Maike Brülls

Maike Brülls arbeitet als Journalistin in Berlin. Sie hat Kulturjournalismus studiert. Ihre Texte sind unter anderem in der taz, bei VICE, ZEIT Online, DUMMY und MISSY erschienen. Außerdem arbeitet sie an Videos für verschiedene Formate des funk-Netzwerks.

Plötzlich da – bald wieder weg: Der Artspace Voodoo 55/ Plus.Dede

25.06.2018
Interpretiert Ko-Präsenz mit Flaschen: Anna Herms. Foto: Maike Brülls
Interpretiert Ko-Präsenz mit Flaschen: Anna Herms. Foto: Maike Brülls

Zu Besuch in der Galerie und dem Artspace Plus.Dede

Hinten an der linken weißen Wand hängt etwas, das aussieht wie zwei große silberne Schenkel. Wie die eines Pferdes, nur von silberner Farbe. Nähert man sich, erkennt man die Form besser, entdeckt, dass es keine Schenkel, sondern die Skulpturen zweier Schlafender sind. Die Decke um den Körper gewickelt, die Hand liegt locker am Gesicht. Ein Stück davor hängt eine gerahmte Fotografie, die eine Frau zeigt. Schräg gegenüber ein großes Gemälde mit bunten Rechtecken. Viel mehr ist noch nicht in diesem Raum. Mit den großen, weißen Fliesen, den blanken, weißen Wänden und der Decke, von der schief quadratische Leuchten mit Lichtröhren sowie einige Haken und Kabel hängen, wirkt der knapp 300qm große Raum industriell, kühl. Durch die großen Fensterfronten des Raumes schaut man auf die Müllerhalle, einen grauen Klinkerklotz an der endlosen Müllerstraße im Wedding, in dem Läden wie Kaufland, McPaper und eine Dönerbude untergebracht sind.

Bis vor einigen Monaten war dieser große Raum noch eine Videothek. Dann wurde er ein Pop-Up-Artspace mit einem simplen Konzept: Jede*r, der*die möchte, kann den Raum nutzen, um eine Ausstellung zu realisieren. Eröffnet wurde die Galerie im Februar von dem Künstler Anton Unai. Voodoo 55 taufte er sie, als Anlehnung an das Afrikanische Viertel des Weddings, das ganz in der Nähe liegt. In den vier Monaten liefen die verschiedensten Ausstellungen. Große Einzelausstellungen, Gruppenausstelllungen, Performances, Partys, bei denen unter anderem die bekannte Berliner Techno-Djane Bebetta auflegte. Vor drei Tagen war der letzte Tag, das Ende der Voodoo 55. Und doch tut sich etwas in diesem Raum.

Die Ko-Präsenz der Zwischennutzung

Vor dem Fenster steht jetzt eine junge Frau auf einer Holzleiter und pinselt Löcher in der Wand mit weißer Farbe über. Drei weitere Menschen packen Pakete aus, suchen das Tesafilm, kleben Folie mit dem gefundenen Tesafilm über dem gerahmten Foto fest. Es ist ein Dienstag Mitte Juni, der Dienstag nach der Abschiedsparty von Voodoo 55 und gleichzeitig ein Tag vor der ersten Vernissage des Artspaces Plus.Dede. Freunde von Anton Unai, Flavio Degen und Tristan Deschamps, übernehmen den Raum, setzen die Idee von Voodoo 55 fort.

Bei der Galerie Plus.Dede wird die Müllerstraße im Wedding zum szenigen Treffpunkt

Allerdings nur bis August. Dann müssen die Künstler*innen raus aus dem Haus, es wird saniert und umgebaut. Bis dahin haben sie vom neuen Eigentümer freie Hand, können machen, was sie wollen. Hier geschieht, was man von vielen Orten in Berlin, New York, London, kennt: Kunst als Zwischennutzung. Ein Prinzip, das einige als Win-Win bezeichnen. Immerhin wird ein Gebäude, das sonst bis zum Baubeginn leer stehen würde, genutzt. Und Künster*innen die Möglichkeit gegeben, an einem neuen Ort Projekte zu realisieren. Andere sehen es kritisch. Sehen in dem Anlocken der Kunstschaffenden eine Taktik der Investor*innen, ein Gebäude, eine Straße oder gar einen ganzen Kiez interessanter zu machen und den Wert zu steigern. Es ist deswegen sehr passend, dass die erste Ausstellung bei Plus.Dede „Ko-Präsenz“ heißt. Denn an diesem Ort, in diesem kühl-industriellen Raum, existieren Kunst und Kapitalismus gleichermaßen.

Die Ko-Präsenz in einem selbst

Eine Frau sitzt mit kerzengeradem Rücken auf der Fensterbank des großen Fensters mit Blick auf die Müllerstraße. Unter ihr liegt ein weißes Laken, links neben ihr zwei flache Blöcke mit Eis. Mittlerweile ist Mittwoch, Eröffnung besagter Ausstellung. Vor der Frau stehen knapp 20 Leute, schauen ihr zu, wie sie eine Eieruhr aufzieht und vor sich auf den Boden stellt. Wie sie danach ein Schild hochhält, auf dem „Come lie with me“ steht, und sich dann auf die Klötze bettet, als wären es Kissen. Wie die Ausstellung heißt diese Performance von Elana Katz „Ko-Präsenz“. „Es ist eine spannende Aufforderung“, sagt Natalia Korotyaeva. Sie hat die Ausstellung kuratiert. „Legt man sich dazu, ist es erst angenehm, mit dem Kopf auf dem Eis zu liegen. Aber irgendwann wird es wirklich schmerzhaft.“ Hält man das Beisammensein trotzdem aus, bis der Wecker klingelt? Bricht man ab, weil die Kälte zu stark wird?

In der industriell-kühlen Atmosphäre einer ehemaligen Videothek schauen Menschen sich Kunst an

In jedem der gezeigten Kunstwerke setzt sich der*die Künstler*in mit unterschiedlichen Aspekten des Zusammenseins auseinander. Die Künstlerin Jeewi Lee hat zum Beispiel mit Papier gearbeitet, das in Asien als Boden verwendet wurde. Sie hat es gereinigt, und doch scheinen in dem weißen Stück an der Wand Spuren sichtbar zu sein. Oder Anna Herms. Ihr gleichnamiges Werk besteht aus einem Tisch, vollgestellt mit unterschiedlichen Flaschen und Blumen. Auf jeder Flasche steht ein Name. Namen von Menschen, die sie in ihrem Leben begleitet haben, erklärt Korotyaeva. „Es ist ein sehr persönliches Werk. Das ist auch wirklich Annas Tisch, der steht sonst bei ihr zuhause.“

Korotyaeva weiß das, denn sie und Herms sind befreundet – so wie alle der 15 Ausstellenden Freund*innen der Kuratorin sind. „Die Galerie hier bietet sich genau für sowas an“, sagt Korotyaeva. „Man kann hier frei Ausstellungen gestalten. Und das dann mit Leuten zu machen, die man kennt, ist logisch.“ Die Eröffnung läuft gut, viele Leute sind gekommen, jung, hip, ein bisschen ungewohnt für den Wedding. Die meisten stehen mittlerweile draußen vor dem großen Fenster, aber einige sind auch noch innen. Stark hallen die Stimmen zwischen den weißen Fliesen und kahlen Wänden hin und her. Ein Stimmengewirr, das fast schon geplant wirkt, macht es immerhin die Anwesenheit der anderen Besucher*innen wahrnehmbar. Und somit deutlich, dass man selbst in diesem Moment nicht allein, sondern ko-präsent ist.

Artspace Plus.Dede, Müllerstr. 55, 13449 Berlin, U6 Rehberge/Seestraße

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Bei Ko-Präsenz stellten folgende Künstler*innen aus:

Tegene Kunbi, David Kroell, Flavia Spichtig, Melanie Schlachter, Lilia Kovka, Elana Katz, Eva Vuillemin, Elisa Ewert, Sonja Schrader, Alessandro Rauschmann, Jeewi Lee, Konrad Mühe, Natalia Korotyaeva, Anna Herms, Yala Juchmann

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