Die Stadt Berlin ist eine Meisterin des Geschichtenerzählens. Sie berichtet von Zeiten und Orten, von Menschen und Ereignissen. Gelegentlich ändert sie ihre Perspektive, korrigiert sich; nur verstummen, das tut sie nicht. Zahllose Erzählungen türmen sich im Erinnerungsraum der Stadt auf.
Eine dieser vielen Erzählungen ist jene der Märzrevolution von 1848, die sich überwiegend im heutigen Ortsteil Mitte abspielte und nicht weniger war als der Anfang der deutschen Demokratiegeschichte. Die Geschichte entfaltet sich in mehreren Kapiteln, über verschiedene Orte verteilt – und sie ist noch lange nicht auserzählt.
1. Kapitel: Wachsende Unzufriedenheit
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verändert sich das Leben in Berlin rasant; die preußische Residenzstadt befindet sich auf dem Weg zur modernen Großstadt. Als Ausdruck des sich herausbildenden selbstbewussten Bildungsbürgertums entstehen in der Innenstadt repräsentative, klassizistische Bauten sowie neue Orte der Wissenschaft und Kultur, die noch heute als architektonische Spuren dieser Entwicklung gelesen werden können: 1810 beginnt an der Universität zu Berlin, der heutigen Humboldt-Universität, das allererste Semester, 1821wird das Königliches Schauspielhaus – das heutige Konzerthaus Berlin – mit Goethes „Iphigenie auf Tauris“ eingeweiht und 1830 öffnet das Alte Museum, damals Königliches Museum genannt, seine Pforten für kunstbegeisterte Besucher*innen. Der Architekt Karl Friedrich Schinkel, nach dessen Plänen das Schauspielhaus und das Alte Museum entstehen, entwirft u. a. auch die Pläne für die Friedrichswerdersche Kirche (1824-1831) und für die heutige Neue Wache, damals Haupt- und Königswache genannt(1816-1818) – Bauten, die noch heute das Flair der historischen Mitte prägen.
Parallel hierzu entsteht vor den damaligen Toren der Stadt, nördlich des Oranienburger Tors, das sogenannte Berliner Feuerland mit seinen Fabriken. Hierzu gehören die Eisengießereien von Franz Anton Egells und August Borsig. 1841 verlässt die Dampflokomotive „Borsig 1“ die Fabrikhalle an der Chausseestraße 1, Ecke Torstraße und behauptet sich im Wettkampf gegen die angelsächsische Konkurrenz. Ende der 1840er Jahre arbeiten bereits über 1000 Menschen für Borsig.
Doch die frühe Industrialisierung bringt nicht nur neue Arbeitsplätze, sondern auch zahlreiche soziale Probleme mit sich: Ein großer Teil der rasant wachsenden Bevölkerung Berlins lebt an oder unterhalb der Armutsgrenze, unter den Gesell*innen, Arbeiter*innen, Dienstbot*innen und kleinen Selbstständigen wächst die Not und damit die Unzufriedenheit mit den politischen und sozialen Zuständen. Es kommt zu ersten Streiks, einige Arbeiter beginnen sich zu organisieren.
Auch andernorts in Europa wächst der Unmut über den feudalen Status Quo. Im Februar 1848 veröffentlichen Karl Marx und Friedrich Engels in London ihr Manifest der Kommunistischen Partei, in dem sie die ausbeuterischen Lebens- und Arbeitsbedingungen anprangern.
Nicht nur unter den Arbeiter*innen, auch in wohlhabenden Kreisen entwickelt sich im Deutschen Bund und im Europa dieser Zeit eine kritische Öffentlichkeit. Vielerorts werden Rufe nach Verfassungen, Presse- und Versammlungsfreiheit laut. Infolge der Februarrevolution in Paris und der Ausrufung der Zweiten Französischen Republik sind die liberal und demokratisch ausgerichteten Kräfte auch im Deutschen Bund bald nicht mehr aufzuhalten. In Berlin finden sich seit dem 6. März 1848 fast täglich Demonstrierende im Tiergarten – auf dem Gebiet des heutigen Haus der Kulturen der Welt – zusammen, um gegen die repressive Politik des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. zu protestieren. Ein Katalog von Forderungen wird verfasst und an den Herrscher herangetragen: Enthalten sind die Forderungen nach freiem Versammlungsrecht, Presse- und Redefreiheit, allgemeinem und freiem Wahlrecht, Geschworenengerichten mit unabhängigen Richtern und der Gründung einer allgemeinen deutschen Volksvertretung für die 38 Staaten des Deutschen Bundes.
2. Kapitel: Die Kämpfe des 18. März
Am Nachmittag des 18. März ziehen zahlreiche Menschen, darunter viele Arbeiter*innen aus den Vorstädten und überwiegend junge Menschen, durch das Brandenburger Tor und finden sich auf dem Berliner Schlossplatz ein, um dort vor der königlichen Residenz auf die Antwort Friedrich Wilhelms IV zu warten. Um die bereits mehrere Tage andauernden Proteste in Schach zu halten, ist bei der friedlichen Zusammenkunft Militär anwesend. Der König gewährt zwar Pressefreiheit und macht weitere Zugeständnisse, doch als das Militär gegen 14:30 Uhr zwei Schüsse abfeuert, gerät die Situation außer Kontrolle. Innerhalb kürzester Zeit werden im Zentrum über 900 Barrikaden errichtet, mit denen sich die Menschen gegen eine wachsende Zahl von Soldaten verteidigen.
An wichtigen Standorten ehemaliger Barrikaden erinnern seit 1998 Gedenktafeln an die Geschehnisse. Die Tafeln, mitfinanziert von der Bürgerinitiative Aktion 18. März, wurden anlässlich des 150. Jahrestages der Revolution vom Bezirk Mitte angebracht und von dem Pankower Künstler Manfred Butzmann (* 1942) gestaltet.
Ein Kampf der Mittellosen
Rund 85% der Aufständischen kommen aus der besitzlosen Schicht – es sind vor allem Menschen ohne anerkannte politische Stimme, die diesen Kampf führen, der heute als Beginn der deutschen Demokratie gilt: Arbeiter*innen, Handwerker*innen, Dienstbot*innen, Obdachlose. Aber auch Angehörige oberer Schichten. Einige von ihnen werden mit den Gedenktafeln namentlich erinnert. Da ist zum Beispiel Levin Weiß, Student aus Danzig, der Teil der Barrikade an der Rathausstraße 25 war, um dort gegen die vom Schlossplatz her angreifenden Truppen standzuhalten. Er fiel dem von der heutigen Rathausbrücke kommenden Beschuss zum Opfer.
Und da ist der Arzt Rudolf Virchow, an dessen Kampf eine Tafel am Südwestpfeiler der Marschallbrücke erinnert, wo er ein Eindringen der Angreifer über die damalige Ziehbrücke in die Luisenstraße verhindern wollte.
In der Friedrichstraße 62 wird an die Barrikade erinnert, in deren unmittelbarer Nähe der Referendar und Landwehroffizier Gustav von Lensky auf Seiten der Aufständischen kämpfte und starb.
Aber auch Unbeteiligte fielen den Kämpfen zum Opfer. So berichtet eine Tafel an der Straßenecke Jägerstraße/Oberwallstraße: „Hier befand sich in unmittelbarer Nähe der vormaligen Zeitungshalle von Gustav Julius eine Barrikade. Die Angreifer aus Richtung Gendarmenmarkt schossen in die Fenster und töteten dabei zwei Angestellte.“ Eine der beiden Toten ist die 32-jährige Karoline Kleinfeld, die gerade ans Fenster tritt, als die vom Dach der Zeitungshalle angegriffenen Soldaten ihr Feuer nach oben richten. Der zweite Tote ist vermutlich der Wirt St. E. Klett.
An der Roßstraßenbrücke wurde der 25-jährige Jurastudent Herrmann von Holzendorff von Soldaten gefangen genommen und erschossen, wie eine Tafel an der Brücke berichtet.
Das Beispiel des Gedenkens an den Jugendlichen Ernst Zinna (1830-1848) veranschaulicht, dass Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum nicht nur an Vergangenes erinnern, sondern dieses auch interpretieren: In einer am 14.3.1948 an seinem ehemaligen Wohnhaus in der Jägerstraße 4b angebrachten Gedenktafel wird Zinna als Kämpfer geehrt, der für die Einheit Deutschlands gestorben sei. Dies ist im Zusammenhang mit dem Zweiten Deutschen Volkskongress zu sehen, der, dominiert von der SED, am 17./18. März 1948 ein Volksbegehren zur Herstellung der deutschen Einheit beschloss. Das Datum ist kein Zufall: Die SED verstand sich als Erbin der Märzrevolution und vereinnahmte sie als Moment des Gründungsmythos der DDR. Über Zinnas Motive zur Teilnahme an der Revolution sind allerdings keine Quellen überliefert.
20 Jahre später, 1968 – die DDR hat den Anspruch auf einen gesamtdeutschen Staat aufgegeben – erfährt Zinnas Motivation in einer Inschrift an der Jägerstraße 73-76, gegenüber seinem ehemaligen Wohnhaus, eine Uminterpretation: Er wird nun zum Kämpfer für die sozialistische DDR stilisiert. Der Text wurde 1990 entfernt. Ebenfalls im Jahr 1968 wird am Standort der historischen Barrikade eine von dem Grafiker und Maler Arno Mohr (1910-2001) gestaltete Gedenktafel für Zinna enthüllt, die sich seit 1999 in der Jägerstraße 63c befindet.
Weiß, Zinna und von Holzendorff sind nur drei der 183 zivilen Opfer, die in den wenigen Stunden im März 1848 ihr Leben lassen. Am 19.3. ordnet König Friedrich Wilhelm IV. den Rückzug der Soldaten an, deren Anzahl jene der Aufständischen bei weitem übertraf.
Die Särge der Toten werden vor dem Deutschen Dom am Gendarmenmarkt aufgebahrt und am 22. März weiter zum Schloss getragen, wo der König sich vor ihnen verneigen muss. Einen Tag zuvor hat er sich zur deutschen Einheit und Freiheit bekannt und das bereits am 18. März gegebene Verfassungsversprechen bekräftigt.
Die Märztoten werden in einem Trauerzug, an dem ein Viertel der Berliner Bevölkerung teilnimmt, auf den (heutigen) Friedhof der Märzgefallenen im gerade entstehenden Volkspark Friedrichshain gebracht. Hier werden insgesamt 255 Tote, unabhängig von ihrer Konfession beigesetzt.
Der Friedhof in Friedrichshain ist heute wesentlicher Erinnerungsort der Märzrevolution.
3. Kapitel: Umbenennung mit Hindernissen
Und in Mitte, wo sich die Revolution ereignete?
Ein Blick auf die Online-Karte verheißt: Es gibt im Bezirk nicht nur den Platz des 18. März vor dem Brandenburger Tor, sondern auch einen Platz der Märzrevolution. Er befindet sich angeblich auf dem schmalen Streifen zwischen dem Maxim Gorki Theater und der Humboldt-Universität. An den Stufen des Theaters, das sich in dem zwischen 1823 und 1827 errichteten klassizistischen Gebäude der Singakademie befindet, erinnert eine Tafel an die Preußische Nationalversammlung. Diese tagte hier 1848, bevor sie in die Stadt Brandenburg an der Havel verwiesen und im Dezember durch eine königliche Order aufgelöst wurde.
An die Revolution, die zwar nicht in einer demokratischen Verfassung mündete, deren Forderungen aber dennoch teilweise in die revidierte Preußische Verfassung von 1850 einflossen, erinnert am Platz der Märzrevolution dagegen nichts. Keine Tafel, kein Straßenschild. Lediglich auf der Rückseite des Denkmals für Heinrich Heine ist eine Barrikadenszene abgebildet.
Wie kam es dazu? Die Bürgerinitiative Aktion 18. März, die sich seit 1978 für die Erinnerung der Märzrevolution einsetzt, forderte Ende der 90er Jahre die Umbenennung des Platzes vor dem Brandenburger Tor in Platz des 18. März 1848. Während die Bezirksverordnetenversammlung von Mitte und der Rat der Bürgermeister für das Vorhaben stimmten, lehnte es der CDU/SPD-Senat ab. Durch einen Verwaltungsakt wurde stattdessen ein, wie es im Amtsblatt vom 4.3.1998 heißt, „noch zu gestaltender Platz“ neben dem Gorki Theater in Platz der Märzrevolution benannt.
Da der Platz jedoch nie als solcher gestaltet wurde, konnte der Verwaltungsakt der Benennung nie Bestandskraft erlangen. Bis heute ist in keiner amtlichen Karte ein Platz der Märzrevolution verzeichnet. So konnten auch keine offiziellen Straßenschilder installiert werden. Lediglich eine Tafel zur Erinnerung an die Nationalversammlung wurde enthüllt. Um die Benennung des Platzes wird noch immer gerungen – die Bürgerinitiative hält die Straßenschilder seit Jahren zur Aufstellung bereit.
Unterdessen entschloss man sich im Jahr 2000, dem Platz vor dem Brandenburger Tor, der damals noch auf der Grenze der beiden eigenständigen Bezirke Mitte und Tiergarten lag, offiziell den Namen Platz des 18. März zu geben. Die fehlende Jahreszahl war ein Kompromiss, der auf einen Vorschlag des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse zurückgeht. Dadurch konnte nicht nur der Märzrevolution gedacht werden, sondern auch der ersten freien Volkskammerwahl der DDR, die am 18.3.1990 stattfand. Der Platz steht somit für zwei bedeutende Ereignisse der deutschen Demokratiegeschichte.
4. Kapitel: Zu zaghaftes Erinnern?
Straßen- und Platznamen sind Denk- und Erinnerungsmale, die Auskunft geben über die Erinnerungskultur einer Stadt. Sie erinnern an vormalige Nutzungen: Die Eiergasse im Nikolaiviertel, eine der ältesten Straßen Berlins, erinnert beispielsweise an den ehemaligen Verkaufsplatz für Hühnereier; der Hausvogteiplatz erinnert an das königliche Hofgericht, das ab 1750 an Stelle des heutigen Platzes stand. Oder an bedeutende Personen: Der Bona-Peiser-Weg gedenkt Bona Peiser (1864-1929), der ersten Volksbibliothekarin Deutschlands; der Litfaß-Platz erinnert an Ernst Litfaß (1816-1874), den Erfinder der Litfaßsäule. Die Namen können aber eben auch auf wichtige Ereignisse wie den Aufstand von 1953 hinweisen, wie bei der Straße des 17. Juni. Sogar auf Besitzverhältnisse wird aufmerksam gemacht: Die Neumannsgasse erinnert an Peter Neumann, der im 18. Jahrhundert hier ein Haus besaß.
All diese Straßen- und Platznamen sind Teil der vielschichtigen Erzählung der Stadt. Zusammen mit Denkmälern, Skulpturen, Ehrengräbern, Informationsstelen und öffentlichen Bauten geben sie Auskunft darüber, woran sich eine Stadt erinnern möchte und woran sie sich erinnern muss. Darüber hinaus sind sie ein Spiegel des jeweiligen Zeitgeists und vor allen der sich verändernden Deutungshoheiten. Dabei ist klar: Der Platz des öffentlichen Raumes ist begrenzt, es können nicht unendlich viele neue Erinnerungsmale hinzukommen. Dass die für die Demokratiebewegung so bedeutende Märzrevolution in Mitte verhältnismäßig wenig Raum einnimmt, ist dennoch erstaunlich. Denn: Keine Straße in Mitte trägt den Namen eines Revolutionärs oder einer Revolutionärin von 1848, einer der beiden der Märzrevolution gewidmeten Plätze ist kein Platz und der zweite denkt sie nur mit.