Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Raue Mischung: Der Westhafen im Porträt

09.04.2024
Der imposante, alte Getreidespeicher. Foto: Anna-Lena Wenzel
Der imposante, alte Getreidespeicher. Foto: Anna-Lena Wenzel

Der Westhafen im Norden Moabits ist einer der größten Warenumschlagplätze Berlins und als solcher ordentlich in Bewegung. Gleichzeitig nutzen Institutionen wie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz oder die Kunstwerkstatt imPerfekt die denkmalgeschützten Gebäude für ihre Zwecke. Eine Entdeckungsreise an einen Ort, an dem die Kormorane ebenso zu Hause sind wie die Berliner Stadtreinigung.

Die Erkundung des Westhafens im nördlichen Moabit beginnt am S-Bahnhof Westhafen, von dem ich runter zum gleichnamigen U-Bahnhof laufe. Schon auf den ersten Treppenstufen fallen mir Buchstaben auf den weiß gekachelten Wänden auf. Es sind Wörter auf Deutsch und Französisch. Sie stammen von Heinrich Heine, der 1831 nach Paris zog, unter anderem als Reaktion auf die antisemitische und rassistische Politik innerhalb des Deutschen Bundes, der er sich ausgesetzt sah. Dort lebte er bis zu seinem Tod im Jahr 1856.[1] „Da das Wort Heinrich dem franzoesischen Ohr nicht zusagte … heiße ich Monsieur Enri Enn … und ich musste mich darin schicken und auch endlich hierzulande selbst so nennen“, erfährt man aus den Zitaten.

Erinnerungen an Heinrich Heine. Foto: Anna-Lena Wenzel

Auf dem U-Bahn-Gleis setzen sich die weißen Kacheln an den Wänden des Bahnhofs fort. Es handelt sich um ein Kunstprojekt von Françoise Schein und Barbara Reiter aus dem Jahr 2000 mit dem Titel „Die Menschenrechte schreiben“. In verschiedener Anordnung stehen auf den Kacheln Auszüge aus den Menschenrechten geschrieben: „1. Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ und „9. Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden.“

Aus dem Impressum geht hervor, dass das Projekt inscrire am Westhafen der sechste Punkt in einem Netz von Kunstwerken in den Städten dieser Welt ist, das den Menschenrechten gewidmet ist. Die U-Bahn-Station war von den Künstlerinnen ausgewählt worden, da der Güterbahnhof Moabit in unmittelbarer Nähe Ausgangspunkt von Deportationen im Zweiten Weltkrieg war. Andere Stationen dieses Netzwerkes befinden sich über die ganze Welt verteilt.

Der Berliner Beitrag zum Kunstprojekt „inscrire“ in der U-Bahn-Station Westhafen. Foto: Anna-Lena Wenzel

Als ich wieder an die Oberfläche komme, stehe ich auf dem Bürgersteig einer schmalen Kopfsteinpflasterstraße und schaue auf einen Spritzenmülleimer. Um zum Landesamt für Einwanderung zu kommen, müsste ich rechts abbiegen, aber ich will ja zum Westhafen und der ist links. Es ist der einzige Zugang für Fußgänger*innen und Autos zu dem 430.000 Quadratmeter großen Areal – dem größten Hafen Berlins und „einem bedeutenden Umschlag- und Lagerplatz für die Binnenschifffahrt“, wie es auf Wikipedia heißt. Seit 1923 wird er von der BEHALA (Berliner Hafen- und Lagerhaus AG) betrieben. In der Berliner Denkmaldatenbank wird ebenfalls die besondere Bedeutung des Westhafens hervorgehoben: „Mit den architektonisch und technisch anspruchsvollen Lager- und Umschlageinrichtungen und dem durchdachten betriebstechnischen Konzept zeugt der Westhafen von der großen Bedeutung, die der Schiffsverkehr im 20. Jahrhundert für die Versorgung der deutschen Hauptstadt besaß.“[2] Er wird im Norden vom Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal und im Süden von Bahntrassen begrenzt.

Mein Blick wandert von den hoch aufragenden, geometrischen, weißen Silos des Asphaltmischwerkes zum großen, alten Getreidespeicher (unschwer zu erkennen an der Ähre auf seiner Backsteinfassade). Was da wohl heute drin ist? Nachdem ich ein Foto gemacht habe, werde ich von zwei Personen angesprochen, die mich fragen, was ich suchen würde. Ich antworte, dass ich mich ein bisschen umschaue und frage nach dem Weg zur Kunstwerkstatt imPerfekt, weil ich vermute, dass die beiden dort arbeiten. Sie weisen mir den Weg und ich verspreche, nach dem Mittagessen bei ihnen vorbeizuschauen.

Historischer Ausflugsdampfer vor den Silos des Asphaltmischwerkes. Foto: Anna-Lena Wenzel

Ich laufe die abschüssige Straße hinunter auf das Hafengelände zu und halte mich rechts, gehe vorbei an einer längeren Lagerhalle mit einem Hinweis auf die Firma fittrans („Wir lösen Ihre Transportprobleme flexibel und individuell in kürzester Zeit“) und einer weiteren mit dem Schriftzug Andupez – Spanische Lebensmittel – Import, Großhandel. Es brausen auffällig viele orange-weiß gekachelte Müllautos an mir vorbei, und als ich weitergehe, weiß ich auch warum, denn ein Stück weiter befindet sich eine Betriebsstätte der BSR. Je näher ich komme, desto lauter wird das Geräusch rieselnden Glases: der Glasumschlagplatz wird flankiert von Abstellflächen für Papier und Metall, das klein geschreddert vor sich hin dampft. Ein Stück weiter an der Spitze der Landzunge befindet sich ein Gebäude des Unternehmens Schwenk, das hier Beton herstellt. Auf dem Weg zurück laufe ich an langgezogenen Logistikhallen vorbei und vermute, dass sich hier früher ein weiteres Hafenbecken befand, das 2001 zugeschüttet wurde, um Platz für Speditionsgebäude zu schaffen.

An einer Stelle kann ich durch die Hallen zum Hafenbecken sehen und erkenne ein Filmset. Wo früher malocht wurde, wird jetzt also Kultur produziert. Ich gehe weiter und stehe endlich am Wasser. Es handelt sich um das nördliche der beiden Becken, die parallel zum Schifffahrtskanal verlaufen. Hier liegen ein paar Ausflugsschiffe vor Anker, ansonsten ist nichts los, die ehemaligen Kräne sind zwar noch da, aber nicht mehr in Betrieb. Ich komme an der Eventlocation WECC vorbei, die sich in einem der ehemaligen Speicher befindet, aber da gerade umgebaut wird, kann ich keinen Blick in die große Veranstaltungshalle werfen. Ich muss mit einem Foto auf einem Lieferwagen vorlieb nehmen, der vor dem Gebäude parkt, um mir die eindrucksvollen Dimensionen der Halle vorzustellen.

Foto: Anna-Lena Wenzel

Ich laufe weiter, unter einem Saugkran hindurch auf das letzte große Speichergebäude am Ende des Kais zu. Es beherbergt das Außenmagazin der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) und das Zentrale Grundbucharchiv. Ein Mitarbeiter macht eine Zigarettenpause und ich spreche ihn an, um zu erfahren, wie es sich hier arbeitet. Zusammen umrunden wir das Haus und sind plötzlich umgeben von Wasser – der Schifffahrtskanal sammelt sich zu einem größeren Becken und geht hier in den Westhafenkanal über. Nach Norden zweigt der Hohenzollerkanal ab. „Es ist ein einzigartiger Ort, man ist umgeben von Industrie und Natur. Hier vorne ist die Lieblingsstelle der Kormorane. Da stellen sie sich auf den Poller und lassen ihre Flügel trocknen. Da hinten ist der Plötzensee. Das ist nur ein Katzensprung, aber weil es nur einen Übergang gibt, muss man einen weiten Bogen machen.“ Er weist mich auf den Schrottplatz in Richtung Süden hin, und erzählt, dass es manchmal aussieht wie eine Disko, wenn mehrere Kräne im Einsatz sind und ihre Arme hin- und herschwenken. Als wir wieder zurück im Innenhof stehen, zeigt er auf ein leeres Taubennest auf dem Boden und erzählt, dass hier oben ein Turmfalke sein Nest habe, der sich öfter mit den Tauben zanke.  

Auf dem Weg zurück laufe ich am Containerterminal vorbei, hier ist richtig Betrieb. Auf der Website der BEHALA ist nachzulesen: „Unser trimodales City-GVZ Westhafen ist mit zwei Containerbrücken, Reach Stacker, Leercontainerstapler sowie einer Gleislänge von 2 x 350 m ausgestattet. Stellplätze für Kühl- und Gefahrgutcontainer stehen zur Verfügung. Zusätzlich bietet das Leerdepot mit 120 m Gleisanschluss Platz für 800 TEU Leercontainer.“[3]

Allein das langgezogene Speichergebäude steht leer. Ich finde ein Schild der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz und klingle beim Pförtner. Er sagt mir, dass der Lesesaal zurzeit nicht in Benutzung und auch das Magazin nicht in Betrieb sei.

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Foto: Anna-Lena Wenzel

In das kleine Gebäude gegenüber, mit dem Schriftzug „Badehaus“ versehen, gehen gerade zwei Männer in orangefarbener Arbeitskleidung herein. Es sind Mitarbeiter der BEHALA, die ich frage, ob hier immer noch das Badehaus für die Hafenarbeiter drin sei. Sie schütteln lachend den Kopf und erklären, dass in dem Haus nun die Verwaltung untergebracht sei und man gegenüber dusche, wo die Sanitäranlagen etwas moderner seien. Alt und neu sind hier ständig nah beieinander, manchmal haben die alten Gebäude eine neue Funktion erhalten, manchmal dienen sie nur als Denkmal (wie der klapprige Kran auf Schienen vor dem Badehaus, dessen Anblick durch ein Schild verdeckt wird, auf dem darauf hingewiesen wird, dass der Abstellplatz nur für LKWs während der Abfertigung genutzt werden darf). Ein paar Meter weiter befindet sich ein Container, der vom Strukturwandel zeugt, dem der Hafen unterliegt: „HyCube“ heißt er und ist Teil des Forschungsprojektes „Elektra“. Dieses „dient der Erforschung und Realisierung eines emissionsfreien Energiesystems am Beispiel eines Kanalschubbootes“. Es handelt sich um ein Kooperationsprojekt von BEHALA und der TU Berlin, mit dem Ziel, optimale Lösungen für die Energienutzung in der zukünftigen Schifffahrt zu entwickeln.

Foto: Anna-Lena Wenzel

Ein kurzer Blick in das markante Verwaltungsgebäude mit dem hohen Turm führt mich noch einmal zurück zu den Anfängen, denn ich entdecke an der Wand im Treppenhaus eine Tafel zum ehrenden Gedächtnis an Friedrich Krause (1856 – 1925), dem Erbauer des Westhafens und Stadtbaurat, Geh. Baurat, Dr. Ing E. H. Stadtältester. Krause hat damit gerade noch die Inbetriebnahme des Westhafens 1923 erleben dürfen. Dessen Entstehung aber reicht ins Jahr 1895 zurück, „als die Berliner Kaufmannschaft den Magistrat aufforderte, im Osten und Westen zwei große Häfen zu schaffen. […] Erst musste das Gelände des 1865 gegründeten evangelischen Johannesstifts aufgekauft werden. […] 1914 konnte endlich mit dem Bodenaushub begonnen werden. Die Arbeiten schritten anfangs zügig voran, mussten dann aber im Ersten Weltkrieg unterbrochen werden. Erst 1923 nahm der Westhafen mit zwei Becken, Verwaltungsgebäude, fünf Speichern, Casino und kleineren technischen Bauten seinen Betrieb auf“, heißt es auf der Seite des Landesdenkmalamts. Und weiter: „Schon 1924-27 [wurde] eine Erweiterung mit einem dritten Hafenbecken und neun weiteren Lagergebäuden ausgeführt. Bis zum Zweiten Weltkrieg war der Westhafen der zweitgrößte Binnenhafen Deutschlands. Friedrich Krause und Richard Wolffenstein schufen eine eigenständige Hafenstadt, die bis heute nichts von ihrer beeindruckenden architektonischen Geschlossenheit und betriebstechnischen Funktionalität verloren hat.“[4]

Kantine im ehemaligen Pförtnerhäuschen. Foto: Anna-Lena Wenzel

Im Gebäude nebenan, der ehemaligen Hafengaststätte, befindet sich die Kunstwerkstatt imPerfekt, die von einem großen Garten flankiert wird – ungefähr das einzige Grün des ganzen Hafengeländes. Als ich den Eingangsbereich betrete, ist noch Unruhe im Haus, weil alle gerade erst vom Mittagessen zurück sind. Dennoch gibt es einen herzlichen Empfang und ein Mitarbeiter bietet mir an, mich herumzuführen. Er heißt Strahinja Skoko, wird aber von allen Straja genannt. Während wir von Zimmer zu Zimmer laufen, erzählt er, dass imPerfekt eine Einrichtung der Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung sei, die in der Westhafenstraße 1, also gleich um die Ecke, ihren Hauptsitz hat. Das Gebäude ist Werkstatt und Galerie in einem. Man kann den Künstler*innen beim Arbeiten zuschauen und zugleich Werke erwerben, die in den Fluren, Regalen und Fensterbrettern hängen und stehen. Die Künstler*innen arbeiten vielseitig: es gibt figurative und abstrakte Malerei, Poesie, Stickerei, Lampen und mit Mosaiken beklebte Steine. Neben einer Teeküche und einem Ruheraum gibt es zwei kleinere Werkstatträume, in denen zurzeit ein größerer Auftrag ausgeführt wird: kleine Bären aus Gips und Kaffee werden hier bemalt und lackiert und später vom Auftraggeber als Give Aways an Kund*innen verschenkt. Straja fährt fort, mir einen Einblick in die Struktur von imPerfekt zu geben. Er erzählt, dass hier bis zu 40 Personen arbeiten, die von acht Leuten betreut werden, die entweder Künstler*innen seien wie er oder aus dem sozialen Bereich kommen. Los geht es morgens um 7:30 Uhr bis um 15:00 Uhr. Als letztes zeigt er mir die Räume, in denen früher das Casino war und sich heute ein Besprechungszimmer befindet.

Zum Abschluss kehre ich in der kleinen Kantine ein, die im ehemaligen Pförtnerhäuschen untergebracht ist. Es gibt deftige Hausmannskost. Ich bestelle Kartoffelsuppe und Tee, im Hintergrund läuft der Fernseher. Gerade wird berichtet, dass in Kreuzberg eine frühere RAF-Terroristin verhaftet wurde. Fast hätte ich vergessen, dass ich in Berlin bin.


[1] Vgl. https://www.inscrire.com/en/projet/heinrich-heine-at-westhafen/, alle Websites aufgerufen am 1.3.2024.

[2] https://denkmaldatenbank.berlin.de/daobj.php?obj_dok_nr=09050366

[3] https://www.behala.de/unsere-logistikdienstleistungen/

[4] https://denkmaldatenbank.berlin.de/daobj.php?obj_dok_nr=09050366

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