Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Leidenschaftliche Buchmacher*innen I: Reprodukt, Kadmos, Mitte/Rand

28.07.2020
Illustration des Reprodukt Verlages von Anne Becker

Drei Verlage mit Sitz in Mitte: Kadmos, Mitte/Rand und Reprodukt. Alle sind mit Leidenschaft für die Sache dabei und Vermittler*innen im besten Sinne: Sie begleiten die Buchentstehung, organisieren deren Vertrieb und sorgen für Öffentlichkeit und Resonanz.

Reprodukt

Gottschedstraße 4 / Aufgang 1, Wedding
Webseite: https://www.reprodukt.com/
Inhaber: Dirk Rehm

Selbstbeschreibung: Der Verlag Reprodukt wurde 1991 gegründet, und veröffentlicht als konzernunabhängiger Verlag Comics aus dem gesamten Spektrum des Mediums. Bei einem Großteil der Veröffentlichungen stehen Person und Erfahrungen des Autors im Blickpunkt. Auch wo Fiktion entsteht, werden autobiografische Bezüge erkennbar, bleibt die eigene Perspektive der wichtigste Ausgangspunkt. Auf sorgfältige Übersetzung und gute Ausstattung wird großen Wert gelegt. Reprodukt veröffentlicht etwa 40 Titel im Jahr, davon ungefähr ein Drittel Comics für Kinder.

Anna-Lena Wenzel: Wie sind Sie zum Verlag gekommen?
Dirk Rehm: Ich war begeisterter Leser und habe Ende der Achtziger die amerikanischen Independent Comics von Autor*innen meiner Generation für mich entdeckt: Julie Doucet, Debbie Drechsler, Dan Clowes, Chester Brown, Los Bros Hernandez… Allesamt Autor*innen, deren Kultur und Lebenswelt ich teilen konnte und zu deren Blick auf die Welt ich eine große Übereinstimmung empfand. Bis in die Neunzigerjahre gab es hierzulande kein Forum für diese Autor*innen, und ich hatte das Bedürfnis, mich daran zu versuchen. Die amerikanischen Verlage, in denen diese Comics erschienen sind, allen voran Drawn and Quarterly und Fantagraphics, waren ebenfalls klein und inhabergeführt, boten  fast ein familiäres Umfeld. Das war also ein weiteres Vorbild und ließ die Idee machbar erscheinen…

ALW: Was für einen Hintergrund bringen Sie mit?
DR: Ich habe an der HfBK Hamburg visuelle Kommunikation studiert und hatte dabei die Möglichkeit, in verschiedenen Bereichen der Buchproduktion Erfahrungen zu sammeln. Im Prinzip bin ich aber Autodidakt, ich lerne aus Fehlern (hoffe ich).
ALW: Wie viele Mitarbeiter*innen haben Sie?
DR: Aktuell festangestellt eine Redakteurin, eine Vertriebsleiterin, zwei Herstellerinnen und zwei Kolleg*innen für Presse, Marketing und Veranstaltungen. Und drei Minijobber*innen und natürlich viele (feste) freie Mitarbeiter*innen für Übersetzung, Lettering, Redaktion, Herstellung…
ALW: Wie kommen Sie zu neuen Autor*innen/ Zeichner*innen?
DR: Deutsche Autor*innen lernen wir in der Regel über unser Umfeld kennen: Veranstaltungen, Empfehlungen unserer Autor*innen, über soziale Medien… oder alles zusammen. 
ALW: Wie ist das Verhältnis von Anfragen und Absagen? 
DR: 99,9% zu 0,01%, fürchte ich. Wir bekommen praktisch täglich Anfragen, veröffentlichen im Jahr aber nur eine Handvoll Comics von deutschen Autor*innen und diese wenigen sind in der Regel Folgeprojekte der Künstler*innen, die bereits etabliert sind. Aktuell arbeiten wir an zwei neuen Comics von Autoren – Daniel Hermann und Matthias Lehmann – die wir zuvor noch nicht veröffentlicht haben. Wir sind in dieser Hinsicht aber sehr zurückhaltend, vor allem weil es nicht nur künstlerisch sondern auch redaktionell einen hohen Arbeitsaufwand bedeutet.
ALW: Haben Sie die Corona-Auswirkungen gespürt?
DR: Ja, speziell im März, wo es mit der hohen Unsicherheit auch zu einem Einbruch der Verkaufszahlen kam. In der Folge war es aber besonders großartig, die fantastische Unterstützung unserer Leser*innen zu erfahren. Im April gab es sehr viele Bestellungen und Austausch über unsere Website, das hat Mut gemacht und wirkt als Motivation mit Sicherheit noch weit  über diese seltsame Zeit hinaus…!
ALW: Sie haben vor kurzem den Deutschen Verlagspreis 2020 bekommen und damit eine Prämie von 20.000 Euro. Was machen Sie mit diesem Geld?
DR: Das Geld fließt in neue Projekte vor allem deutscher Autor*innen, mit denen wir aktuell etwas mutiger agieren können.
ALW: Ich habe gesehen, dass Sie Veranstaltungen u.a. in der Bibliothek im Luisenbad durchführen. Wie wichtig ist Ihnen die lokale Verbundenheit zu Ihrem Kiez?
DR: Sehr wichtig, aber wir denken natürlich über den Kiez hinaus und führen auch gerne Veranstaltungen etwa in unserem Laden in der Kastanienallee, in Kreuzberg, Friedrichshain oder Neukölln durch. Die räumliche Nähe der Bibliothek im Luisenbad ist natürlich sehr praktisch, der dortige Puttensaal bietet eine großartige Atmosphäre und das Team der Bibliothek ist über die Maßen gastfreundlich und kümmert sich immer ganz rührend um uns. Wir fühlen uns sehr willkommen und sind immer sehr gern zu Gast: In Kürze wieder mit dem neuen ComixBad, einer Verlagsausstellung in den Bibliotheksräumen.
ALW: Was schätzen Sie an Ihrer unmittelbaren Umgebung?
DR: Das ExRotaprint- Gelände im Wedding ist das ideale Umfeld für uns! Es gibt einen tollen Veranstaltungsraum, die „Glaskiste“, eine ausgewogene Mischung aus sozialen und künstlerischen Projekten, Handwerk, Druckwerkstätten und eine wunderbare Kantine, die auch ein toller Treffpunkt ist. Ich denke, besser hätten wir es nicht treffen können, ExRotaprint ist ein großartiges Projekt!

Charlotte Böttjer und Wolfram Burckhardt in den Räumen des Kadmos Verlags

Kulturverlag Kadmos

Waldenserstr. 2-4, Moabit
Webseite: https://www.kulturverlag-kadmos.de/
Verlagsleitung: Wolfram Burckhardt
Mitarbeiter*innen: 4

Selbstbeschreibung: Im Winter 1995 gegründet, sieht sich der Verlag in der Tradition der griechisch-abendländischen Mythologie um den phönizischen Königssohn Kadmos, der auf der Suche nach seiner Schwester, der von Zeus geraubten Europa, das Alphabet nach Griechenland brachte und die Stadt Theben gründete. Das Verlagsspektrum umfasst ein belletristisches Sachbuchprogramm aus den Bereichen Kultur-, Kunst-, Medien-, Technikgeschichte und -wissenschaft sowie Geschichte, Politik und Philosophie. Derzeit erscheinen pro Jahr im Verlag durchschnittlich 40 Titel.

In einem ehemaligen Pferdebahnhof, an den heute noch Fotos im Flur erinnern, befinden sich die Verlagsräume des Kadmos-Verlages. Das umgebaute Gebäude, das heute Büros in Coworking-Manier verbindet, ist seit 2008 Sitz des Verlags. Betritt man den Büroraum, steht man sofort mittendrin in Büchern, Schreibtischen, Unterlagen. Für das Gespräch gehen wir in ein gemütliches Café nebenan. Schon auf dem Weg sind wir sofort im angeregten Austausch über die Corona-Zeit. Das Stichwort ist ein wunder Punkt für den Verleger und seine Mitarbeiterin Charlotte Böttjer, weil die Buchmesse in Leipzig ausfällt, auf denen sie ihre neuen Bücher vorstellen und die Aufmerksamkeit nutzen wollten, die ihnen aufgrund ihres Deutschen Verlagspreises2019 zugekommen war. „Unser erster Roman ist aus diesen Grund etwas untergegangen“, kommentiert Burckhardt. Hinzu kommt, dass auch zahlreiche Design-, kleinere Buch-Märkte und Straßenfeste abgesagt wurden, auf denen der Verlag sonst seine Kalender verkauft, und Vertreterreisen zu Buchläden wegfallen. Besonders schade ist zudem, dass das 25-jährige Verlagsjubiläum aufgrund der Einschränkungen dieses Jahr nicht feiern werden. Dennoch sind sie glimpflich durch die Zeit gekommen, nicht zuletzt durch die Corona-Soforthilfe des Landes Berlin. Dass man mit einem Verlag nicht reich werden würde, sei eh klar, sagt Burckhardt und gibt einen Verlagswitz zum Besten: „Wie kommt man mit einem Verlag zu einem kleinen Vermögen? Man muss mit einem großen anfangen …“

Die Corona-Zeit hätte sich aber auch auf das Programm ausgewirkt. „Corona hat zu einer Zurückhaltung geführt, was neue Projekte angeht“, erzählt der Verleger. Dass Burckhardt seine Arbeit – trotz aktueller Widrigkeiten und stetig neuer Herausforderungen – Spaß macht, merkt man an der Begeisterung, mit der er über seine Bücher spricht.

„Gibt es eine Krise des Buches?“ „Nein, ich würde sagen, es gibt eine Krise der Auflage. Das haptische Buch ist weiterhin gefragt“, sagt Burckhardt und nimmt den Berliner Tier-Guide für Naturbanausen zu Hand und faltet die ersten Seiten auseinander. „Das könnte man mit einer E-publikation oder einem E-pdf nicht machen.“ Das Buch ist einer der Verlaufsschlager des Verlags, zusammen mit Putzen als Passion. Beide verbindet eine kulturwissenschaftlich fundierte Analyse, die keine Angst vor der Banalität des Alltags hat. Im offenen Gespräch wird deutlich, was den Verlag ausmacht: das nicht-elitäre, aber anspruchsvolle und vielseitige Programm kombiniert mit einer gehörigen Prise Humor.

Die zweite Auflage des Abriss-Atlas des Mitte/Rand Verlags, Foto: Conrad Bauer

Mitte/Rand Verlag

Wo: Marienstraße10, Mitte  
Webseite: https://www.mitte-rand.de/
Geschäftsführer: Stephan Burkoff
Mitarbeiter*innen: 3
Veröffentlichte Bücher im Jahr: ca. 2
Selbstbeschreibung: Mitte/Rand ist der Verlag für Inhalt und Kontraste. Unsere Themen sind Architektur, Design, Kunst und Gesellschaft. Unser Ziel ist die Vermittlung: Von der Mitte zum Rand, und umgekehrt.

Mitte/Rand ist der jüngste und kleinste der drei Verlage, was die Anzahl der Mitarbeitenden, aber auch der veröffentlichen Publikationen betrifft. Stephan Burkoff und Jeanette Kunsmann haben ihn 2014 gegründet, als sie bei ihrem Abriss-Atlas keine Kompromisse machen wollten. Der Abriss-Atlas ist mittlerweile in der zweiten Auflage erschienen, doch als die Idee entstand, ihr eigenes Buch zu verlegen, hatten die beiden noch keine Erfahrungen im Verlagswesen. Was sie mitbrachten, war reichlich Arbeitspraxis im Publizieren und fundiertes inhaltliches Knowhow in den Bereichen Architektur, urbane Räume, Design und Kunst. Seit letztem Jahr ist der Grafiker Niklas Sagebiel festes Mitglied des Verlages. „Da jeder von uns aus einer etwas anderen Richtung kommt, sind wir oft nicht einer Meinung, aber die produktive Reibung, die dabei entsteht, macht den besonderen Reiz der Zusammenarbeit aus,“ sagt Burkoff im Gespräch. Organisierten Burkoff und Kunsmann die Verlagsarbeit zunächst um ihre Jobs herum, nahm diese mehr und mehr Zeit in Anspruch. 2017 bezogen sie die Räume der ehemaligen Galerie Johnen, die sie sich seit 2019 mit der Galerie Daniel Marzona teilen. Jörg Johnen ist nicht nur Vermieter, sondern auch Kooperationspartner. Mit ihm zusammen entstand Marmor für alle, ein informatives wie übersichtliches Buch über Berlins Kunst im öffentlichen Raum. Es ist ein typisches Beispiel für die Arbeitsweise des Verlags: gründlich recherchiert und sorgfältig gestaltet. Jeanette Kunsmann erzählt, dass es erstaunlich viel Presseresonanz auf das Buch gab – und die Nachfrage des Stadtführers im Frühling deutlich gestiegen ist. Diese Resonanz ist kein Zufall, sondern Ergebnis des eigenen Vermittlungsanspruchs und der guten Vernetzung der Verleger, die neben dem Verlagsgeschäft auch als Journalisten arbeiten.

So wie Marmor für alle ist auch Mitte/Rand ein Liebhaberprojekt – jedes einzelne Buch wird intensiv betreut und begleitet. Burkoff betont mehrmals den Vermittlungsanspruch, den sie an sich selbst und die Bücher stellen würden.. Im Namen des Verlags spiegelt sich dieser Anspruch wieder, denn mit Mitte ist nicht der Stadtteil gemeint, sondern die gesellschaftliche Mitte und ihr Gegenpol am Rand. Das Ziel ist, Bücher für spezifische Lesegruppen zu machen, die sich jedoch auch für breitere Leserschaften öffnen und so speziellen Themen über die eigentliche Zielgruppe hinaus Relevanz verschaffen. Hinzu kommt der Wunsch Diskussionen anzuregen und hier und dort ein wenig zu „kitzeln“, erklärt Kunsmann und Burkoff ergänzt: „Dass für ihn Bücher Objekte seien, die Zeit bräuchten. Lieber weniger Bücher, aber dafür richtig gute, lautet ihr Motto.

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