Ferial Nadja Karrasch

Immer wieder Neues zu lernen, die Welt für einen Augenblick mit den Augen einer fremden Person sehen, sich auf die unterschiedlichsten Perspektiven einlassen – das sind nur einige Aspekte, die Ferial Nadja Karrasch an ihrer Tätigkeit als Kunstjournalistin so schätzt. Sie lebt in Berlin und schreibt für verschiedene digitale und analoge Formate über Kunst und Kultur. Studiert hat sie Kunstwissenschaft, Philosophie und Ausstellungspraxis an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, an der Universiteit van Amsterdam sowie an der Universität der Künste Berlin.

„Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister…“

29.01.2020
Ausstellungsansicht im DAZ, Foto: Leon Lenk

Im Deustchen Architektur Zentrum ist bis zum 2.2.2020 die Ausstellung „Letters to the Mayor: Berlin" zu sehen. Ferial Nadja Karrasch hat sich durch die Briefe gelesen und war bei einer Veranstaltung mit Katrin Lompscher, Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, dabei.

„Die Zukunft in unserer wachsenden Stadt zu gestalten, ist eine Aufgabe, die nicht nur Politik und Verwaltung berührt. Dieser Auftrag bedarf weiterer Kräfte, sich mit ihren Institutionen und ihren Köpfen einzubringen. In diesem Sinne sind alle am Prozess Beteiligten und in Berlin Aktiven aufgefordert, sich weiter in die Zukunftsgestaltung Berlins und die Umsetzung der Berlin-Strategie einzubringen. Ich freue mich auf Ihre Beiträge.“

Mit diesem Aufruf zur Teilnahme endet das Vorwort des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller zur „Berlin-Strategie“, die als Teil des „Stadtentwicklungskonzepts Berlin 2030“ ein Leitbild für die langfristige, zukunftsfähige Entwicklung der Hauptstadt bietet.

Am 15.11.2019, dem Eröffnungsabend der Ausstellung „Letters to the Mayor: Berlin“ im Deutschen Architektur Zentrum (DAZ), wurden dem Regierenden Bürgermeister 100 solcher Beiträge in Form von Briefen überreicht. In ihnen adressieren Architekt*innen und Akteur*innen der Stadt ihre Ideen und Visionen für die Zukunft Berlins, aber auch ihre Erwartungen und Forderungen an Michael Müller.

Noch bis zum 2. Februar liegen die Briefe im DAZ aus und können, aufgeteilt auf vier dicke Ordner, eingesehen und kopiert werden.

Es finden sich hier die unterschiedlichsten Gedanken – von der Bitte, eine Lösung für das mittlerweile viel zu laute Martinshorn zu finden (Stephen K. Molloy und Gunnar Rönsch), über die Empfehlung, die 361 Tankstellen Berlins zu Elektroauto-Ladestellen und Wohnflächen umzugestalten (Peter L. Wilson) , bis hin zu der dringenden Bitte, Lebensraum nicht zu „verscherbeln“ und „wehrhaft gegen die Airbnb-Entvölkerung“ zu bleiben. So schreibt Katrin Voermanek: „Unser Bezirk kann die Touristen verkraften und heißt sie auch gerne willkommen. Aber Mitte braucht auch „echte“ Bewohner, und zwar aus allen Alters- und Einkommensschichten. Nicht nur die Museumsinsel und die angesagten Flagship-Stores bestimmen das Bild der Stadt. Auch wir tun es. Dieser Teil Berlins verliert sein Herz, wenn er seine angestammten Bewohner verliert, weil sie ihn sich nicht mehr leisten können.“

Manches ist naheliegend, so wie der Vorschlag, ein Tempolimit einzurichten und der Appell, Privatisierung und Gentrifizierung zu stoppen. Anderes ist visionär, beispielsweise die Einrichtung einer „Sonderwirtschaftszone Berlin“ (Christopher Dell), in der unter anderem Modi des Grundeinkommens erprobt werden könnten. Immer wiederkehrend ist der Aspekt der Freiräume, zum einen als Raum für Experimente, zum anderen als Antwort auf die „Sehnsucht nach Schatten, Grün und Zusammenkunft“ (Helga Blocksdorf).

Das globale Ausstellungsprojekt „Letters to the Mayor“ wurde von der New Yorker Organisation Storefront for Art and Architecture entwickelt und fand nach der ersten Station 2014 in New York bereits in zahlreichen Städten überall auf der Welt statt, unter anderem in Bogotá, Mexico City, São Paulo, Oslo, Madrid, Seoul und Rotterdam.

Podiumsdiskussion mit Katrin Lombscher, Foto: Leon Lenk

Zum Abschluss der Berliner Ausstellung stellten am 22. Januar sechs der Verfasser*innen ihre Briefe vor: Yildiz Aslandogan, Eike Becker (Eicke Becker_Architekten), Bettina Götz (ARTEC), Alexander Römer (Construclab-Berlin), Annelie Seemann (Seemann – Torras Architektur) und Christoph Zeller (Zeller & Moye). Moderiert von Matthias Böttger, Künstlerischer Leiter des DAZ, wurden die unterschiedlichen Ideen und Anregungen mit Katrin Lompscher, Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen diskutiert.

Liegt die Lösung der Berliner Wohnsituation im Neubau, in der Anpassung des Baurechts und in einer Verdichtung der Stadt, so wie von Eike Becker vorgeschlagen? Die Städte müssen, so Becker, „unbedingt dichter werden. Weil dichte Städte leistungsfähiger sind. Dichte Städte sind Städte mit kurzen Wegen. Sie sind ökologischer, ökonomischer, sozialer und kreativer. Hier kommen Menschen zusammen, hier ist das quirlige Leben, hier bieten sich die beruflichen und privaten Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes, kreatives und entwicklungsfähiges Dasein.“

Oder liegt dem entgegengesetzt und gerade mit Blick auf Ökologie und Nachhaltigkeit die Lösung vielmehr in dem, was bereits vorhanden ist: So schlagen Christoph Zeller und Ingrid Moye in ihrem Brief vor, die „Nachverdichtung individuell pro Grundstück als vertikale Erweiterung der Dachlandschaft zu gestalten“. Auf diese Weise ließen sich auf Grundlage bereits existierender Gebäude nicht nur Wohnraum sondern auch Grünflächen schaffen, die Platz für Urban Farming sowie für öffentlich und privat genutzte Gärten schaffen würden. Ferner könnte es hier unzugängliche Räume geben, in denen „eine neue Biodiversität von Flora und Fauna in der Stadt“ ermöglicht werden könnte.

Oder ist es nicht doch, wie von Matthias Böttger eingeworfen, mittlerweile an der Zeit, sich zu fragen, ob Neubau aus ökologischer Sicht überhaupt noch vertretbar ist. Müsse Wohnen und Wohnungsbau nicht vielmehr komplett neu gedacht werden?

Annelie Seemann plädierte in ihrem Brief und vor Ort eindeutig dafür, das Bestehende zu bewahren, anstatt Neues zu bauen. An die Politik richtete sie die Forderung, mittels „Subventionierung von Werterhaltung, langlebigen Bauens sowie der Verwendung natürlicher und rückführbarer Baustoffe“ ein Umdenken in der Art und Weise des Bauens anzustoßen. Sie erinnerte außerdem daran, dass der Bau öffentlicher Gebäude, wie dem Berliner Schloss und dem Flughafen BER sowie der Umbau der Bauakademie Projekte seien, die wegweisend sein sollten in Hinblick auf „intelligente und innovative Architektur und Stadtplanung“.

Katrin Lompscher reagierte auf diese und weitere Anregungen und Forderungen häufig mit Verweisen auf bereits Erreichtes (Räume für Experimente seien beispielsweise im ehemaligen Haus der Statistik und im Dragoner-Areal gegeben, ökologisches und nachhaltiges Bauen finde sich im vermehrten Einsatz der Holzbauweise und, um Räume des Sozialen schaffen zu können seien die Förderrichtlinien für sozialen Wohnungsbau weiterentwickelt worden). Sie wies jedoch auch auf Versäumnisse in der Vergangenheit hin – so beispielsweise auf die fehlende Stetigkeit im Wohnungsbau.

Dem Einwurf, Berlin sei der nach der Wende aufgekommene Enthusiasmus verloren gegangen, entgegnete sie: „Die Vorstellung, dass die Stadtentwicklungssenatorin den Enthusiasmus entfesselt, ist abwegig.“ Dieser müsse nicht von der Politik, sondern von den Leuten kommen. Aufgabe der Politik sei es, entsprechende Prozesse beratschlagend zu begleiten und gegebenenfalls zu fördern, die Initiative müsse jedoch von anderer Stelle kommen. „Was hat denn die Politik gemacht“, fragte sie, „als die ganze Stadt verrückt gespielt hat? Sie hat sich auf Olympia beworben.“

Und tatsächlich ist es interessant, was mit den vielen Vorschlägen, die im Zuge des Projekts „Letters to the Mayor: Berlin“ entstanden, geschieht. Zwar liegen die Briefe dem Bürgermeister und der Stadtentwicklungssenatorin vor, es ist jedoch fraglich, dass allein hierdurch ein Prozess ins Rollen gebracht wird.

Eine Lösung könnte der Vorschlag der Urbanistin und Kuratorin Sally Below sein: „Deshalb schlage ich vor, ein*e Baubeauftragte*n für den öffentlichen Raum zu bestellen, die oder der mit einem gut ausgestatteten Verfügungsfonds dort wirkt, wo die Lücke zwischen Ressorts, Planungsaufträgen und dem großen Ganzen besteht: Vorschläge von Initiativen sortieren und bündeln, gemeinsam mit Engagierten aus der Bevölkerung Veränderungen im Wohnumfeld anstoßen, Restflächen qualifizieren, öffentliche Gebäude begrünen und vieles mehr.“

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