In ihrem Buch „Potsdamer Straße: Geschichten, Mythen und Metamorphosen“ bringen es die Autoren Sibylle Nägele und Joy Markert auf den Punkt: „Die Potsdamer Straße war in ihrer Ausstrahlung und Widersprüchlichkeit schon immer eine der faszinierendsten Straßen Berlins: mit Alteingesessenen und Migranten, Kultur und Amüsement, Glanz und Milieu, Kontinuität und Brüchen. Sie war ein Ort der künstlerischen Neuerungen und der Emanzipationsbewegungen. Hier lebten Chamisso, Menzel, Fontane, Hedwig Dohm, Joseph Roth. Die Schriftstellerin Lina Morgenstern aus der Potsdamer Straße initiierte 1896 den ersten internationalen Frauenkongress. 1910 wurde der ‚Sportpalast‘ eröffnet. 1913 veranstaltete Herwarth Walden den ‚Ersten Deutschen Herbstsalon‘ internationaler moderner Kunst. 1923 kam aus dem ‚Vox-Haus‘ die erste allgemeine Rundfunksendung. 1954 zog der Verlag ‚Der Tagesspiegel‘ in die Potsdamer Straße. 1970 wurde das ‚Quartier Latin‘ eröffnet, ein Ort für Jazz, Rock und Pop. Heute ist hier das Varieté ‚Wintergarten‘.“[1]
Tatsächlich geht es kaum kontrastreicher und historisch wechselvoller: die Potsdamer Straße zieht sich durch die Stadtteile Schöneberg und Mitte. Sie lockt in einem Teil die Tourist*innen und im anderen die internationale Kunstszene an, ist von Hochhäusern und zahlreichen öffentlichen Institutionen flankiert und ist zugleich ganz normales Wohngebiet.
Auch historisch hat die Straße einige Entwicklungen durchgemacht: als sie 1793 befestigt wurde, verband sie die königlichen Residenzen Berlin und Potsdam und war eine der ersten „Kunststraßen“ Preußens. Mit dem 20. Jahrhundert wurde sie zur Ausgeh- und Rotlichtmeile, Niemandsland und Hausbesetzerrefugium. Heute ist sie Teil der Bundesstraße 1 mit einer der höchsten Feinstaubbelastungen der Stadt.
Beginnt man im Schöneberger-Teil ist sie am Anfang noch ruhig und kündigt mit den herrschaftlichen barocken Königskolonnaden von einer fernen Zeit. Im Mittelteil, wo die Bülowstraße und die Kurfürstenstraße kreuzen, wird es immer wuseliger. Hier im migrantisch geprägten Teil befinden sich zahleiche Läden, Cafés und Restaurants. Im nächsten Abschnitt folgen Unterhaltungsetablissements wie das Wintergarten Variété und eine wachsende Anzahl von Konzeptstores und Galerien bis dann die geballte Hochkultur in imposanter Form die Straße säumt: Neue Nationalgalerie, Staatsbibliothek und Philharmonie zeugen von der architektonischen Aufbruchsstimmung in den 1970er Jahren. Biegt man um die Ecke auf die Gerade ein, befindet man sich mitten auf dem Potsdamer Platz, der heute durch die Hochhaus-Architektur der 1990er Jahre geprägt ist, sich aber bis zum Mauerfall durch eine große Leere auszeichnete.
Weil die wenigsten die „Potse“, wie die Straße auch liebevoll genannt wird, in ihrer ganzen Vielfalt erleben und vielmehr gezielt einen bestimmten Orte ansteuern, versucht dieses Porträt die verschiedenen Gesichter dieser Straße einzufangen und Sie als Leser*in auf einen Lese-Spaziergang mitzunehmen. Denn: Die Straße wirkt wie ein Brennglas, durch das sich das Gesicht und die Veränderungen der Stadt beobachten lassen. Und: „Die Potsdamer Straße ist wie Berlin – nicht hübsch, nicht hässlich, etwas grob, aber mit Potenzial – hier geht noch mehr“, wie Stephan von Dassel, Bezirksbürgermeister von Mitte treffend bemerkt.[2]
Bruchstücke der Geschichte und eine Gegenwart im Umbau
Wir beginnen am Potsdamer Platz, dort, wo die Potsdamer Straße am anonymsten erscheint und man sich zwischen den Hochhäusern etwas verloren vorkommt. Hier steht gleich zu Anfang ein ehemaliges Mauerstück mit einem leuchtendgelben Peacezeichen, das auf der Rückseite mit diversen Kaugummis gepflastert ist und damit von einer eigenwilligen Aneignung kündet. Daneben befindet sich eine Stele mit einem historischen Foto, auf dem der Eingang zur S-Bahn von 1962 abgebildet ist: auf dem Foto steht, dass der Eingang gesperrt ist. Nach dem Bau der Mauer wurde der Bahnhof zugemacht, die Züge fuhren durch. Der Bahnhof war einer der sogenannten Geisterbahnhöfe. Das war umso verstörender, als der Potsdamer Platz bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs einer der verkehrsreichsten Plätze Europas war und hier 1924 eine der ersten Verkehrsampelanlagen auf dem Kontinent aufgestellt wurde, die heute dort auch wieder in einer rekonstruierten Version zu sehen ist. Geht man ein Stück weiter ins Sony-Center hinein, steht man vor den Resten eines historischen Gebäudes, das in Glas eingebaut komplett musealisiert ist. Es handelt sich um das Grand Hotel Esplanade, das während der “Goldenen Zwanziger Jahre“ zu den berühmtesten Hotels Berlins gehörte.
Es folgen mehrere Institutionen, die sich dem Film widmen: die Deutsche Kinemathek –Museum für Film und Fernsehen, das Kino arsenal und die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), die sich seit 2000 hier befinden. Bereits bei der Eröffnung sprach der damalige Akademiedirektor und Filmregisseur Reinhard Hauff den „Spagat zwischen künstlerischem Anspruch und kommerziellen Notwendigkeiten draußen“ an, der den Studierenden durch das Umfeld des Potsdamer Platz Ensembles drohe.[3] Von dem Versuch die Potsdamer Straße zu einem zweiten Hollywood Walk of Fame zu machen, kündet der rote „Boulevard der Stars“ auf dem Mittelstreifen, in den Sterne mit Namen von Film- und Fernsehstars wie Lotte Reiniger und Thomas Gottschalk eingelassen sind. Tipp: Wer eine günstige Gastronomiealternative sucht und gerne einen Blick von oben auf das Sony-Center Areal werfen möchte, der besucht die Kantine der DFFB, das Helene-Schwarz-Café.
Es folgt ein großer Sprung über das Kulturforumsgelände hinweg, dessen Vorplatz mit seinem Skulpturenpark bald zur Baustelle werden wird für ein Museum des 20. Jahrhunderts, vorbei an der Neuen Nationalgalerie, die bereits eine Baustelle ist, vorbei auch an der Staatsbibliothek, die eine lange Renovierungsphase nun endlich hinter sich hat, in den belebteren Teil der Potsdamer Straße. Hier wird es wieder kontrastreicher: Gleich am Anfang befindet sich das Kundenzentrum des Berliner Wohnungsbauunternehmens degewo, direkt gegenüber ist ein mehrgeschossiges Studentenwohnheim. In deren Gewerbeeinheiten befinden sich in nachbarschaftlicher Koexistenz eine Autowerkstatt und mehrere Galerien für zeitgenössische Kunst. Auf der anderen Seite wiederum versteckt sich in der Nummer 68 der Stoffladen der Gebrüder Berger. Das traditionsreiche Unternehmen, das 1919 gegründet wurde, verfügt über ein riesiges Sortiment an Stoffen aus aller Welt.
Früher Druckerei – heute Konzeptstore
Exemplarisch lassen sich die Veränderungen der Straße an der Nummer 87 nachzeichnen. Seit 1954 wurde hier der Tagesspiegel gedruckt und ein eigenes Verlagshaus gebaut, das der Verlag bis 2009 nutzte. Das Grundstück mit den Nummern 77 bis 87 wurde von der Immobilienverwaltungsfirma Arnold Kuthe übernommen. Sie besitzt auch das Grundstück gegenüber, auf dem sich das Wintergarten Varieté befindet. Ihr Konzept Galerien, Modeläden, Kreative und Gastronomie auf dem Gelände anzusiedeln, ist mittlerweile aufgegangen. Zuletzt eröffnete hier im November das Times Art Center Berlin (TACB) – ein neuer experimenteller Raum für zeitgenössische Kunst aus China. Mit dem Kunstklientel hat sich das Gesicht der Straße wieder ein Stück gewandelt: Beim In-Japaner Sticks ’n’ Sushi ein paar Häuser davor, können sich die Kunstsammler*innen vor oder nach dem Kunstshoppen stärken: die gehobene Küche bietet feuchtwarme Frotteetücher zum Erfrischen und Menüs wie „Extravaganza“ à 105 Euro für zwei Personen.
Hausbesetzerszene und DDR-Opposition
Mit einem Sprung über die Kurfürstenstraße wechselt man den Bezirk, von Mitte nach Schöneberg. In der Nr. 131 befand sich von 1987 bis 1991 der private Hörfunksender Radio 100. „Aufsehen erregte seine monatliche Sendung Radio Glasnost, in der für die DDR-Bevölkerung wichtige Nachrichten verbreitet wurden. Radio Glasnost war ein deutsch-deutsches Gemeinschaftswerk von Westberliner Journalisten, aus der DDR ausgebürgerten Bürgerrechtler*innen und ostdeutschen Oppositionellen. Insgesamt wurden bis November 1989 neunundzwanzig Sendungen ausgestrahlt.“[4]
An die gewaltvolle Seite der Hausbesetzerzeit erinnert an der Kreuzung Potsdamer /Ecke Bülowstraße eine Gedenktafel im Bürgersteig, mit dem Namen und den Lebensdaten von Klaus-Jürgen Rattay. Der Hausbesetzer war bei einem Polizeieinsatz am 22. September 1981 unterhalb der Hochbahntrasse von einem Linienbus erfasst worden und verstorben.
Im folgenden Abschnitt befinden sich einige der damals besetzten Häuser: Das Haus in der Potsdamer Straße Nummer 157 – 159 wurde 1981 besetzt, seit 1983 ist die Besetzung durch einen Pachtvertrag legalisiert. Spätestens in 20 Jahren müssen die Bewohner*innen die Gebäude der Wohnungsbaugesellschaft Gewobag zurückgeben. Lange befand sich hier die legendär gewordene Kneipe K.O.B., in der die Toten Hosen ebenso spielten wie Element of Crime. 2001 zog das Ex’n’Pop ein, eine weitere Untergrund-Institution, in der Blixa Bargeld, Nick Cave und Wim Wenders abhingen, Ben und Meret Becker Theaterstücke aufführten und die ersten Poetry-Slams Berlin stattfanden. Doch am 1. November 2016 wurde der Betrieb eingestellt. Toi toi toi! – Dieses Schicksal hat die BEGiNE, die sich ebenfalls in einem – von Frauen – besetzten Haus befindet, nicht erlitten. Der Kulturtreffpunkt für Frauen in der Potsdamer Str. 139 hat vor zwei Jahren sein 30-jähriges Bestehen gefeiert.
Wechselvolle Geschichte und heutige Umbrüche
Ein Stück weiter runter, quert man die Pallasstraße und hat einen eindrücklichen Blick auf das Pallaseum, besser bekannt unter dem Namen Sozialpalast, einem Gebäuderiegel, der die Straße überspannt, und lange Jahre als Problemfall galt, bis 1999 das gesamte Gebiet der Potsdamer Straße zum Quartiersmanagementgebiet erklärt wurde und viele Gelder in soziale, kulturelle und nachbarschaftliche Projekte geflossen sind. Seit 2017 steht es unter Denkmalschutz und entkommt damit wohl dem Schicksal des Vorgängergebäudes: Bis 1973 stand hier, in der Potsdamer Straße 172 der Berliner Sportpalast – eine vielseitig nutzbare Veranstaltungshalle für mehr als 10.000 Besucher*innen. Hier hielt Joseph Goebbels seine Sportpalastrede, in der er 1943 zum „Totalen Krieg“ aufrief.
An der anderen Ecke befindet sich in der Nummer 180, der Drugstore, das älteste selbstverwaltete Jugendzentrum Berlins, das im September 1972 eröffnet wurde.Das Gebäude gehörte bis 1987 dem Bezirk, bevor es aus finanziellen Gründen verkauft wurde. Schon 2015 gab es langwierige Verhandlungen zwischen Bezirk und Eigentümer wegen einer Mieterhöhung, damals konnte eine Mietverlängerung von zwei Jahren ausgehandelt werden, die noch mal bis Januar 2019 ausgedehnt wurde. Trotz geführten Gesprächen mit Gewobag und BIM (Building Information Modeling) ist die Zukunft des Drugstores nicht gesichert.
Wir schlendern weiter, vorbei an den Königskolonnaden, die zwischen 1777 und 1780 erbaut wurden, sich aber erst seit 1910 hier befinden, quasi im Exil, weil das ursprüngliche Bauensemble an der Königsbrücke, zu dem die Kolonnaden gehörten, einem Neubau weichen musste. Heute wirkt der pompöse Bau, der den Weg zum Kammergericht flankiert, merkwürdig aus der Zeit gefallen.
Der Spaziergang endet an der U-Bahn Haltestelle Kleistpark im Nachbarbezirk Schöneberg, wo sich auf der linken Seite mit den Nummern 188-192 ein Gebäude befindet, das von 1938 bis 1939 als Verwaltungsgebäude für die Bauleitung der Reichsautobahn errichtet wurde, lange Zeit die Hauptverwaltung der Berliner Verkehrsbetriebe war und nun die Hochschule der populären Künste und Coworking-Spaces beherbergt.
Die Geschichte des Hauses deutet die Gefahren an, die in den Veränderungen der Bewohnerschaft der Potsdamer Straße liegen. Denn wenn sich die Angebote zusehends an ein „besser gestelltes Klientel“ wenden, drohen die Angebote für die Bewohner*innen vor Ort wegzubrechen. Ein Drittel der Bewohner*innen lebt von staatlicher Unterstützung. Die Interessengemeinschaft Potsdamer Straße, die es seit 1986 gibt, warnt vor einem allzu großen Wandel, der für viele fatal wäre: „Wir sagen nein zu Zuzügler*innen bzw. auch bereits vorhandenen Eigentümer*innen, die in kurzer Zeit das besondere Miteinander und tolerante Nebeneinander im Gebiet zerstören, nur weil es für ihren Kommerz und ihre Rendite vorteilhaft ist, im Zentrum Berlins angesiedelt zu sein oder sie mit den sozialen Ausrichtungen einiger Gruppen nicht einverstanden sind.“[5]
[1] http://metropol-verlag.de/produkt/sibylle-naegelejoy-markert-die-potsdamer-strasse/
[2] https://www.tagesspiegel.de/berlin/die-potsdamer-strasse-im-wandel-verkommen-um-zu-bleiben/20240342.html
[3] https://www.tagesspiegel.de/berlin/dffb-eroeffnete-neues-domizil-filmhochschule-jetzt-am-potsdamer-platz/174772.html
[4] http://revolution89.de/revolutionsorte/potsdamer-strasse/43858a7b3ff6b8632cd7cab3735da269/?tx_rev89orte_pi1%5Bcontroller%5D=Revolutionsort
[5] http://www.ig-potsdamer-strasse.de/aktuelles