Die Ausstellung beginnt mit dem Hinweis auf einen Triumph der sowjetischen Raumfahrt: der Umrundung der Erde mit dem Satellit Sputnik im Jahr 1957. Die Folge des Gewahrwerdens des Fortschritts auf sowjetischer Seite löste auf westlicher Seite den sogenannten Sputnik-Schock aus und führte zu groß angelegten Investitionsprogrammen für Forschung und Bildung. Der Bau des HKWs sowie zahlreicher Bildungseinrichtungen in den folgenden Jahrzehnten sind räumlich gewordener Ausdruck dieser Bildungsexplosion, die unmittelbar auf den Schock folgte. Sie ging einher mit einer intensiven Auseinandersetzung über geeignete Räume, Techniken und Wege des Vermittelns und die Inhalte von Bildung.
Eindrucksvolles Beleg für diese Modernisierung der Bildung, die in den 1960er Jahren begann, sind die zahlreichen rororo Bändchen von „theorie und praxis antiautoritärer erziehung“ über „pädagogik der unterdrückten“ bis zum „projektbuch ästhetisches lernen“, die in der Ausstellung zu sehen sind. In dieser Dichte präsentiert, wird spürbar, welche Bedeutung der Bildung als gesellschaftsverändernde Kraft zugeschrieben wurde und wie umgreifend sich das Verständnis von Bildung veränderte – sei es in Bezug auf die Hierarchien zwischen Lehrenden und Lernenden, den Anspruch, Bildung für alle zu ermöglichen oder den Wunsch zukünftige Raumnutzer*innen an den Planungsprozessen der Gebäude zu beteiligen. Gerade aus heutiger Perspektive, wo viele Eltern damit beschäftigt sind, sich in die beste Schule für ihr Kind einzuklagen, ist eine Konfrontation mit den damaligen Diskursen augenöffnend.
Dass viele der damals erprobten Bildungsexperimente heute Geschichte sind, tut der Freude über die utopischen Ideen von damals keinen Abbruch. Tatsächlich wurden viele der Gebäude, die damals entworfen wurden, entweder nie gebaut (wie die Laborschule von Ludwig Leo in Bielefeld), wurden wieder abgerissen (wie zahlreiche Gesamtschulen und Bildungszentren in West- und Ost-Berlin wie die Akademie der Marxistisch-Leninistischen
Organisationswissenschaft (AMLO) in der Wuhlheide oder die Universität von Vincennes in der Nähe von Paris) oder sie stehen heute leer wie das Diesterweg-Gymnasium im Weddinger Brunnenviertel. Vorgestellt werden diese Wissens-Architekturen auf verschiedenen Wegen – dies macht die Ausstellung neben den vielschichtigen Inhalten und Kontexten so abwechslungsreich: ein animierter Film veranschaulicht, wie Leo ein Lernumfeld entwarf, das flexibel und modular aufgebaut war, Holzmodelle von BARarchitekten vermitteln Eindrücke der räumlichen Aufteilung mehrerer Gebäude und kleine Papiermodelle sowie Fotografien dokumentieren Gebäudetypen, wie sie in der DDR errichtet wurden.
Darüber hinaus gibt es zwei Skulpturen von der Künstlerin Inga Danysz, die auf ihre Recherchen zu polnischen Spielplätzen und deren Ausstattung in den 1960er Jahren zurückgehen, eine filmische Annäherung an eine Pionier- Jugendstadt in der Nähe von Zagreb, Architekturzeichnungen von Silke Schatz und ein Archiv mit Fernsehausschnitten. Die in der Ausstellung vertretenen Medien sind vielfältig – und werden noch durch zwei Publikationen (je auf Deutsch und Englisch), ein Filmprogramm im Kino Arsenal und digital geteilte Formate auf der Webseite erweitert.
Doch wie bekommt man diese vielen Fährten und Formate in einen Ausstellungsraum, ohne dass man sich verläuft und das verbindende Thema aus den Augen verliert? Die Lösung für diese herausfordernde Aufgabe wurde in Zusammenarbeit mit der Kooperative für Darstellungspolitik entwickelt, wobei die Design- und Architektursprache der 1960er und 70er Jahre aufgegriffen wurde. Sie hat ein raumstrukturierendes Display geschaffen, das aus mehreren Elementen besteht: über den Raum verteilt hängen Gestelle von der Decke und den Wänden und ordnen die Ausstellung in einzelne Unterkapitel. Auf ihnen befinden sich die Untertitel sowie zwei Stoffbahnen mit einer Abbildung und einem kurzen, einleitenden Text. Zudem sind über den ganzen Raum Betonelemente verteilt, die als Ausstellungsfläche fungieren oder als Sitzgelegenheiten benutzt werden können oder besser: genutzt hätten werden können, wenn die Ausstellung nicht unter Pandemie-Bedingungen geöffnet hätte.
Wie sehr die Corona-Pandemie die Ausstellung geprägt hat, erläutert Kurator Tom Holert bei seiner Einführung. Er erzählt, dass der Eröffnungstermin von September auf April verschoben werden musste und die Laufzeit durch die zwischenzeitliche Schließung stark geschrumpft ist. Aber auch innerhalb der Ausstellung hat sie Spuren hinterlassen: So können die zahlreichen Publikationen nicht angefasst und durchgeblättert werden, sondern sind mit einem Band fixiert. Auch die Sitzgelegenheiten, die innerhalb der Ausstellung geschaffen wurden, um Gespräche und Reflexionspausen zu ermöglichen, können nicht genutzt werden. Zudem hat sich die Corona-Pandemie inhaltlich eingeschrieben, weil das Thema Bildung unter dem Vorzeichen des Krise (ähnlich wie 1957) im letzten Jahr wieder ins Zentrum politischer Debatten gerückt ist: Unter dem Druck der Krise musste von Präsenzunterricht auf digitale Unterrichtsmethoden umgestellt werden, so dass Vor- und Nachteile quasi in einem Praxisschock erprobt wurden. Dabei zeigte sich einmal mehr, dass Schulen nicht nur einen Bildungsauftrag erfüllen, sondern elementar wichtige soziale Treffpunkte sind. Vor dem Hintergrund, dass die Schulen aktuell gesellschaftliche Ungleichheiten tendenziell eher verstärken als ausgleichen, waren die Corona-Zeit und der Wegfall eines gemeinschaftlich genutzten Raumes fatal.
Wie stark Schulen Orte der Segregation waren und sind, zeigen Fotos des „busings“ in den USA, einer Praxis, bei der Schüler*innen in andere Quartiere gefahren wurden, um mehr Durchmischung an den Schulen zu gewährleisten, was jedoch nur bedingt erfolgreich war und daher Proteste hervorrief. Dass diese Segregation auch den Schulalltag in Berlin prägt, zeigen Michael Anhoff und Nuray Demir mit ihrer Arbeit Kein schöner Archiv: Der Klassenkampf. Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist die Tatsache, dass in Form gesonderter Ausländerregelklassen/ Förderklassen/ Willkommensklassen weiterhin eine Trennung der Schüler*innen je nach Sprachkenntnis vorgenommen wird. Anhoff und Nuray haben ein Archiv angelegt, das auf dem immateriellen Erbe der Widerstandspraxen migrantisierter Menschen aufbaut, die sich gegen diese Trennung einsetz(t)en.
Dass die Ausstellung sowohl in die Ferne schweift und ganz konkret in die Nachbarschaft schaut (auch durch das Programm Bildung in Beton, bei dem acht Berliner Schulen in Ost und West-Berlin, im Märkischen Viertel und in Lichtenberg involviert waren), ist ein großes Verdienst der Ausstellung. Dass es ihr zudem gelingt, dies in einer verständlichen Sprache zu tun, und sie dabei die ideologischen Grabenkämpfe zwischen Ost und West überwindet, indem sie möglichst neutral Beispiele aus beiden Systemen vorstellt, ist ein weiterer.
Wer im Laufe des Ausstellungsbesuchs auf die naheliegende Frage kommt, in welchen Räumen man selber gelernt hat und wie diese Lernräume das Verständnis von Bildung geprägt haben, dem sei das Projekt Belastungsproben.DIY von Käthe Wenzel empfohlen, das ebenfalls Teil der Ausstellung ist. Achtung: es könnte sein, dass man dabei ganz schön ins Grübeln kommt – was nicht das schlechteste Ergebnis einer Ausstellung wäre, die sich zum Ziel gesetzt hat, den experimentellen und gelegentlich auch improvisierten Charakter von Bildungspolitik in den Blick zu rücken und im wahrsten Sinne des Wortes Denkräume zu eröffnen.
Wie besonders der Moment der Wiedereröffnung der Ausstellung für den Kurator Tom Holert nach den wiederholten Verschiebungen ist, wird spätestens am Ende der Einführung deutlich, als er von den jahrelangen Vorarbeiten und Recherchen erzählt, die der Ausstellung voraus gingen. Unter anderem ein Seminar zur visuellen Kultur des Pädagogischen zusammen mit der im letzten Jahr verstorbenen Ausstellungsmacherin Marion von Osten und eine Vorläuferausstellung in Utrecht 2016/17. Trotz der Fülle von Zugängen und Aspekten des Themas, die in den zahlreichen Unterüberschriften von „Auch barfuß lässt sich lesen lernen“ über „Bildungspop“ bis zu „Sowjetische Campus-Exporte“ anklingen, ist es gelungen, dass man sich nicht im Thema verläuft, sondern durch pointierte Exponate und Beispiele an den Komplex “Bildungsräume” herangeführt und zum Weiterdenken angeregt wird.