Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Ohne Berührungsängste   

10.02.2023
Ausstellung „Auf Freigang oder Liebe in pandemischen Zeiten – Fotografische Spaziergänge“, oe ae collection berlin, Foto @ Meike Kenn

Für acht Monate war die oe ae collection von Joerg Waehner zu Gast in einer Dachgeschosswohnung am Gendarmenmarkt. Ein Besuch aus Anlass der letzten Ausstellung.

Für acht Monate hat der Künstler und Autor Joerg Waehner in der Mohrenstraße eine Dachgeschosswohnung vom Verband Haus & Grund überlassen bekommen. „Um mal ein bisschen frischen Wind reinzubringen“, wie er sagt. Er hat die Räume zum Wohnen und Arbeiten genutzt, aber vor allem um Ausstellungen und Veranstaltungen durchzuführen – und selber zum Gastgeber zu werden.
Im Februar endet der ungewöhnliche Deal. Zum Abschluss hat Waehner noch mal groß aufgetragen und zeigt gleich mehrere Serien. Darunter „Auf Freigang oder Liebe in pandemischen Zeiten“, die im großen Raum an alle verfügbaren Wänden gehängt wird – ja, wird, denn am Anfang der Eröffnung sind mehrere Leute emsig damit beschäftigt, die Fotos im Din-A4 Format mit Klebestreifen zu versehen und sie eigenhändig an den Wänden zu befestigen. Waehner wird die Personen, bei denen es sich um Mitarbeiter*innen von Haus & Grund handelt, später seine Kolleg*innen nennen – offenbar hat er zu ihnen im Laufe der acht Monate ein kollegiales Verhältnis entwickelt.

Bei der Eröffnung mischen sich also Mitarbeiter*innen des Dachverbandes, die hier im Haus arbeiten (im Anzug), mit DDR-Untergrund Veteranen und dem üblichen Kunstpublikum. Es gibt ein Catering-Team das großzügig Getränke ausschenkt und auf der breiten Dachterrasse eine Snackbar aufgebaut hat, die u.a. Veggie-Burger und Süßkartoffelpommes anbietet. Im Kabinett, wo die Serie „Smoke on the Kippenberg – gerauchte Zeichnungen“ ausgestellt ist, gibt es noch ein weiteres Angebot, das für einen kurzen Irritationsmoment sorgt. Eine Mitarbeiterin vom Bundesverband der Zigarettenindustrie hat einen Tisch mit Zigarettenpackungen geöffnet und bietet einzelne Zigaretten zum Rauchen an. Mehrmals schaue ich, ob es sich nicht doch um Fake-Zigaretten handelt, aber die Frau ist tatsächlich vom Zigarettenverband, wie sie mir versichert. Wie bei der Kooperation mit dem Verband stellt sich die Frage, ob es sich dabei um einen geschickt-ironischen Schachzug des Künstlers handelt oder um eine fragwürdige Lobby-Kooperation. Waehner spielt mit ebendieser schmalen Grenze. 1962 geboren und in Rostock aufgewachsen, wird der Neunzehnjährige nach einer Denunziation in Karl-Marx-Stadt auf offener Straße verhaftet. Die Anschuldigungen lauten „staatsfeindliche Hetze“, „öffentliche Herabwürdigung“ und „geplante Republikfluch“. Die Strafe: Isolation durch sofortigen Einzug zum Militär. Das bedeutet für Waehner 18 Monate im Militärdienst. Die Erfahrungen inkl. der Stasi-Überwachung, die er dort macht, verarbeitet er in dem Buch „Einstrich-Keinstrich“, das 2006 erscheint.  

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Eröffnung „Auf Freigang oder Liebe in pandemischen Zeiten – Fotografische Spaziergänge“, oe ae collection berlin, Foto @ Meike Kenn
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Ausstellung „Auf Freigang oder Liebe in pandemischen Zeiten – Fotografische Spaziergänge“, oe ae collection berlin, Foto @ Meike Kenn

Bei der Ausstellungseröffnung spricht Tina Bara, Professorin für Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, in ihrer Rede von einer „Art Seinszustand“, um die Charakteristik des Künstlers zu beschreiben und zählt seine diversen Tätigkeiten auf: „sammeln und aufzeichnen, schreiben, zeichnen und fotografieren. Tagtäglich. Manchmal auch nächtlich.“ Seine enorme Produktivität und Umtriebigkeit nennt sie: „Dauerweltverarbeitung zur Versicherung der eigenen Existenz. Speicherkarte voll, Akku alle, schrecklich. Ein Leben ohne Stift und Notizbücher kein Leben.“

Bara ist mit Waehner öfter spazieren gegangen und hat ihn beim Fotografieren beobachten können. Die Serie „Freigänge“ ist während der Pandemie entstanden, als Waehner „oft dutzende Kilometer am Tag quer durch die Stadt [lief], ab durch die Mitte, hin und zurück und im Kreis, noch schneller als sonst“. Zu sehen sind Fotos von Orten, Menschen und Schriftzügen, die Waehner so fotografiert, das sie einem vertraut-unvertraut vorkommen. Sie sind in schwarz-weiß und in Farbe aufgenommen, wirken oft wie nebensächlich eingefangen und sind doch erstaunlich präzise komponiert. Tina Bara beschreibt Waehners Art zu fotografieren so: „Er umkreist die Objekte seiner visuellen Begierde nicht um ein optimales Bild einzufangen, er wartet nicht lange oder drückt mehrfach auf den Auslöser, um sich später das beste Bild auszusuchen. Meist sieht er etwas, führt in Sekundenschnelle mit einem Arm die Kamera vors Auge und löst aus. Und weiter. Aus einer fortwährenden Bewegung heraus.“ Für sie zeichnet seine Bilder aus, „dass sich möglichst zwei-drei unterschiedliche Bildgegenstände auf einem Bild befinden, die miteinander in eine spannungsvolle Konstellation geraten“.

Vielleicht ist die Suche nach spannungsvollen Konstellationen auf Waehners generelle Arbeits- oder Seinsweise übertragbar, denn offensichtlich hat er keine Hemmungen, sich von einer Eigentümerschutzgemeinschaft sponsern zu lassen. Beim Vorläufer dieser Art von Zwischennutzung war die Konstellation noch eine andere: 2017 führte Waehner eine künstlerische Hausbesetzung des Mies van der Rohe Hauses in Weissensee durch. Zu diesem Anlass stellte er Möbel hinein und lud zu Cocktailparty, Tanztee und Herrenabenden ein. Es fand eine Aktivierung und Öffnung des Raumes statt, wie sie auch bei der oe ae collection berlin in Mitte zu beobachten ist, die es sich zum Ziel gesetzt hat, „Sinnbild, Plattform und Angebot für eine offene Kommunikation und Begegnung“ [1]zu sein.

Waehner Einsatz beim Mies van der Rohe Haus war jedenfalls Auslöser für die Kooperation mit Haus & Grund. Ein Mitarbeiter wurde auf ihn aufmerksam und es entstand die Idee, ihm zeitweise die Wohnung zur Verfügung zu stellen. Waehner sagt selber, er würde nicht besitzen, aber besetzen. Er sagt auch, dass Neugierde ein wichtiger Motor für ihn sei. Zu ergänzen wäre: dass er einen Hang zur Selbstinszenierung hat, zur „Inszenierung als Künstler-Figur“ wie Bara es nennt. Kein Wunder, dass Andy Warhol und Joseph Beuys zu seinen Vorbildern gehören, haben doch beide Kunst und Leben miteinander verschränkt – Warhol, in dem er die Factory gründete und die Grenzen zur Konsumwelt nivellierte, und Beuys, indem er seine Arbeit als Soziale Plastik verstand und in die Politik ging. Beiden huldigte Waehner während seiner Zeit in der M*Straße mit der Ausstellung „Von der Pop Art zur Prop Art“ und einem eigens eingerichteten Raum für Beuys, ohne dabei seinen DDR-Hintergrund zu verleugnen – im Gegenteil. Zusätzlich zu den Ausstellungen gab es zahlreiche Veranstaltungen wie „Waehner auf Warhol“, Gespräche über Scheiben aus dem ostdeutschen Underground, eine Fashion-Show und eine Lesung zu „Amerika ist ein U-Boot im Goldfischteich oder ein Genie ist kein Mietwagen“. Dieser abstruse Titel und die wilde Mischung an Formaten bestätigen den Eindruck, dass Waehner sein ureigenes, unabhängiges Programm macht, egal wer ihn einlädt.

Noch bis Mitte Februar kann er die Wohnung nutzen, dann, so weiß der Künstler zu berichten, ist sie an ein junges, offenbar wohlhabendes Paar vermietet.

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Ausstellung „Auf Freigang oder Liebe in pandemischen Zeiten – Fotografische Spaziergänge“, oe ae collection berlin, Foto @ Meike Kenn
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Eröffnung „Auf Freigang oder Liebe in pandemischen Zeiten – Fotografische Spaziergänge“, oe ae collection berlin, Foto @ Meike Kenn

[1] Zitiert aus dem Newsletter

oe ae collection berlin
Mohrenstraße 33
10117 Berlin
6. Etage über Fahrstuhl

Die Ausstellung „Auf Freigang oder Liebe in pandemischen Zeiten – Fotografische Spaziergänge“ ist noch an folgenden Tagen geöffnet: 01.02., 04.02., 08.02., 11.02. jeweils 12 bis 18 Uhr.

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