Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Be part of something special: Ein Porträt der Heidestraße in Slogans

25.05.2022
Der Anfang der Heidestraße zum Haupfbahnhof ist zugleich ihr totes Ende, diese Gleichzeitigkeit von Großspurigkeit und Trostlosigkeit prägt die ganze Straße, Fotos: Anna-Lena Wenzel
Der Anfang der Heidestraße zum Haupfbahnhof ist zugleich ihr totes Ende, diese Gleichzeitigkeit von Großspurigkeit und Trostlosigkeit prägt die ganze Straße, Fotos: Anna-Lena Wenzel

„So wird auch das Quartier Heidestrasse: ein Viertel voller Lebendigkeit, Kultur und Lebensfreude. Mit Menschen, die sich wohlfühlen und hier ihr Leben leben. Nachbarn, die sich hier zu Hause fühlen und das Quartier zu ihrem Kiez machen.“ Internetseite Quartier Heidestraße[1]

„Nun ist eine Bürostadt in Bahnhofsnähe entstanden, an die sich einfach nur Blöcke mit Wohnungen anschließen. Anders als ursprünglich geplant, sind die Besitzverhältnisse auch nicht kleinteilig, sondern es gibt nur zehn Investoren und keine Baugruppen. Die wenigen Sozialwohnungen, die fehlenden öffentlichen Treffpunkte und zu wenigen Parks werden auch nicht dazu beitragen, dass in dem Neubauviertel ein ‚Kiezgefühl‘ entsteht. Fazit: eine vertane Chance!“ Wedding Weiser[2]

Mit dem Bau der Europacity sollte die Heidestraße endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt werden, doch das Ergebnis ist umstritten: nicht nur wegen des hohen Verkehrsaufkommens, sondern auch wegen der gesichtslosen und hochpreisigen Investorenarchitektur, die hier Neubau neben Neubau geklotzt hat. Beginnen wir mit dem toten Ende der Straße gegenüber dem Hauptbahnhof: hier ist sie Sackgasse, es tummeln sich zahlreiche E-Roller auf der Straße und ein Hotel-Neubau, der mit Take your seat on our summery patio ins Innere lockt. Es folgen weitere Neubauten, die hoch hinausragen und große Unternehmen, wie KPMG, Total Energies oder 50hertz beherbergen. 50Hertz betreibt das Übertragungsnetz im Norden und Osten Deutschlands und sichert die Stromversorgung von rund 18 Millionen Menschen. Wir sind führend bei der sicheren Integration Erneuerbarer Energien, informiert das Unternehmen auf der Fensterscheibe.Hinter dem verglasten Bau folgt eine Tiefgarage und im Hintergrund erblickt man einen lang gestreckten Bau, die sogenannten Rieck-Hallen, die zum Museum Hamburger Bahnhof gehören. Kurz darauf kommt der Autoverkehr um die Ecke gebraust und wird von nun an die Straße dominieren. An einer Ecke befindet sich eine größere Baustelle mit provisorischen Bungalows. Ein Schild der Deutschen Bahn weist darauf hin, dass hier in drei Bauabschnitten die neue S-21 gebaut wird, die als Nord-Süd-Achse vom Nordring über die im Bau befindliche neue Station Perleberger Straße den Hauptbahnhof und den Potsdamer Platz hin zur Yorckstraße führen soll. Leider wird sich die geplante Inbetriebnahme Ende 2022 noch weiter nach hinten verschieben.[3] Der Block schließt mit einer improvisierten Architektur ab, in denen der Europa City Imbiss und daily warteg mit Döner und indonesischem Streetfood auf Kundschaft warte

Auf der gegenüberliegenden Seite ist das Deutsche Apothekerhaus in einen Neubau eingezogen. Hinter den Fenstern sind stylische Sitzgelegenheiten und eine Bibliothek auszumachen. Daneben befinden sich weitere Medizindienstleister wie Medios AG und OrthKluth sowie mit Remerge und Hypoport zwei Unternehmen aus der TechÖkonomie. Während sich Remerge als Growth specialistfor app businesses bezeichnet, ist Hypoportein Netzwerk von Technologieunternehmen für die Kredit-, Immobilien- und Versicherungswirtschaft. Daneben befindet sich mit MY.B (My Base und My Berlin) ein weiteres Bürogebäude, dass sich in besonderer Form an den Anforderungen und Wertvorstellungen moderner Arbeitswelten und Bürolösungen orientiert. Vielfältige, informelle Kommunikationszonen und eine großzügige, multifunktionale Lobby mit Café, Lounge und Coworking-Bereichen führen die Urbanität der Stadt in das Gebäude hinein. Ob es an den Nachwehen der Pandemie liegt, dass man weder drinnen noch draußen Menschen sieht?  

Im Neubau nebenan gastiert Die Autobahn. Eine für alle, undinformiert in Wort-Clouds über ihre Leitlinien und Aufgabengebiete: Landschaftspflege, Leitpfosten freischneiden, Gebäude reinigen, Straßenentwässerung, Arbeitsschutz verbessern, Gefahrenanalyse erstellen.

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Gegenüber befindet sich im Gewerbehof Heidestraße 46-52 ein größerer Komplex aus Altbauten und verschachtelten Gewerbeeinheiten, der hier schon stand, als alles herum noch Brache war. Hier geht es handfester und zugleich kreativer zu, hier gibt es zahlreiche alteingesessene Mieter*innen, wie den Baumaschinenverleih Boels, den Elektrogroßhandel Oskar Böttcher(Obeta) sowie ucm.agency, eine Agentur, die Personal für Events, Promotion und Messen vermittelt. Geht man auf dem Gelände umher, gibt es weitere Mieter*innen, wie Kodiak GmbH, Jackbe Nimble und Graft BrandLab, centralstudio (das diverse Architekturbüros beherbergt), und den Veranstaltungsort TraumaBarundKino. Passend dazu laden in einem Innenhof selbstgezimmerte Holzmöbel zum Verweilen ein. Man könnte sagen: Hier findet das urbane Leben statt, auf das sich die großen Immobilienentwickler beziehen.

Auf der Fassade von einem der Altbauten steht Haus Kunst Mitte und passend dazuwirbtaufdemBalkon im ersten Stock ein Banner für die Ausstellung Starkes Duo. Berliner Kunstprofessorinnen und ihre Meisterschülerinnen. „Das Haus Kunst Mitte ist ein Ausstellungshaus für nationale und internationale Gegenwartskunst mitten in Berlin“, heißt es auf der Internetseite und tatsächlich haben die früheren Eigentümer Manfred und Elisabeth Bartling verfügt (die das 1870 gebaute Haus z.T. in Eigenregie renovierten), dass es ausschließlich Mieter*innen beherbergt, die künstlerisch arbeiten oder Kunst zeigen. Das hat dazu geführt, dass Anna Havemann, die das Haus nun leitet, nicht nur in den eigenen Ausstellungsräumen Kunst zeigt, sondern auch dem Verein der Berliner Künstlerinnen 1867 für einen ermäßigten Tarif Räume im 4. Stock vermieten kann. Die weiblichen Mitglieder des Vereins haben hier die Möglichkeit, ihre Arbeiten zu zeigen. Damit wird an Zeiten angeknüpft, in denen die Heidestraße und das Haus Kunst Mitte ein trendiger Kunstort war. Das war 2006, als die Londoner Galerie Haunch of Venison herzog und zwei Jahre später René Block den Kunstraum Tanas und die Edition Block eröffnete. Beide sind lange weitergezogen bzw. haben aufgehört – genauso wie die spielhaus Morrison galerie und die fruehsorge galerie für zeichnung, deren Namen noch auf einer gelben Wand prangen. Einzig CF M (Cross Fit Mitte), das mit Dreams in Progress wirbt, als auch der Cycle Room sind geblieben (letztere bieten ein urbanes Indoor Cycling Concept an) sowie ein bio catering-Unternehmen und Knittel – Die Experten für Maler & Handwerk.

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Auch auf der gegenüberliegenden Seite kümmert man sich um die Optimierung des Aussehens. Es locken: Icono, Berlin Smile – Dental Clinic und Getimpulse. Letzteres bietet Effektives, zeiteffizientes Training mit Erfolgsgarantie & deinem eigenen EMS-Anzug an. Im Anschluss kann man sich bei Exclusive Coffee stärken, während im Allianz-Büro nebenan verraten wird, wie man am besten sein Geld anlegt, um entspannt zu bleiben.

Aufderanderen Seitewird noch eifrig gebaut. Coming soon: Urban Loft, heißt es auf dem Bauzaun. Und ein Stück weiter: Be part of something special. An einer Ampel hängt ein Zettel, auf dem eine Polnische Möbel Manufaktur alles aus einer Hand anbietet: Kinderzimmer, Küchen, Badezimmer, Einbauschränke, Maßanfertigung.

Gegenüber öffnet sich mit dem großzügigen Otto-Weidt-Platz der Blick zum Kanal, den man auf einer gelben Fußgänger-Brücke überqueren kann. Einer der letzten DDR-Grenztürme steht direkt am Ufer der anderen Seite und erinnert daran, dass hier – durch den Spandauer Schifffahrtskanals – die Grenze zwischen Ost- und Westberlin verlief. Diese unmittelbare Nähe zur Grenze auf der einen und die Bahngleise auf der anderen Seite erklären, warum das Gebiet um die Heidestraße so lange als innerstädtische Brache (oder Freiraum) existieren konnte.

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Weiter geht’s Richtung Norden, vorbei am Café Zuckersüß, der Fresh Tasty Bakery und unvermieteten Gewerbeflächen, die ein neues Zuhause für dein Business bieten: find your Coworking space here!

Auf Bannern wird mit einem Intelligenten Parkplatzleitsystem / Wlan und schnelles Mobilfunkstandard im gesamten Quartier / Smart-Home-Funktionen zur Steuerung von Heizung, Licht, Jalousien u.v.m. geworben. Daneben heißt es: Working environments für people with visions und Mix it like Berlin.

Auf einer Verteilerbox hat jemand Ketamine Bike gesprayt, während das Bauschild Eleganz am Quartiersplatz verspricht.

An zwei Häuserfassaden wurde das Versprechen Cooles Ambiente für urbanes Leben mit zweiStreet Art-Bildern in die Tat umgesetzt. DieTotal Tankstelle dazwischen (obwohl komplett modernisiert) ist jedoch verwaist. Im nächsten Neubau wird mit einem neuen Wohn-Konzept geworben: Compassions – 213 Appartements in 43 co-living flats. RENT NOW!, heißt es dort.Mit ziemlicher Sicherheit sind damit nicht die zahlreichen Bauarbeiter gemeint, die auf den etlichen Baustellen arbeiten. Hier entstehen Vielseitige Arbeitswelten für Weiterdenker; derInvestor und Projektentwickler CA Immo baut Urban Brenchmarks und wirbt mit Leben und Arbeiten am grünen Nordhafenplatz. In ein paar Jahren wirdder Campusder Das kann Bank hier einziehen. Auf dem Bauzaun zur Straße steht ein letzter Schriftzug: smart, offen, flexibel. Der GrünzugzumNordhafen könnte genau das sein, wenn der Straßenlärm nicht wäre. Kein Mensch sitzt am Ufer.

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[1] https://quartier-heidestrasse.com/
[2] 5 Dinge zur Europacity, 12.1.2021, https://weddingweiser.de/5-dinge-zur-europacity/
[3] https://www.deutschebahn.com/pr-berlin-de/aktuell/presseinformationen/Projekt-City-S-Bahn-Pandemie-verzoegert-Inbetriebnahme-des-ersten-Teilstuecks-7325700

Haus Kunst Mitte: STARKES DUO
29. April – 24. Juli 2022, Mittwoch, Samstag, Sonntag: 12 – 18 Uhr, Donnerstag und Freitag: 12 – 20 Uhr

Verein der Berliner Künstlerinnen 1867: Die Auswilderung wird verschoben
Neue Arbeiten von Ricoh Gerbl, Ingeborg Lockemann / Elke Mohr im Projektraum
1. – 29. Mai 2022, Sa/So 14-18 Uhr, Sonntag, den 29. ist die Ausstellung von 14:00 bis 19:00 Uhr geöffnet, um 16 Uhr gibt es eine Lesung mit Ricoh Gerbl.

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