 1969 den Bezirksbürgermeister in Kreuzberg an, den er aus seiner SPD-Mitgliedschaft kannte, und erhielt im Anschluss den Auftrag einen Bildband zu erstellen, der das Viertel fotografisch dokumentiert. Der Band erschien 1973 und war schnell vergriffen, so dass bereits ein Jahr später eine zweite Auflage in den Druck ging. Schmidts Anfrage an den Bezirksbürgermeister von Neukölln, dem er dasselbe Projekt anbot, wurde jedoch 1971 abgelehnt. 1975 probierte er es erneut beim Senator für Soziales und Gesundheit mit der Serie Berufstätige Frauen und erhielt den Auftrag. Es folgte ein Jahr später der Auftrag im Wedding, für den er jede Straße und ihre Bebauung anhand der Bezirkskarte mindestens zweimal in beide Richtungen abgefahren ist, weil „sich durch die praktische Auseinandersetzung (der Dinge und ihrer Verhältnisse) die Summe der Sachkenntnisse und der Einsicht über den Bezirk vertieft.“ Michael Schmidt. Fotografien 1965-2014, hrsg.v. Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt, London, 2020, S. 32.

[2] Janos Frecot: Michael Schmidts Berlin zwischen Mauerbau und Mauerfall, in: Michael Schmidt. Fotografien 1965-2014, S. 42.

[3] https://www.co-berlin.org/kreuzberg-amerika-ausstellung-berlin. Die Ausstellung war Teil eines dreiteiligen Projektes von C/O Berlin, dem Museum Folkwang Essen und dem Sprengel Museum Hannover. Zeitgleich präsentieren die drei Häuser die Geschichte, Einflüsse und Auswirkungen der Berliner Fotografie-Institution und ihrer Akteur*innen.

 

Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart

Michael Schmidt – Retrospektive. Fotografien 1965—2014, 23.08.2020 bis 17.01.2021

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