Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Netzdialoge! Philosophische Gespräche über die Digitalisierung

25.03.2019

Christian Uhle hat das Veranstaltungsformat Netzdialoge! Philosophie des Digitalen initiiert. Wir waren bei der Veranstaltung Liebe im Digitalen und haben im Anschluss ein Gespräch mit ihm geführt.

Ein Donnerstagabend in der Chausseestraße, das Literaturforum im Brecht-Haus ist komplett ausverkauft und trotz Nieselregens harren einige Personen draußen aus, um wenigstens per medialer Übertragung noch etwas von der Veranstaltung mitzubekommen. Was die jungen Besucher*innen so anzieht, ist die Reihe Netzdialoge! Philosophie des Digitalen, die sich am heutigen Abend der Liebe im Digitalen widmet. Christian Uhle hat die Reihe 2018 gemeinsam mit dem Literaturforum im Brecht-Haus ins Leben gerufen und diskutiert in ihr jeweils mit zwei Gästen, wie sich die Digitalisierung auf Beziehungen, Arbeitswelten und Menschenbilder auswirkt.

Der Abend im Februar widmet sich den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Liebe und kreist um verschiedene Fragen: Wie lieben wir in Zeiten des Digitalen? Und wen lieben wir? Können wir Siri, Avatare und Roboter lieben? Christian Uhle beginnt den Abend mit ein paar Zahlen: jede sechste Person in Deutschland habe über das Internet bereits eine Person kennengelernt, was unter anderem dazu führe, dass hinter Kontaktbörsen wie Tinder und OkCupid milliardenschwere Unternehmen stehen.

Als Gesprächspartner hat sich Christian Uhle die Philosophiedozentin Olivia Mitscherlich-Schönherr und den Schriftsteller Senthuran Varatharajah eingeladen. Während Mitscherlich in Form eines Powerpoint-Vortrages ihre Thesen über die romantische Liebe in Zeiten der Digitalisierung vorstellt, spricht Varatharajah frei und plädiert dafür, dass es andere Erzählungen der Liebe braucht – solche, die die digitalen Medien und die damit einhergehenden veränderten Kommunikations- und Kennenlernrituale nicht pauschal abwerten, sondern sie auf ihre Potentiale hin abklopft.

Nach den Impulsvorträgen geht es gleich in die Diskussion. Dabei darf auch das Publikum mitmachen: Mithilfe der „Q&A and Polling Platform“ sli.do kann man Kommentare und Fragen posten, die dann an die Wand projiziert werden. Der Vorteil gegenüber klassischen analogen Fragerunden: die Fragen können anonym gestellt werden und man kann bereits gestellte Fragen liken, so dass sich ein Stimmungsbild des Publikums ergibt. Am meisten interessiert die Besucher*innen, wie qualitative Liebe und quantitative Datenerhebung bei Daten-Börsen zusammenpassen. Mitscherlich und Varatharajah versuchen die in dieser Frage anklingenden Gegensätze zu entschärfen und auf Kontinuitäten zu verweisen. So habe es schon immer ein Spiel des Zeigens, Sich-Inszenierens und Verbergens gegeben, und auch beim Kennenlernen im Internet seien es selbstbestimmte Menschen, die letztlich darüber entscheiden, wen sie treffen und eventuell küssen wollen. Mitscherlich räumt allerdings ein, dass durch die Digitalisierung das Kennenlernen immer mehr zum Projekt verkäme, was zu einer Verspießerung der ganzen Angelegenheit führen könne. Es wird länger darüber diskutiert, ob Online-Portale tatsächlich zu einer Entleiblichung führen würden oder nicht. Denn obwohl die physisch erfahrbare Situation des Kennenlernens wegfalle, gebe es genügend körperliche Reaktionen wie Herzklopfen und Aufgeregtheit, die diesen „erotischen“ Prozess begleiten. Das belegt der kurze Ausschnitt aus dem Film „Her“, der eingeblendet wird. In ihm verliebt sich der Hauptdarsteller in eine Computerstimme und wird zu einem strahlenden und manchmal nachdenklichen Menschen. Mitscherlichs Durchdringungsthese lautet, dass sich bei der romantischen Liebe der erotische Prozess und die geistige Liebe durchdringen und es zu einer Bejahung des Partners in seiner individuellen Besonderheit kommt. Wie weit kann man eine künstliche Intelligenz bejahen? Und wie befriedigend ist auf Dauer eine Partnerschaft, in der sich die Körper nie direkt berühren? Die Diskutierenden haben auf diese Fragen keine abschließenden Antworten, aber ihre Argumente haben geholfen, einen vorurteilsfreien und offenen Blick auf die „neuen“ Kennenlern- und Kommunikationsweisen zu lenken.

Christian Ule und seine Gäste Senthuran Varatharajah und Olivia Mitscherlich-Schönherr, Foto: Masha Bogdanovskaia

Um mehr über die Hintergründe der Veranstaltungsreihe, den Philosophen und Organisator Christian Uhle und sein Verhältnis zur Digitalisierung zu erfahren, führe ich mit ihm im Anschluss an die Veranstaltung ein Interview – per E-mail, wie es sich für das Thema gehört.

Anna-Lena Wenzel: Wie bist du zum Schwerpunkt Digitalisierung gekommen?

Christian Uhle: Mit dem Themenkomplex Digitalisierung beschäftige ich mich seit Jahren intensiv. In der Zeit war ich auf vielen Veranstaltungen. Die Vorträge oder Gespräche auf den Podien berühren fast immer auch Grundsatzfragen, zum Beispiel nach veränderten Menschenbildern oder Wertesystemen. Philosophinnen oder Philosophen sitzen dabei jedoch selten auf der Bühne. Dabei sind solche Grundsatzfragen ja immer auch philosophische Fragen. Mit der Zeit wuchs daher meine Überzeugung, dass Philosophie gerade in einem bewegten gesellschaftlichen Umfeld relevant ist und unsere Perspektiven bereichern kann. Denn sie kann eigenes Nachdenken auf eine differenzierte Grundlage stellen. Ich selbst halte philosophische Vorträge über Digitalisierung und habe dabei immer ein außerordentlich großes Interesse an solchen Sichtweisen erlebt, übrigens auch von Unternehmen. Weil es aber kaum Veranstaltungen gibt, die sich ganz den philosophischen Grundsatzfragen des Digitalen widmen, entstand in mir der Wunsch und die Idee, ein eigenes Format ins Leben zu rufen.

Wie ist die Kooperation mit dem Literaturforum entstanden?

Ich war im Literaturforum im Brecht-Haus für ein Podiumsgespräch zum Thema Digitalisierung eingeladen. So kam ich mit Volker Ißbrücker und Christian Hippe ins Gespräch. Bei einem Mittagessen schlug ich dann vor, eine Veranstaltung zur Philosophie des Digitalen aufzusetzen – und sie meinten gleich, lass uns daraus eine ganze Reihe machen. Das ist natürlich besonders reizvoll, weil wir so ganz unterschiedlichen Phänomenen nachgehen können, vom Verhältnis zwischen Künstlicher Intelligenz und menschlicher Mündigkeit bis hin zur Romantik im Digitalen.

Wie kommst du auf deine Gäste?

Unsere Zielgruppe sind sowohl Menschen, die sich schwerpunktmäßig mit dem digitalen Wandel auseinandersetzen wie auch Philosophinnen und Philosophen. Aber auch jede andere Person, die den persönlichen Wunsch hat, sich jenseits von Hype oder Panikmache etwas eingehender mit dem Digitalen auseinanderzusetzen, ist natürlich herzlich eingeladen. Wir wollen inhaltlich zwar in die Tiefe, sprachlich aber unbedingt verständlich und anschaulich bleiben.

Für jede Veranstaltung lade ich dann zwei Gäste ein. Das sind immer Philosophinnen und Philosophen, die im Regelfall schon vorher intensiv zum Thema Digitalisierung gearbeitet haben. Manchmal sind es aber auch Gäste, die allgemein zum jeweiligen Themenschwerpunkt arbeiten, also zum Beispiel „Vertrauen“ oder „Romantik“, und dann aus dieser Brille heraus Phänomene des Digitalen in den Blick nehmen. Und dann achte ich natürlich sehr darauf, Gäste einzuladen, die ihre Gedanken verständlich ausdrücken können und die vor allem wirklich Lust auf das Format haben.

Wie ist dein Verhältnis zur Digitalisierung? Würdest du sagen, dass du allein aufgrund deines Alters zu einem Fürsprecher der Digitalisierung geworden bist?

Dem digitalen Wandel stehe ich kritisch-optimistisch gegenüber. Kritisch insofern, als dass digitale Technologien und Dienstleistungen schnell zu einem Katalysator für bestehende Problemformationen werden. Das gilt einerseits für die großen gesellschaftlichen Themen wie wachsende Ungleichheiten oder den fortschreitenden Klimawandel. Hier wird Digitalisierung manchmal als Heilmittel verkauft, verschlechtert tatsächlich aber oft die Situation. Zum Beispiel sorgen digitale Mobilitätsdienste wie Carsharing oder Uber derzeit für Mehrverkehr und gehen eher zulasten des öffentlichen Verkehrs als dass Menschen wirklich auf ein eigenes Auto verzichten würden. Andererseits sehen wir auch im Privatleben oder im Beruf, wie Versprechen, die mit Digitalisierung verbunden werden, nach hinten losgehen können. Ein Versprechen ist es beispielsweise, dass wir mehr Zeit und Energie haben, um uns auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist. Tatsächlich aber schlagen vermeintliche Entlastungen schnell in Stress oder unnötigen Verwaltungsaufwand um. Natürlich ist es einfacher und schneller, E-mails und Kurznachrichten statt Briefen zu schreiben. Aber gerade deshalb hat das Pensum so enorm zugenommen und ersticken heute manche Menschen regelrecht in der Flut von Nachrichten. Weil mit dem Digitalen verbundene Versprechen bei näherem Hinsehen also häufig nicht eingelöst werden, halte ich es für wichtig, kritisch zu sein. Kritisch, aber nicht destruktiv, sondern transformativ und optimistisch. Denn erstens bietet Digitalisierung natürlich auch positive Potenziale. Und zweitens und vor allem können wir die Zukunft gestalten. Sie wird nicht einfach so oder so eintreffen. Sondern wir können heute gemeinsam Weichen setzen. Dafür müssen wir zunächst ins Gespräch kommen.

Wann wird die nächste Veranstaltung sein?

Am 18.4. wird es um das Thema „Vertrauen oder Transparenz?“ gehen. Es kommen Thorsten Thiel, der am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft arbeitet und Anne Eusterschulte, die Professorin für Geschichte der Philosophie an der FU Berlin ist. Eine wichtige Frage an dem Abend wird es sein, inwieweit Vertrauen als Ressource gelingenden Miteinanders zunehmend durch Transparenz ersetzt wird, und wie das uns individuell und unsere gesellschaftlichen Verfasstheiten verändert.

Als du bei der Einführung kurz vorgestellt wurdest, war davon die Rede, dass du gerade an einem Buch arbeitest. Gibt es bereits einen Veröffentlichungstermin?

Nein, einen Veröffentlichungstermin gibt es noch nicht. Das Buch befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium, aber ein Jahr werde ich dafür wohl noch brauchen. Es geht ja auch um ein großes Thema: um die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das klingt natürlich klischeehaft. Und gerade deshalb scheuen sich auch die meisten Philosophinnen und Philosophen, dazu zu sprechen und Position zu beziehen. Das finde ich bedauerlich. Denn wenn wir den Begriff des Sinns aus den Ecken von Esoterik, Lebensratgebern und Sprachwissenschaften herausholen, wenn wir ihn uns vorknöpfen, dann können wir damit eine ganze Menge individueller und gesellschaftlicher Fragen in neuem Licht sehen und besser verstehen.

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