Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Kunst an Kunst-unspezifischen Orten

24.09.2019
Vitrine im Bahnhof Gesundbrunnen. Foto: Silke Nowak

Der Projektraum Schneeeule wurde dieses Jahr mit dem Projektraumpreis ausgezeichnet und zeigt aus Anlass der Art Week eine Ausstellung an zwei Orten. Eine befindet sich in einer Vitrine am Bahnhof Gesundbrunnen.

Ein Porträt des Projektraumes Schneeeule

„Die Schneeeule ist eine gefährdete Spezies, und eine besonders anpassungsfähige. Als einzige Eulenart kann sie in der Arktis überleben.“ So wird in einem post des Berlin Art Week Magazin der Projektraum Schneeeule eingeführt. Silke Nowak hat ihn zusammen mit Matti Bergmann 2012 gegründet und betreibt ihn mittlerweile alleine. Der Projektraum wird genannt, weil er einer von 20 Projekträumen und -Initiativen ist, die dieses Jahr mit dem Projektraumpreis ausgezeichnet wurde, der von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa vergeben wird. Alle Ausgezeichneten steuern Aktivitäten zur Art Week bei – in sehr unterschiedlichen Formaten. So hat Silke Nowak eine Ausstellung in zwei Vitrinen und ein Picknick im Volkspark Humboldthain organisiert, andere laden zu Performances, Kurzfilmabenden oder Ausstellungen ein.

Das Besondere an der Schneeeule ist, dass sie keinen festen Raum hat, sondern nomadisch ist und sich immer wieder an neuen Orten niederlässt. „Weil es heutzutage so schwierig ist, einen bezahlbaren Raum zu finden in Berlin, hat es sich ergeben, dass ich so hin- und herspringe und unterschiedliche Orte bespiele“, sagt Nowak und fährt fort: „Wenn ich mich durch die Stadt bewege, dann gucke ich immer ein bisschen, wo könnte was gehen, wo ist irgendwas frei, was auch bezahlbar ist. Bei meiner Suche nach Orten, lass ich mich ein bisschen leiten – und halte meine Augen offen. Daran schätze ich, dass ich sehr unterschiedliche Räume bespiele. Das ist toll, weil man mit der Kunst auf den Ort reagieren kann und ganz spezifische Ausstellungen realisieren kann.“

Den Anfang machte eine Zwischennutzung in einem Einkaufszentrum am Alex. Das Berlin Carré mit DDR-Vergangenheit wurde inzwischen umgebaut. „Wir haben die letzten Monate der ursprünglichen Nutzung noch mitgekriegt und dort erste Ausstellungen und Veranstaltungen durchgeführt.“ Es folgten mehrere Ausstellungen an unterschiedlichen Orten: in einer Bar im Wedding, im Paracelsusbad in Reinickendorf oder in den Räumen eines Bildungsvereins in Kreuzberg. Zweimal war sie auch zu Gast in anderen Kunsträumen wie der Galerie Kai Hoelzner oder im ACUD MACHT NEU, die nächste Station ist ein Damenschneider in Wilmersdorf, dort wird Ende Oktober die nächste Ausstellung eröffnet.

Picknick im Humboldthain zur Art Week. Die Decken sind eine Arbeit von Michael Kleine, Foto: Anna-Lena Wenzel

Kunst auf dem Bahngleis

Für die aktuelle Ausstellung hat Silke Nowak zwei Vitrinen in unterschiedlichen Berliner U-Bahnhöfen angemietet. Eine davon befindet sich auf dem Gleis der Linie U8 im Gesundbrunnen. Sie ist sechseckig, von allen Seiten einsehbar und nur ein paar Quadratmeter groß. Als Reaktion auf diese spezifische Situation, hat Silke Nowak beschlossen, Objekte und Skulpturen auszustellen, die bis unter die Decke reichen. Unter anderem gibt es ein rosa Bein mit roten Fußnägeln aus Pappmaché, einen Kopf mit türkisfarbenem Hals, rosa Käppi und gelbem Nasenring ebenfalls aus Pappmaché, vier Skulpturen aus Ton, wobei eine grau lasiert ist und von einem Eisbärenfoto „dekoriert“ wird.

Verbindendes Element der Werke, die von drei unterschiedlichen Künstler*innen sind, sind Materialien, die uns täglich begegnen. „Es geht nicht um perfekte Oberflächen, sondern darum, Themen künstlerisch zu erfassen, zu formen und dabei auch das Gemachtsein der Dinge mitauszustellen“, heißt es dazu im Pressetext.

Nicht nur die Ausstellungsfläche auch die Umgebung ist eine andere, als in einem klassischen White-Cube. Steht man vor der Vitrine, sieht man den Hintergrund immer mit: die ein- und abfahrenden U-Bahnen und ihre Fahrgäste, den hell erleuchteten Fotoautomaten und die digitalen, schnell wechselnden Werbetafeln. „Es ist eine spezifische Situation, wo wahnsinnig viele Leute vorbeikommen, die nicht für die Kunst kommen, aber die im besten Fall auf sie aufmerksam werden.“ Silke Nowak reizt genau das – dass die Kunst ihre Blase verlässt und für Menschen sichtbar wird, die normalerweise keine Galerien oder Museen betreten.

Silke Nowak berichtet, dass beim Aufbau zwei Obdachlose vorbei kamen, die beide sehr lange geschaut hätten. Sie hätte beide angesprochen und gefragt, wie sie die Vitrine finden. Der erste hätte gemeint, er fände das gut, aber etwas mehr würde nicht schaden, es sollte auf jeden Fall noch Lametta reingehängt werden. Der zweite fand es okay, aber wünschte sich mehr Farbe. Er meinte, für Kinder wäre das super, wenn er fünf wäre, dann hätte er sich gefreut, aber jetzt nicht mehr so. Er kam dann später noch mal zurück mit einem Zeitungspost über eine blinde Künstlerin, den er ihr geschenkt hätte, erzählt Silke Nowak.

Sie wartet hier selber öfter auf die U-Bahn, weil sie in der Nähe wohnt. Sie hat beobachtet, dass es früher mehr Vitrinen gab, die von Boutiquen als Schaufenster genutzt wurden. Heute seien es eher Projekträume, die die Vitrinen als Ausstellungfläche nutzen würden, wie in der Birkenstraße, wo es von 2015 bis 2019 das Projekt Vitrine 01 gab, oder im Bahnhof Kleistpark, wo zuerst Platform-Berlin auf ihrer Webseite mit 24-stündigen Öffnungszeiten an sieben Tagen der Woche geworben hat und nun Isolde Nagel mit ihrem Projekt A TRANS eine Vitrine als Ausstellungsfläche nutzt.

Die Vitrine im Kleistpark mit Arbeiten von Eva Funk, Cornelia Glowniewski und Christian Wollert, Foto: Silke Nowak

Erweitertes Kunstverständnis 

Das Erreichen eines erweiterten Publikums ist nur eines der Anliegen, die die Kuratorin, die selber auch Künstlerin ist, verfolgt. Zentral ist für sie, Ausstellungen mit Künstler*innen aus unterschiedlichen Szenen und mit unterschiedlichen Hintergründen zu machen. So hat sie für die aktuelle Ausstellung Künstler*innen mit und ohne Behinderung eingeladen. Zweitere hat sie in der Thikwa-Werkstatt für Theater und Kunst bzw. im Thikwa Theater kenneglernt, das 2019 “für seine herausragende Beschwörung von gesellschaftlicher Diversität bei gleichzeitiger Lust an künstlerischer Radikalität” mit dem Theaterpreis ausgezeichnet wurde. „Es gibt ja eben die Künstler*innen mit Behinderungen, die in der Galerien-Szene oder im institutionellen Kontext nur in Ausnahmefällen sichtbar werden. Und wenn, dann wie im Fall von Secret Universe nicht im Kontext mit anderen Künstler*innen. Oder eben in eigens dafür ausgerichteten Galerien wie Delmes und Zander.“ Dieser Separierung möchte sie entgegenwirken. Bewusst kombiniert sie ältere Künstler*innen, die oftmals in Vergessenheit geraten sind, mit jüngeren Positionen und Künstler*innen, die von einer Galerie vertreten werden. „Es gibt so viele unsichtbare Schwellen und Machtverhältnisse im Kunstfeld“, beklagt sie und ergänzt eine Beobachtung, die sie zur Art Week gemacht hat: „Gerade habe ich auf der Ankündigung der Vitrinen-Ausstellungen auf der Seite der Berlin Art Week geschaut. Ich hatte in einer ersten E-Mail die Werke von Christian Wollert und Cornelia Glowniewski geschickt, später noch von Eva Funk und Quirin Bäumler. Möglicherweise ging die erste E-Mail verloren oder aber die Werke der Künstler*innen mit Behinderung passen nicht so richtig ins Bild und wurden deshalb nicht für die Seite ausgewählt. Das ist ärgerlich.“

Eine Künstlerin, die ebenfalls aus dem Kanon herausgefallen ist und die sie schon häufig ausgestellt hat, ist Verena Pfisterer, die sie noch vor ihrem Tod kennengelernt hat. Pfisterer hat zusammen mit Franz Erhard Walther studiert und war auch persönlich mit ihm befreundet, nach ihrem Umzug nach Berlin hat sie sich dann aber für ein Psychologiestudium entschieden und lange Zeit ihr Kunstmachen nicht mehr öffentlich gezeigt. Die Entscheidung gegen die Kunst hatte sie auch aus politischen Gründen getroffen – weil sie direkter mit Menschen arbeiten und etwas bewirken wollte. Dennoch wird ihre Geschichte oftmals als ein Scheitern erzählt. Nowak hat Zeichnungen, Filme und Installationen von ihr ausgestellt – auch aus einem feministischen Ansatz heraus, denn es sind häufig Künstlerinnen, die durch ihre teils ephemeren, naiv-wirkenden und partizipativeren Ansätze vom Kunstfeld ignoriert wurden. Nowak jedenfalls geht das Elitäre des Kunstfeldes ab. Ihr Interesse gilt der Querung der Szenen – und dem Entdecken und Öffnen weiterer kunstunspezifischer Räume.

Die Ausstellung Vitrine 1 auf dem Bahnsteig der Linie U8 im U-Bahnhof Gesundbrunnen mit Arbeiten von Quirin Bäumler, Mereika Schulz und Christian Wollert läuft noch bis zum 27.9.2019.

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