Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Von Afghanistan über Finnland zur innerdeutschen Grenze und zurück: Unterwegs in der Kolonie Wedding

22.10.2019
Kolonie Wedding Collage © Anna-Lena Wenzel

Im Soldiner Kiez im Gesundbrunnen gibt es mit der Kolonie Wedding einen Zusammenschluss von Projekträumen, die an jedem letzten Wochenende im Monat gemeinsam eröffnen. Anna-Lena Wenzel war bei einer der öffentlichen Führungen, die zu diesem Anlass angeboten werden, dabei.

Es ist der letzte Freitag im Monat und wie jeden Monat eröffnen an diesem Tag verschiedene Projekträume im Soldiner Kiez ihre Türen. Der Zusammenschluss von 22 Räumen nennt sich Kolonie Wedding und vernetzt ganz unterschiedliche Konzepte: von Kamine & Wein, einem Weinladen, der auch Veranstaltungen anbietet, über okk, das Organ Kritischer Kunst bis hin zu Spor Klübü, der schon zweimal mit dem Projektraumpreis der Senatsverwaltung für Kultur und Europa ausgezeichnet wurde, ist alles dabei. Bei einer geführten Tour gibt es die Gelegenheit von Raum zu Raum zu schlendern und in die diversen Kosmen und Communities einzutauchen, die es hier zu entdecken gibt. Dabei wechseln nicht nur die Kontexte, sondern auch die Medien, die von Video und Fotografie, über Skulpturen und einer Archivausstellung reichen.

Wir treffen uns im Prima Center Berlin um halb acht. Hier eröffnet eine Ausstellung von Dejan Djolev. Er kommt aus Mazedonien und ist 35 Jahre alt. Auf dem Flyer heißt es undogmatisch: „lives, studies, creates and loves in Skopje“. Im Prima Center, das sich auf Künstler*innen aus der Balkanregion spezialisiert hat, stellt er Fotografien aus. Auf ihnen sind Frauen vor grauem Hintergrund zu sehen, deren Oberkörper merkwürdig verkürzt und nackt sind. Der Titel: Runde Formen. Wir kommen auf Englisch mit dem Künstler ins Gespräch, immer wieder entschuldigt er sich dafür, dass er nach Wörtern suchen muss, um sich auszudrücken. Er erklärt uns, dass es sich um künstlich bearbeitete Porträts von Freundinnen von ihm handelt. Es gehe darum, dass in den sozialen Medien Nacktfotografie zensiert werden würde, zum Beispiel dürften Brustwarzen nicht gezeigt werden, weswegen sich Frauen verschiedene Strategien überlegen, wie man dieses Verbot umgehen kann – eine Form von Selbstzensur, die der Künstler mit dieser Arbeit problematisiert. Er ist neugierig zu erfahren, wie uns die Arbeiten gefallen. Nach einem kurzen Austausch ziehen wir weiter, denn es warten noch vier weitere Räume auf uns.

Inna Artemova führt uns um die Ecke, aber vorher muss sie selber noch einmal auf den Flyer schauen. Als sie sieht, dass dieses Mal nur wenige Räume dabei sind, ist sie ein bisschen überrascht, denn eigentlich sind 22 Projekträume Mitglied der Kolonie. Und auch wenn nicht immer alle mitmachen, sind doch oft mehr dabei. „Aber so haben wir mehr Zeit für jeden Raum, das ist auch ein Vorteil“, sagt sie und geht mit großen Schritten voran. Sie ist selber Künstlerin und hat im Soldiner Kiez ihr Atelier, früher hatte sie auch Ausstellungen gemacht, sagt sie, aber es sei dann doch zu viel Aufwand gewesen und sie hätte beschlossen ihren Raum nur noch als Atelier zu nutzen, und stattdessen Führungen anzubieten. Diese finden an den Eröffnungswochenenden jeweils am Freitag um 19:30 Uhr und am Sonntag um 14:30 Uhr statt und sind ein kostenloses Angebot, das von Künstler*innen und Projektraumbetreiber*innen ehrenamtlich angeboten wird.

Schnell sind wir vor dem nächsten Raum angelangt, von außen kann man in die erleuchteten Räume schauen: Es ist das Organ Kritischer Kunst, abgekürzt okk │ raum29 in der Prinzenallee, der das Museum für DaGegenwart von Manfred Reutter zu Gast hat. Manfred Reutter ist wahrscheinlich doppelt so alt wie Dejan Djolev und zeigt ebenfalls eine Fotoarbeit. Auf ihr ist der ehemalige Todesstreifen in Frohnau zu sehen kurz nach der Wende. Reutter hat um einige der Betonpfosten der DDR-Grenzbefestigung Holztapeten geklebt, getreu dem Motto von Willy Brandt: Es soll zusammenwachsen, was zusammen gehört, und diese Szenen fotografiert. Im hinteren Raum hat er eine Ausstellung, die 1991 in den Büroräumen der Württembergischen Maschinenfabrik (WMF) in Berlin-Mitte stattfand, dokumentiert, so dass man einige der Fotos doppelt sehen kann – als Original und dann als Ausstellungsdokumentation. In einer Ecke stehen mehrere grüne Plastik-Sparbüchsen der Commerzbank in Baumform als ironisches Kommentar, mit denen er das Baumthema wieder aufgreift. Auf dem Ausstellungsflyer heißt es dazu: „Über allen Gipfeln ist ruh…..Die Vöglein …,schweigen ….im ….walde….(neudeutscher Stammbaum – gesamtdeutscher Hamsterwald)“ Reutter entpuppt sich als ein Vertreter bissig-kritischen Kunst, der dem Namen des Raumes, in dem er ausstellt, alle Ehre macht.

Installationsansicht okk, Foto: Anna-Lena Wenzel

Weiter geht’s entlang zum nächsten Raum und zum nächsten Universum. Wir laufen die Soldiner Straße hinunter und biegen in die Koloniestraße ein. Drei Jungen auf E-Rollern kommen an uns vorbei und bieten uns an, uns mitzunehmen, wir lehnen lächelnd ab, vertieft in unsere Gespräche. Wir sind ein überschaubares Dreiergespann, es ist noch eine Künstlerin dabei, die neue Orte kennenlernen möchte und Ausstellungsflyer dabei hat, um sie zu verteilen. Schnell sind wir beim Thema Mieten und der aktuellen Verdrängungen. Inna Artemova berichtet, dass die meisten der Projekt- und Atelierräume in der Kolonie der degewo gehören, und dass immer noch Räume leer stehen würden, obwohl sich das Viertel schon verändert habe. Aber weil es sich um Gewerbe handele, gäbe es zum Teil Kündigungsfristen von zwei Wochen. Das schaffe Unsicherheit.

Vor der Toolbox, einem finnischen Projektraum, stehen mehrere Leute herum. Der kleine Raum ist hell erleuchtet, es stehen Getränke und eine Pizzapackung auf dem Tisch neben dem Eingang. Inna Artemova geht gleich auf die Betreiber*innen zu und erklärt, dass wir von der Kolonie Wedding kommen. Mika Karhu ist Kunstprofessor in Helsinki, er gibt uns auf Englisch eine Einführung in das Konzept der Ausstellung. Im hinteren Raum werden fünf Filme von Student*innen aus seiner Klasse gezeigt, die sich mit dem Thema Flucht beschäftigen. Im vorderen Raum sind unter dem Titel „Gott im Himmel“ drei Arbeiten von Ihana Havo zu sehen: An der hinteren Wand hängt ein Bild von Angela Merkel in bunten Farben, auf dem sie mit ausgestreckten Zeigefinger auf die Betrachter*innen zeigt. Davor liegt auf einem Sockel ein Wolfshund, eine Mischung aus Hund und Wolf und auf diese Weise eine Art Zwitterwesen zwischen domestizierten Haustier und wildem Wolf. Er ist ähnlich bunt besprayt wie Merkel, so dass deutlich wird, dass die Arbeiten zusammenhängen. Im Hintergrund hängt an dünnen Fäden eine schwarze Kopfbedeckung für den Wolfshund von der Decke, die an eine Burka erinnert. Auch wenn der Kontext ein ganz anderer ist als bei okk – auch diese Ausstellung hat eine durchaus politische Note.

Installationsansicht Toolbox, Foto: Anna-Lena Wenzel

Wir überqueren die Osloer Straße und kommen zum Kronenboden. Ein großer Raum mit zwei Schaufenstern zur Straße hin, der im hinteren Teil das Fotoatelier der Betreiberin Karen Stuke beherbergt. Die Wände sind mit einer Zeitleiste behängt, die um Infozettel, Fotografien und diverse Schallplatten ergänzt ist. Es handelt sich um das Projekt Sad am I, Glad am I von Karen Fries, die sich auf die Spuren des Sängers Mario Lanza in Europa begeben hat. Ihre Recherchen und ihre Sammlung inklusive einem Film, in dem sie ihre Reise auf den Spuren von Lanza dokumentiert, hat sie hier zusammen getragen und aufwendig inszeniert. Das Auge weiß gar nicht, wo es anfangen soll zu gucken. Karen Struke begrüßt uns herzlich und gibt uns eine kurze Einleitung. Als Fotografin arbeitet sie häufig für Opern und Theater. Ihr Projektraum agiert an der Schnittstelle von bildender Kunst, Theater und Oper und schließt die visuellen und die darstellenden Künste kurz. Neben Ausstellungen finden im Kronenboden auch Veranstaltungen und Konzerte statt. Als sie 2018 eine Ausstellung zu Enrica Caruso machte und Karen Fries einen Vortrag über Mario Lanza als dem amerikanischen Caruso beisteuerte, entstand die Idee Lanza eine eigene Ausstellung zu widmen.

Installationsansicht Kronenboden, Foto: Anna-Lena Wenzel

Die letzte Station ist das Atelier Soldina, in dem die Filmkünstlerin Karin Albers die Videoinstallation Augenblicke zeigt. Auch hier handelt es sich um einen Ladenraum mit schönem Holzboden und weiß gestrichenen Wänden. Auf dem Boden liegen mehrere Flachbildschirme auf einem Haufen, umgeben von Materialien, die an Steine oder Wüstensand erinnern. Auf den Bildschirmen laufen kurze Filmsequenzen, die maximal eine Minute lang sind, am Ende bleibt das Bild kurz stehen, in dem Moment, in dem die gefilmten Menschen in die Kamera gucken. Die Künstlerin erzählt: „Eigentlich ist es tabu beim Dokumentarfilm einen Blick in die Kamera zu nutzen. Aber die gucken so toll! Sie sind so neugierig. Besonders dieses Mädchen hat mich fasziniert, sie ändert ihren Blick von Freude über Neugier zu Skepsis – das steckt ganz viel drin.“

Installationansicht Atelier Soldina, Foto: Karin Albers

Die Filmemacherin hat die Menschen bei ihren alltäglichen Handlungen begleitet: in den dokumentarisch anmutenden, kurzen Szenen wird Brot gebacken, Wasser und Holz geholt. Das abstrakte Sprechen über den Kriegsschauplatz Afghanistan bekommt konkrete Gesichter. „Ich war zwei Wochen in Afghanistan für einen Recherchedreh. Ich habe keine Förderung bekommen, aber tolle Szenen gedreht! Es gibt noch viel mehr solcher Szenen; für die Ausstellung hier habe ich diese Auswahl getroffen:“

Die Projektraumbetreiberin Elena Ilina hatte Karin Albers über Freunde kennengelernt. „Sie hat gesagt: mach doch mal was hier. Für diesen Ansporn und die Möglichkeit, hier auszustellen, bin ich ihr dankbar.“

“Damals gab es noch ein schärferes Klima im Kiez”

Ins Atelier Soldina ist auch Susanne Schulze-Jungheim gekommen, sie ist im Vorstand der Kolonie Wedding und hat ihr Büro direkt nebenan. Sie ist Theaterpädagogin und fest im Kiez verankert – im Frühjahr hat sie um die Ecke ein Müllmuseum eröffnet, ist im Quartiersmanagement und begleitet die Aktivitäten der Kolonie Wedding schon seit 2009. Wir kommen ins Gespräch. Ich frage sie, wann die Idee zur Kolonie Wedding entstanden ist. „Uns gibt es schon seit 2001, wobei es ganz langsam angefangen hat. Die degewo hat das damals mit dem Quartiersmanagement zusammen angeleitet, dass hier Künstler*innen in die leerstehenden Läden kommen. 2004 kam die nächste Stufe und dann ist der Projektraumverbund entstanden, wie es ihn heute gibt. Wir haben eine gemeinsame Webseite und bringen zu jedem Eröffnungswochenende einen Flyer heraus. Da bieten wir auch zwei geführte Touren an.“

Anna-Lena Wenzel: Wie hat sich die Stimmung hier im Kiez seitdem verändert?

Susanne Schulze-Jungheim: Damals gab es noch ein schärferes Klima im Kiez. Am Anfang konnten gerade die Jugendlichen nicht einschätzen, was wir hier machen. Heute passiert es nur noch selten, dass die Räume beschmutzt werden. Auch daran merkt man, dass wir hier nicht mehr als Eindringlinge wahrgenommen werden. Heute sind wir der größte freie Projektraumverbund in Berlin und ein international gefragter Kunstort. Das ist auch der Grund, weswegen dieses Wochenende nur sieben Projekträume dabei sind. Denn eigentlich hätten wir einen Austausch mit dem Stadt-Museum in Novi Sad in Serbien gehabt, die wollten hier ausstellen. Aber die Ausstellung wurde kurzfristig um einen Monat verschoben.

Wir haben wahnsinnig schöne Austauschprogramme und gut installierte internationale Beziehungen, die natürlich auch Pflege brauchen. Es ist eine Sache von Jahren, bis sich das so entwickelt, aber da es mit der Toolbox oder dem Bla Bla Kunstraum, der sehr stark in der russischen Community verankert ist, Räume gibt, die diese Beziehungen mitbringen, steht das jetzt.

Karin Albers erzählt, dass Elena Illina, die Leiterin des Atelier Soldina, auch aus Russland komme und häufig Kooperationen mit russischen Künstler*innen oder Künstler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion organisiere, darunter seien Veranstaltungen mit bildender Kunst, Poesie und Musik. „Das sind immer sehr gute Veranstaltungen. Als Teil meiner letzten Arbeit MEXIKO ROH 1,2,3 gab es hier außerdem einen Austausch mit Mexiko. Das war toll.“

ALW: Inwieweit wirkt sich die angespannte Raumsituation in Berlin auf die Kolonie Wedding aus?
SSL: Auch hier wird es eng. Aber die degewo hält einige der alten Mietverträge aufrecht und dadurch, dass wir so einen guten Ruf haben, können wir das zum Teil ausgleichen. Wir kämpfen dafür, dass es gesicherter ist und sind sehr aktiv im Netzwerk freier Projekträume, darüber gibt es viel Austausch.

ALW: Was ist das Besondere an der Kolonie?

SSL: Dieser Kiez hier – und die Tatsache, dass die Gruppeneröffnungen ihn zu einem offenen, temporären Museum machen. Ich finde es super, dass es eine Ausstellungsmöglichkeit mitten in einem Kiez ist. Andere Museen bemühen sich mit Extra-Outreach-Programmen darum, diese Menschen in ihre Ausstellungen zu locken. Und wir sind mittendrin! Auch aus diesem Grund würde ich neben den Erwachsenenführungen gerne noch Führungen für Kinder und Jugendliche initiieren. Es wäre gut, die mal hier rein zu kriegen.

ALW: Wie oft trefft ihr euch von der Kolonie Wedding?

SSL: Wir haben einen Vorstand, der sich trifft, und unregelmäßige Mitgliederversammlungen, bei denen wird auch über die neuen Mitglieder entscheiden, die von einem dreiköpfigen Aufnahmegremium ausgewählt werden. Wir achten drauf, dass es ein gutes, das heißt ernstzunehmendes Raumkonzept gibt. Wir schreiben nicht, was die machen sollen, aber wir möchten, dass die Räume regelmäßig bei den Eröffnungen mitmachen. Sonst macht es keinen Sinn. Es geht schon auch darum, dass hier ein Kunstinteressiertes Publikum angezogen wird und sich das hier ein bisschen vermischt im Kiez. Das tut auch dem Kiez gut.

Als ich mich erfüllt von den vielen Eindrücken auf den Weg nach Hause mache, denke ich, dass diese Mischung nicht nur dem Kiez, sondern auch allen Besucher*innen gut tut!

Teilen