Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Was läuft … nicht. Teil VI: Digitale (Hybrid-)Formate

22.06.2021
Theater im öffentlichen Raum: Audiowalk "Tod in Venedig" von Raum + Zeit, Foto: Lena Meyer

Von November bis Mai befand sich der Kulturbetrieb erneut im Lockdown. Im Zuge dessen haben viele Institutionen wie Theater, Festivals und Museen neue Angebote ausprobiert und digitale Formate erweitert: Proxy-Führungen, Audio-Walks und virtuelle 3D-Rundgänge gehörten dazu. Anna-Lena Wenzel hat sie ausprobiert und mit Beteiligten gesprochen: Wie sind diese Angebote angenommen worden, wer hat sie entwickelt und finanziert? Und werden sie bleiben?

Proxy-Führungen

Die Laufzeit der transmediale von Februar bis März 2021 fiel komplett in die Zeit des zweiten Lockdowns. Die Festivalmacher*innen haben deshalb Proxy-Führungen angeboten, um dennoch Besuche ihrer Ausstellung Rendering Refusal in der Betonhalle des silent green und im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien zu ermöglichen. Für diese Führungen musste man sich einen Zeit-Slot buchen, eine Schutzgebühr von 2 € bezahlen und bekam dafür eine Stunde lang eine Eins-zu-eins-Führung mit einem/ Guide, der oder die vor Ort in der Ausstellung war, und mit Hilfe einer Handykamera und einem Gimble (als Halterung und Stabilisator) einen Rundgang gestreamt hat. Annina Guntli war eine dieser Guides und erzählt im Gespräch von ihren Erfahrungen. Die Kunstgeschichts-Studentin hatte zuvor ein Praktikum bei der transmediale gemacht und war daher mit den Inhalten vertraut, wobei sie noch keine Erfahrungen als Vermittlerin gesammelt hatte. Doch für das neue Format war das eventuell sogar von Vorteil.

Guntli erzählt, dass das Team aus sechs Vermittlerinnen aus unterschiedlichen Bereichen bestand, unter ihnen Kunst-Studierende, Kunstwissenschaftlerininnen und Vermittlerinnen. Angeboten wurden fünf bis sechs Slots an einem Tag, wobei die Guides ca. zwei Tage in der Woche arbeiteten, was angesichts der intensiven Begegnungen eine gute Lösung war, sagt Guntli. Die Nachfrage war groß: besonders am Anfang waren die Slots komplett ausgebucht, zum Ende der Laufzeit war es ein bisschen entspannter. Guntli berichtet, dass sowohl treue transmediale Besucherinnen dabei waren, als auch Institutionen, die das neue Format ausprobieren wollten. Einige kamen von weiter weg und waren froh, über die unaufwendige Möglichkeit, die Ausstellung besuchen zu können, andere kamen aus der unmittelbaren Nachbarschaft.

Screen aus einer Proxy-Führung durch die transmediale Ausstellung “Rendering Refusal” mit Annina Guntli

Die Führungen begannen meist mit einer ca. zehnminütigen Einführung, die von vornerein als Dialog angelegt war, bei dem die Besucher*innen ihre Wünsche formulieren und von ihrem Hintergrund erzählen konnten. Guntli sagt, sie sei überrascht gewesen, wie schnell man beim du und in einem anregenden Austausch gewesen wäre. Aus diesem Grund wären diese virtuellen Begegnungen eine tolle Erfahrung gewesen, weil sie viele unterschiedliche Perspektiven und Zugänge kennengelernt hätte, die immer wieder auch in die nächsten Führungen eingeflossen wären. Die Personen in ihrem Ansatz zu bestärken, Schwellen abzubauen und ihnen dadurch zu mehr Selbstbewußtsein zu verhelfen, gehöre zu den schönsten Erfahrungen, die sie aus diesen intensiven wie exklusiven Situationen mitnimmt.

„Hilfreich war, dass wir innerhalb des Teams regelmäßig Austausch darüber hatten, wie es anderen mit der Technik und der Bewegung im Raum ging und was eine gute Chronologie der Führungen sein könnte. Bestärkend war auch, dass uns das transmediale-Team viele Freiheiten gegeben hat, selber auszuprobieren, was am besten funktioniert.“ Dadurch dass die Ausgaben für Aufsichten und Kassenpersonal größtenteils wegfielen, waren die zusätzlichen Kosten, die für das neue Proxy-Format anfielen, überschaubar, sagt Guntli zum Schluss, auch weil für das Ticketing auf eine erprobte Software zurückgegriffen wurde. Sie glaubt, dass es interessant wäre, das Format fortzusetzen, auch wenn das Begehren, wieder real vor Ort und in der Ausstellung zu sein, groß sei, und vermutet, dass man in Zukunft stärker zweigleiseig fahren wird und die Ausstellungen physisch und digital erlebbar gemacht werden.

Audio-Spaziergänge

Besonders stark unter den Corona-Beschränkungen gelitten haben Aufführungsstätten wie Theater, Oper und Musicalbühnen. Der Weg ins Digitale wirkte dabei oft wie eine zusätzliche Bühne, auf der jedoch kaum eigenen Formate entwickelt wurden, weil alte Aufführungen gestreamt oder Interviews mit Schauspieler*innen und Mitarbeiter*innen des Hauses hochgeladen wurden. Einige Häuser versuchten den öffentlichen Raum einzubeziehen, indem sie Freiluftbühnen bauen wie das Deutsche Theater und Audio-Walks in Auftrag geben wie das Berliner Ensemble oder der Theaterdiscounter. Das Kollektiv RAUM+ZEIT entwickelte für beide Häuser Touren: „Tod in Venedig“ durch das Nikolai- und Klosterviertel und „Brecht stirbt“ über den Dorotheenstädtischen Friedhof. Erstere hatte ihre Premiere im März 2021 und ist seitdem auf der Website von RAUM+ZEIT verfügbar, nach dem Bezahl-Prinzip „Pay what you want“.

Sceenshot des Trailers zu “Tod in Venedig” entlang der Spree mit Blick auf die Fischerinsel

Interessierte laden sich die Datei auf ein mobiles Gerät herunter und können dann selbstständig die Tour am Startpunkt auf einer Bank neben dem St. Georg Denkmal beginnen. Es spricht eine professionelle Stimme, die mit Sounds von Möwen und plätscherndem Wasser unterlegt ist. Das Hörspiel besteht vornehmlich aus Original-Passagen des Buches „Tod in Venedig“ von Thomas Mann, die durch konkrete Aufforderung an die Hörer*innen ergänzt werden. Dieses Buch als Referenz zu nehmen, klingt in Zeiten der Pandemie bestechend, beschreibt der Autor darin doch eine Stadt, die von einer Seuche geplant wird, in der alle Einrichtungen geschlossen sind und der Hauptprotagonist Aschenbach – sei es aufgrund seiner Erkrankung oder seiner Panik – immer wieder Schweißanfälle bekommt und zunehmend schwächer wird. Während man dem Protagonist des Buches ans Wasser folgt, bewegt man sich ebenfalls zur Spree, schaut aufs Wasser und den Möwen zu. Von der Stimme aufgefordert geht es weiter unter der Brücke durch. Vor der Niederländischen Botschaft soll man sich auf die Steine zu stellen, die sich auf dem Boden der kleinen Grünanlage liegen. Die Momente, wenn sich Text und Realität überlagern und man sich kurz fragt, ob das jetzt so im Buch steht oder nicht, sind besonders gelungen. Ebenso das Gefühl, neue Wege zu erkunden oder das Bekannte mit neuen Augen anzuschauen. Dennoch bleibt das Format etwas im Dazwischen stecken, ist weder Hörspiel noch eine Entdeckungstour, die über den öffentlichen Raum informiert. Für meinen Geschmack hätte es noch ortsbezogener sein können, mit Hinweisen zur spezifischen Künstlichkeit des Nikolaiviertels, den Obdachlosen, die unter der Brücke leben oder zu den Hochhäusern der Fischerinsel.[1]

3D-Touren

Die Sonderausstellung Klartextdes Bode-Museumswurdeim November 2020 fertiggestellt, konnte jedoch Corona-bedingt nicht öffnen. Auch aus diesem Grund wurde ein virtueller Rundgang entwickelt, der ab April 2021 immerhin einen digitalen Besuch ermöglichte. Die Ausstellung widmet sich der Geschichte des Bode-Museums und gibt Einblick in die unterschiedlichen Aufgabenbereiche der Mitarbeitenden vom Sammeln über das Erhalten und Restaurieren bis zum Vermitteln. Bei dem virtuellen Rundgang gibt es die Möglichkeit, sich per Klick durch die Ausstellung zu bewegen und zu den 120 ausgestellten Objekten, Archivfotos und Dokumenten Informationen auf Deutsch und Englisch abzurufen. Auch die Wandtexte und ein chronologischer Überblick zur Geschichte des Museums lassen sich vergrößern und auf diese Weise nachlesen – das sind mehr Informationen als einem bei einem regulären Besuch des Museums zur Verfügung stehen. Hinzukommen 30 Interviews mit den Mitarbeiter*innen, die per Audio inklusive Foto abgerufen werden, so dass man sie nicht nur hört – wie beim klassischen Audioguide –, sondern auch einen visuellen Eindruck der Personen bekommt, die sonst immer hinter den Kulissen arbeiten.

klartext
1/2
Sreenshot des 3D-Rundgangs durch die Klartext-Ausstellung im Bode-Museum
klartext_2
2/2
Screenshot durch die Ausstellung mit verschiedenen Auswahlmöglichkeiten

Auf diese Weise ergibt sich eine neue Art des Ausstellungsbesuchs, da man nicht wie bei einer Führung geleitet wird, sondern sich selbstständig und nach Interesse durch die Räume bewegen kann und über die Interviews zahlreiche Hintergrundinfos bekommt. Das ist erfrischend, weil man damit quasi hinter die Kulissen schaut und etwas über die Arbeit im Museum erfährt. Dadurch, dass Mitarbeiter*innen der unterschiedlichen Abteilungen sprechen, wird deutlich, wie divers die Aufgabenbereiche und damit auch die Ansätze und Perspektiven auf das Museum sind. Realisiert wurde die virtuelle Tour von einem Mitglied des Kaiser-Friedrich-Museumsvereins (Förderverein von Gemäldegalerie und Skulpturensammlung) und zwar von Wolfgang Gülcker, der diese Aufgabe ehrenamtlich übernahm.

In einem Mailaustausch schreibt er, dass er diese Aufgabe als seine private Kunstförderung betrachtet und führt aus, dass er sich das erlauben könne, weil er seit einigen Jahren Rentner sei. „Ich habe einen beruflichen Background als Software-Entwickler, nach einem Diplomingenieursstudium an der TU in Vermessungswesen. Bei Klartext konnte ich auf dem aufbauen, was ich vorher für die Staatlichen Museen gemacht habe z.B. die virtuelle Tour durch das Bode-Museum, die Ende 2015 online gegangen ist und später noch mal erweitert wurde. Damit habe ich mir das Basis-Knowhow erarbeitet. Der Rahmen, in den ich die Klartext-Inhalte integriert habe, war also schon da.“ An der Tour hat er ca. sechs Wochen gearbeitet. „Darin stecken die Panoramaaufnahmen vor Ort, die Erstellung der Panoramen sowie die Aufbereitung und Integration der zugelieferten Texte, Audioguides etc.“

Anhand dieser drei Beispiele wird deutlich: nicht alles ist neu, was in der Pandemie-Zeit an (hybriden) Formaten entwickelt wurde, es konnte teilweise auf bereits vorhandenes Wissen und Infrastrukturen zurückgegriffen werden.[2] Durch die Umstände bekamen sie jedoch eine neue Sichtbarkeit und Dringlichkeit, wobei die Mehrarbeit und -kosten, die durch das Umwandeln der Formate entstanden, zum Teil durch das Engagement der Beteiligten übernommen wurden. So erzählte Bernhard Mikeska von RAUM+ZEIT im Gespräch, dass sie neugierig waren, das Format Audiospaziergang, dass sie so noch nicht umgesetzt hatten, auszuprobieren, auch wenn die Finanzierung erst mal unklar war (und erst kurzfristig durch den Fonds Darstellende Künste abgedeckt werden konnte). Es bleibt zu hoffen, dass die neuen Formate, die oftmals kluge Ergänzungen zum bestehenden Programm darstellen, fortgesetzt werden – allerdings mit angemessener Finanzierung!

[1] Was ich mir ebenfalls gewünscht hätte – wenn man sich schon den Originalstoff aneignet und ihn auf einen anderen Ort überträgt – dass man diesen begehrlichen Blick, den Aschenbach auf den Jüngling wirft, kritisch kommentiert oder umkehrt. Nach den zahlreichen Missbrauchsfällen in kirchlichen Kontexten und Heimen wirkt dieser Blick mittlerweile grenzwertig. Das Buch gehört damit zu der Kategorie von Kunstwerken oder Denkmälern, die aufgrund ihres kolonialen Hintergrunds oder iner missbräuchlichen Perspektive einer kritischen Kommentierung bedürfen. Die Option einer anschließenden Diskussion oder eines Publikumsgesprächs fällt bei dem Audio-Format leider weg.

[2] Zu den bereits länger existierenden Digitalisierungsprogrammen im Museumsbereich siehe das Verbundprojekt zur digitalen Kulturvermittlung museum4punkt0 (https://www.museum4punkt0.de/) oder die Plattform museum-digital (https://www.museum-digital.de/).

Teilen