Am 9. Dezember 2021 tagte das Preisgericht zum nichtoffenen, einphasigen, anonymen Kunstwettbewerb (Ideenwettbewerb) “Denkzeichen Lebenswerte Stadt”. Zur Teilnahme am Wettbewerb wurden die Künstler*innen Birte Endrejat, Uwe Jonas und Nina Schuiki eingeladen. Unter Vorsitz der Künstlerin Marianne Ramsay-Sonneck diskutierte das Preisgericht umfänglich die eingereichten künstlerischen Entwürfe und nominierte einstimmig den Entwurf von Nina Schuiki als Gewinner.
Anstoß zu dem Ideenwettbewerb hatte der Verkehrsunfall in der Invalidenstraße, Ecke Ackerstraße am 6. September 2016 gegeben, bei dem vier Fußgänger*innen starben. Über die Frage der Schuld und Verantwortung hinaus, verdeutlicht dieses Unglück die Notwendigkeit einer alternativen Stadtentwicklung. Das Bezirksamt Mitte von Berlin möchte mit dem Vorhaben „Denkzeichen Lebenswerte Stadt“ ein neues Bewusstsein für den öffentlichen Raum schaffen und mit einem künstlerischen Impuls dazu anregen, dessen vielfältige und sich wandelnde Nutzung neu zu denken.
Kunstwettbewerbe werden als Ideenwettbewerb ausgelobt, wenn es zunächst darum geht, eine konzeptionelle Lösung für eine Aufgabenstellung zu finden. Das bedeutet, dass damit noch kein Realisierungsversprechen verbunden ist. Bei der Konzeption sollten die teilnehmenden Künstler*innen sich an einem Kostenrahmen von 50.000,00 Euro orientieren. Darin sind neben dem Honorar sämtliche Produktionskosten enthalten.
Stimmberechtigte Mitglieder des Preisgerichts waren die Künstler*innen Stephanie Lüning, Marianne Ramsay-Sonneck und die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Sophie Jung, sowie Dr. Almut Neumann, Bezirksstadträtin für Ordnung, Umwelt, Natur, Straßen und Grünflächen im Bezirksamt Mitte von Berlin, und Michael Weiß, Leiter des Amts für Weiterbildung und Kultur, Bezirksamt Mitte von Berlin. Ständig anwesende stellvertretende Fachpreisrichterin war die Künstlerin Dr. Cristina Gómez Barrio. Der Wettbewerb wurde betreut durch Dorothea Strube.
Auf der bestehenden Grünfläche des vorgegebenen Bearbeitungsbereichs soll ein Brunnen in Form einer kreisrunden Mulde installiert werden („Brunnen #1“). „In der Mulde befindet sich die sichtbare Brunnenaustrittstelle, aus der ein Tropfen Wasser im Sekundentakt tropft.“ In der Brunnenmulde sollen Pflanzlinge der Achillea ptarmica (Sumpf-Schafgarbe) angepflanzt werden, die sich selbständig vermehren und auch über den Brunnenrand hinaus ausbreiten sollen. „Etymologisch verweist die Pflanze auf die griechische Figur des Achilles, der mit dieser Pflanze Wunden seiner Krieger behandeln ließ.“
Die Bepflanzung der restlichen Grünanlage soll nicht verändert, sondern nur wenn erforderlich zurückgeschnitten und die Bestandsbäume ggf. innerhalb der Fläche umgesetzt werden. „Die Mulde ist eine Leerstelle, in der durch das ständige Einbringen des Wassers, neue und andere Lebensformen ermöglicht werden. Gleichzeitig erinnert die Situation an eine aufbrechende Wunde. Der Tropfen wird aus dem darunter liegenden Berliner Grundwasser entnommen. Dadurch möchte ich den Entwurf in die Umgebung einbinden und über das Element Wasser Bezüge zu einer klimagerechten, alternativen Stadtentwicklung anstoßen. Das stetige Tropfen […] symbolisiert mitunter auch den Wasserkreislauf als einen in sich geschlossenen Zyklus. Der Kreis, an den auch die Form der Brunnenmulde angelehnt ist, stellt eine Gegenposition zu linearen Systemen dar, in denen wir uns seit der industriellen Revolution bewegen: Fortschritt, im Sinne der Moderne, beschreibt stets einen kontinuierlich linearen Prozess. In meinem Entwurf möchte ich dieser Bewegung ein alternatives, zirkulares System entgegenstellen.“
Im Rahmen der Umsetzung der autofreien Invalidenstraße wird ein zweiter Brunnen vorgeschlagen, der das Brunnen-Ensemble vervollständigen soll. „Der Brunnen #2 wird als Positivform (Erhöhung) als Gegenform zu Brunnen #1 (Mulde) entworfen und in der ihr gegenüberliegenden Fläche positioniert. In der gegenwärtigen dicht gedrängten Flächensituation ist dieser Brunnen noch nicht entsprechend realisierbar.“ Bei einem gewünschten Rückbau der Arbeit, könnte der Brunnenzugang zur Gartenbewässerung an den Bezirk übergeben werden.
Der Vorschlag für ein Denkzeichen will „alle Zufußgehenden in den Fokus“ rücken in Form einer Bodenarbeit, die sich über beide Bearbeitungsbereiche sowie den dazwischenliegenden Raum erstreckt. Vorgeschlagen werden 12 grüne Bodenlinien analog der Markierungen im Straßenraum. Auf Grundlage einer Bewegungschoreografie, die sich von den Bewegungen von Passant*innen vor Ort ableitet, soll die Position der unterschiedlich langen Linien verortet werden.
Die Linien können irritieren und sehen aus „wie ein farblich und räumlich verrutschter Zebrastreifen. Die Linien streichen aus (wie mit einem Stift etwas durchstreichen). Sie fügen etwas zusammen (wie Heftpflaster oder ein Nähfaden eine Wunde). Sie markieren und geben vor. […] Die sichtbare Markierung dient als Vorschlag für Passanten, als Unterbrechung des eigenen eingefahrenen Weges und als Seh-Erfahrung. Sie setzt das Selbst in Beziehung zum Umfeld. Wo gehe ich entlang? Auf, neben, quer zur Linie? Muss ich so gehen? Könnte ich anders laufen, mir die Zeit nehmen? Eine andere Entscheidung treffen?“
Ein Teil des Kunst-Budgets soll für einen „digitalen / performativen Zusatz zur räumlich verorteten künstlerischen Arbeit“ reserviert werden, wofür bereits erste Ideen entwickelt worden sind (u.a. eine
Reihe von künstlerischen Spaziergängen/Artist Walks und Impulsvorträgen in Form von Spaziergängen mit geladenen Expert*innen zum aktuellen Diskurs um den urbanen Raum).
Vorgeschlagen wird die Installation einer Kugelschale („Muschel“) mit integrierter Sitzbank im Inneren, wobei die offene Seite der „Muschel“ auf den Kreuzungsbereich ausgerichtet ist. Vor der Öffnung befindet sich eine halbrund ausgebildete Sitzbank. Die umgebende Fläche „soll aus Mutterboden bestehen, der durch Selbstaussaat von Pflanzen besiedelt wird“.
Die „Muschel“ lehnt sich an „Konzertmuscheln“ der 1970er Jahre an, wobei die Grundlage der Skulptur – auch im Herstellungsprozess – die so genannte „Binishell“ bildet. Im Innern ist die „Muschel“
goldfarben („idealerweise Blattgold“ bzw. in entsprechender Anmutung) und die Außenseite in dunklem Metallic-Türkis gestrichen („das an die 80’er Jahre und Autolackierung denken lässt. Sozusagen die Vergangenheit, in der das Auto noch große Freiheitserzählung sein durfte“). Die Schnittkante erhält eine
organisch wirkende Oberflächenstruktur. Die als „Poller“ ausgeführte Sitzbank „soll den Nutzer*innen eine Sicherheit geben, auch wenn sie an den schrecklichen Unfall zurückdenken. Auch wird die weitere
Priorisierung des Autoverkehres thematisiert, aber als positive Nuance, damit der Ort einlädt, gemeinsam Zeit zu verbringen. Der ‚Poller‘ könnte auch die Möglichkeit bieten, das Gedenken an die Opfer des Unfalles fortzusetzen, indem dort ein Hinweis auf das Vergangene angebracht wird. Dies müsste in Absprache mit allen Parteien überlegt werden.“
„Vor diesem Hintergrund würde meine Skulptur nicht nur zum Symbol eines neuen Anlaufpunktes für den öffentlichen Raum werden, sondern kann von Nutzer*innen auch als neue Raumerfahrung erlebt werden, auf rein individueller Basis oder als kollektive Bühne.