Wilma Lukatsch: Ich würde gerne ein bisschen über dein Leben, deinen Werdegang und das tägliche Geschäft, dass du nun schon seit 20 Jahren machst, sprechen.
Anuschka Hoevener: Ja, ich mache das jetzt schon um die 20 Jahre. Aber ich konnte nicht herausfinden, ob es dieses Jahr wirklich genau 20 Jahre sind. (lacht) Das ist mir nicht mehr in Erinnerung. Ich habe das nie gefeiert. Ich weiß nur, dass mein erster Shop in der Kastanienallee war, aber wann ich dort eröffnet habe, weiß ich nicht mehr. Hier in der Linienstraße bin ich seit zwölf Jahren, und davor war ich mindestens sieben Jahre in der Kastanienallee. Es kann also sein, dass wir dieses Jahr tatsächlich 20-jähriges hätten. Dennoch habe ich darauf nie so viel Wert gelegt, obwohl es ja schön wäre, zu diesem Anlass etwas zu machen. An dieser Front bin ich aber nicht so aktiv. Zahlen sind ja oft ein Konstrukt, um sich irgendwie einzuordnen, und für mich sind die zwei Kollektionen jedes Jahr der maßgebliche Rhythmus. Wie eine Uhr oder wie sich draußen zweimal im Jahr das Wetter ändert – das ist für mich maßgeblich. Aber du hast trotzdem recht, ich habe vor Kurzem darüber nachgedacht, wie lange ich diese Geschichte nun schon mache und vor allem, wie lange noch.
WL: Siehst du. (beide lachen) Vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht, wenn das Gespräch dich dazu einlädt, in ein paar Erinnerungsschleifen zu gehen.
AH: Ja, und zum Thema Zahlen ist mir etwas Interessantes aufgefallen. Denn tatsächlich nummeriere ich meine Entwürfe durch, Zahlen spielen also schon eine wesentliche Rolle. Das begann damals mit der Nummer eins und jetzt bin ich bei Nummer 638. Ich habe also 638 Teile gemacht und ich dachte, ich mache vielleicht bis Nummer 1000. Dann mache ich Schluss oder etwas anderes. (beide lachen) Wenn ich bis Nr. 638 schon 20 Jahre gebraucht habe, dann wird es ja auch noch einige Zeit dauern. Ich könnte vielleicht etwas schummeln, sodass ich schneller zum Ziel komme. Das könnte ich ja intuitiv so ein bisschen gestalten, je nachdem ob ich das Ende möglichst herauszögern oder ob ich möglichst schnell zu dieser Zahl kommen möchte. Das hatte ich mir mal im Spaß überlegt, weil es für uns Kreative ja tatsächlich die Frage ist, wann wir aufhören. Für uns gibt es die komische Zahl des Renteneintrittsalters ja nicht. Dementsprechend kann man einfach so lange machen, bis man umfällt. Das Modebusiness ist aber schon ganz schön fordernd, auch körperlich ist es anstrengend und insbesondere zu Zeiten des Shootings. Ich hatte zwischendurch sogar überlegt, ob ich das Shooting ganz in andere Hände geben könnte. Es wäre ja interessant, mit Fotograf*innen zu arbeiten, die das komplett übernehmen. Dann werden die Sachen von jemandem anderen interpretiert und in Szene gesetzt. Am Ende muss ich natürlich ein brauchbares Bild haben, weil ich das im Internet veröffentliche. Ich brauche das, um meine Kollektion zu bewerben. Die Fotos sind aber auch hier im Geschäft nicht unwichtig, weil ich öfter mal etwas anhand der Bilder erkläre. Aber im Internet, was ja das Tor zur Welt ist, und weil ich auch viele Kund*innen aus dem Ausland habe, sind die Fotos das absolut maßgebliche Produkt, weil sie zeigen, was ich Neues habe. Nach der Veröffentlichung der neuen Kollektion kommen die Bestellungen. Durch den Onlineshop ist das einfacher geworden. Die Technik ändert sich die ganze Zeit, und man muss wirklich up to date bleiben. Heute ist das wichtig.
WL: Könntest du kurz etwas zu deinem biographischen Hintergrund sagen? Woher kommt deine besondere Affinität zu Kunst, Design und Mode? Dein besonderer Zugang zur Kunst und Kunstszene wird und wurde vermutlich auch durch deinen Mann, den Künstler Omer Fast, mitgeprägt?
AH: Ja, das stimmt. Den Zugang zur Kunst habe ich aber auch schon vorher entwickelt. Ich habe meinen Mann in den USA kennengelernt, da studierte ich bereits Modedesign. Wir lernten uns in New York kennen, als ich dort mein Praktikum machte. Nach New York zu gehen und überhaupt ins Ausland, das war ein Traum von mir, das wollte ich immer gerne machen. Vor meinem Modedesignstudium war ich schon für eine Weile in England und habe dort ganz „old school“ Schnitte usw. gelernt. Von da aus habe ich mich dann in Halle/Saale an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein beworben. Das war insofern parallel aufgebaut: das Handwerkliche, was ich in London gelernt hatte und das Künstlerische, was an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein eine große Rolle spielte.
WL: Und hast du das Interesse an Kunst und Ästhetik auch von zu Hause mitbekommen?
AH: Ja, auf jeden Fall von meiner Mutter. Aber ich war in Sachen Kreativität schon ein bisschen eine Vorreiterin in der Familie. Ich bin auch speziell nach London gegangen, um mich gewissermaßen von meiner Familie loszusagen. Meine Mutter hat immer sehr darauf geachtet, dass wir in den Kunstprogrammen für Kinder gewesen sind, Malkurse in den Museen usw. Da wurde ich immer untergebracht. (lacht) Sicherlich rührt mein Interesse an Kunst aus dieser Zeit. Aber selbst sind meine Eltern nicht unbedingt aktiv kreativ gewesen.
WL: Aber sie öffneten dir gewissermaßen die Türen.
AH: Ja, sie haben mir das Museum als Ort des Nachmittags nahegebracht und dass man im Museum Zeit verbringt und vielleicht heiterer rausgeht, als man reinging oder auch betroffener, je nachdem. Durch Omer habe ich dann die zeitgenössische Kunst besser kennengelernt. Ich würde auch sagen, dass mein Wunsch, mich gleich nach dem Designstudium selbständig zu machen, auch etwas mit Omer zu tun hatte, der damals aus den USA nach Berlin umgezogen war. In Berlin gab es zu der Zeit diese Aufbruchstimmung in der Kunst und auch in der Mode. Meine Professor*innen haben uns immer gesagt, dass wir unseren Job kreieren müssen und nicht erwarten können, dass uns die Jobs einfach so angeboten werden. Das habe ich mir zu Herzen genommen! Diese Art von Selbstständigkeit entspricht mir. Man braucht Nerven aus Stahl (lacht) und dabei die Sensibilität eines Künstlers. Und da würde ich sagen, dass ich diese Sensibilität von der Kunst habe, aber meine Arbeit nicht unbedingt als ein künstlerisches Produkt sehe. Das ist beim Design ein bisschen anders. Ich verbringe viel Zeit damit, mich an Passform und praktikabler Umsetzung abzuarbeiten.
WL: Wenn wir den Fokus „Was uns trägt und was uns steht“ ansehen, dann geht es einerseits um die Passform, die für dich zentral ist, weil du sagst: Was nützt dir das künstlerische Konzept, wenn es untragbar ist? Und zugleich geht es um eine Ästhetik, die uns trägt, die uns zeitgenössisch macht in gewisser Weise.
AH: Ja genau. Das ist ein schmaler Grat. Ich verstehe die Kundin und die Suche nach dem Schmeichelnden schon. Für meine Begriffe wird das aber ein bisschen zu stark nachgefragt. Da wünschte ich, wir wären weiter. Das sage ich jetzt mal so ganz allgemein. Ich sehe mit Glück bei der Generation unserer Kinder – meine Tochter ist 16 –,dass das heutzutage bei den jungen Leuten anscheinend wirklich ein etwas aufgeweicht ist. Das ist ein Aufatmen. Ich kann das Thema aber nicht völlig außer-acht-Lassen. Ich versuche gelegentlich, mich da ein bisschen drüber hinwegzusetzen. Die Teile bleiben dann auch manchmal hängen (lacht). Manchmal funktioniert das eben nicht. Aber manche Kund*innen kann ich ein bisschen mitnehmen. Das ist tatsächlich eine Freiheit, die ich mir nehme, und damit schlage ich den Bogen zurück zum Thema Selbstständigkeit. Mit dem Label habe ich mir die Freiheit genommen, auch mal Sachen zu machen, die vielleicht gegen diese Art sind: „Ich möchte im besten Licht erscheinen“. Ich mache Dinge, weil ich sie interessant finde und heutzutage relevant, und weil ich sie als zeitgenössisch empfinde. Ich habe das Gefühl, dass ich das machen kann, weil ich ein unabhängiges Label bin. Wenn das in irgendeiner Weise mit Sponsoren oder mit Investoren zusammenhängen würde, wäre das eine ganz andere Nummer. Aber das ist es nicht und das ist von mir so gewollt. Ich finde es gut, so wie es ist, ich finde das angenehm.
WL: Das heißt, du arbeitest ganz gezielt solitär.
AH: Ja, auf jedem Fall. Ich habe mittlerweile auch keine Praktikant*innen mehr, weil ich das Gefühl habe, dass es mir zu sehr die Zeit raubt und es mir nicht mehr so viel bringt. Es ist zu repetitiv und ein bisschen zu träge. Das klingt jetzt furchtbar, aber die Moral von jungen aufstrebenden Modedesigner*innen hat sich extrem in eine Bequemlichkeit entwickelt, die nicht unbedingt meine ist. Man darf Arbeit nicht scheuen, wenn man das so wie ich hier machen möchte. Das ist sehr arbeitsintensiv, und man arbeitet lange Stunden. Diese andere Einstellung heute ist interessant, und es ist vielleicht auch eine Entwicklung, die ganz sympathisch ist, weil die jungen Menschen mehr artikulieren, was sie stattdessen machen wollen.
WL: Ich würde gerne noch einmal zu der Frage zurück, aus welchen Interessen heraus sich deine besondere Leidenschaft für Mode und Design entwickelt hat?
AH: Ich habe ein ganz starkes Faible für Materialien. Ich muss tatsächlich sagen, dass ich ein richtiger Materialfreak bin. So wie man manchmal Leute als Papierfreaks bezeichnet, weil sie eine ganz starke Verbundenheit mit Papier haben, so geht es mir mit Materialen. Verschiedene Arten von Material zusammenzubringen und in eine Zwiesprache zu bringen, das könnte ich den ganzen Tag machen. Das ist wirklich etwas, was mir sehr, sehr viel Freude bringt und sehr viel zurückgibt – Material zu spüren und zum Leben zu erwecken, das könnte ich den ganzen Tag machen.
WL: Du bietest in dieser Hinsicht ja wirklich aufregende Kombinationen an. Und dabei geht es auch um das Thema Inspiration. Ich frage mich, wie man über eine lange Zeit die Inspiration wach hält und wie sie sich wie ein Faden durch deine vielen Kollektionen zieht oder auch zu deiner Art der Durchnummerierung. Denn die ist ja unmittelbarer Ausdruck einer Art Kohärenz durch die Zeitenläufe, oder?
AH: Ja, darin stecken auch immer Zugeständnisse. Ich muss natürlich immer ein bisschen gucken, was die jeweilige Zeit will. Ich arbeite zwar nicht unbedingt trendorientiert, aber ich habe schon das Gefühl, ich würde das, was ich vor 20 Jahren gemacht habe, jetzt vielleicht nicht unbedingt noch einmal machen, einfach weil wir heute in einer anderen Zeit leben und weil ich heute stattdessen etwas anderes machen würde.
WL: Könntest du etwas zu deinem Anfang sagen – wann und wo hast du deinen Laden aufgemacht und wie war das? Was war damals deine Vision von dem, was tragbar ist?
AH: Ich war am Anfang ein bisschen skulpturaler, daran erinnerst du dich vielleicht noch. Als ich in der Kastanienallee angefangen und meinen ersten Laden dort eröffnet habe, habe ich unmittelbar mit der Durchnummerierung meiner Sachen angefangen, wobei die erste richtige Kollektion erst 2006/2007 herausgekommen ist.
WL: Und weißt du noch was die Nummer eins war?
AH: Ja, das war ein Top, das weiß ich noch. Normalerweise gibt es pro Kollektion immer um die 20 Teile und deswegen 20 Nummern. Beim Entwickeln der jeweiligen Kollektion lasse ich mich immer wieder gerne von Ausstellungen inspirieren, die ich besucht habe. Ich gehe tatsächlich immer noch mit großer Freude in Ausstellungen und gucke mir viele Sachen an, wo gerade auch Material zum Tragen kommt. Was Ausstellungen angeht, die sich mit dem Digitalen und mit KI in Kunstwerken beschäftigen, da ist meine Inspiration nicht so groß. Ich finde, dass die Materialen – ob das Schlamm oder feiner textiler Faden ist – Sachen sind, die mich ganz konkret ansprechen, weil ich die Materialität und die Arten ihrer Anwendung darin sehe.
WL: Ja, das leuchtet mir als Modedesign-Laiin ein, weil es ja gerade bei Mode auch um Haptik geht. Wir können uns Mode zwar online anschauen, aber letztlich müssen wir sie auf der Haut tragen – ganz real. Also, wir ziehen uns real, nicht digital an.
AH: Wir sind da ein bisschen an einem Scheideweg. Es gibt ja durch die KI auch Kollektionen, die rein im Internet, rein in der digitalen Welt stattfinden. Das ist nicht so meins. Ich weiß nicht, ob ich diesen Weg noch mitgehen werde.
WL: Du meinst, die Sachen werden gar nicht mehr produziert?
AH: Genau, die gibt es gar nicht. Die existieren tatsächlich nur in einer idealisierten Welt. Die idealisierte Welt interessiert mich aber nicht, und das ist eigentlich der Punkt. Das ist nämlich genau das, was mich gar nicht umtreibt. Genauso wenig wie ich dahin strebe, dich als Kundin in idealisierter Form zu zeigen. Das geht zu dem Thema von vorhin zurück. Schmeichelnde Sachen für jemanden zu finden, wo die Person möglichst „thin“ erscheint. Das interessiert mich nicht so sehr.
WL: Was interessiert dich stattdessen, wenn die Menschen hier mit ihren unterschiedlichen Wünschen zu dir kommen?
AH: Was mich eigentlich umtreibt, sind diese kurzen Momente, die es manchmal gibt, wo man jemanden erspürt und sensibel genug ist zu merken, was nicht geht. Und zugleich aber auch jemanden auf eine ganz kleine Reise mitzunehmen. Eine kleine Reise, die die Leute vielleicht gehen lässt und wo sie sagen: „Das hätte ich jetzt nicht unbedingt selber gesehen, aber es ist toll!“ Diese Art von Überraschung zu erzeugen, die die Leute neu auf die Dinge gucken lässt und sie dazu bringt, auch mal etwas anzuprobieren, was sie vielleicht nicht unbedingt selbst ausgewählt hätten. Das sind die Themen, die mich interessieren. Aber nicht jedes Rezept funktioniert für jeden Menschen und dementsprechend ist das auch manchmal eine Reise in eine Sackgasse. Ich bin ja selbst viel hier im Laden und spreche viel mit den Kund*innen.
WL: Höre ich da richtig heraus, dass das Geschäft vorrangig hier im Laden passiert?
AH: Hm, na ja, mittlerweile weniger, weil vieles durch den Onlineshop abgewickelt wird. Das ist in letzter Zeit mehr geworden durch die neue Online-Präsenz. Das Geschäft hat dadurch schon ein anderes Niveau erreicht.
WL: Sind das Menschen, die schon einmal hier waren und wissen, wie deine Sachen ungefähr am Körper liegen?
AH: Ja, meistens. Trotzdem ist es aber auch ein schwarzes Loch. Das ist leider die Kehrseite vom Online-Geschäft: dass man nicht weiß, wie die Sachen bei den Menschen ankommen. Ich muss es aber auch nicht unbedingt immer wissen. Allgemein kann ich mich nicht beschweren, weil ich durch den Onlineshop den Kontakt zu den Kund*innen besser halten kann, die nur vorübergehend in der Stadt waren. Mit denen kann ich den Kontakt durch den Onlineshop gut halten.
WL: Und wie steht es um den Standort hier in Mitte?
AH: Mein erster Raum in der Kastanienallee war sehr klein, der hatte nur 30 qm und ein einziges Schaufenster zur Straße. Da hatte ich ein großes Foto drin hängen von einer Frau, die ich in einem Café angesprochen hatte und die lustigerweise Filipa César war. (beide lachen) Die habe ich damals fotografiert und sie sah toll aus! Sie stand einfach da in dem Foto – das hatte was von einem Rineke-Dijkstra-Bild. Das war wirklich einfach ein guter Anfang und dafür bin ich Filipa immer noch dankbar. Im Laufe der Zeit wurde dieser Laden ein bisschen klein, und ich bin in die Linienstraße umgezogen, wo ich schon vorher mein Atelier ohne Showroom hatte. Angefangen hätte ich hier in der Linienstraße aber nicht. Die Straße ist schon sehr ruhig. Du merkst es ja: Wenn wir in der Kastanienallee das Gespräch gehabt hätten, könnten wir hier nicht so in Ruhe sitzen, weil es dort einfach zu trubelig war. Viele von den Kund*innen aus der Kastanienallee habe ich aber immer noch. Es gibt noch die Kund*innen der ersten Stunde sozusagen. Allgemein entwickelt sich alles ganz gut, aber als Unternehmen ist es in der jetzigen Konstellation nicht so ausbaufähig, dass das nach oben durch die Decke gehen könnte. Dafür bin ich zu sehr darauf erpicht unabhängig zu sein.
WL: Ich habe riesigen Respekt davor, so einen Laden alleine zu schmeißen, weil ich um die unendlich vielen Ebenen des Zu-Tuns weiß, von denen einem manche ja überhaupt keinen Spaß machen.
AH: Ja, es gibt schon diverse Bereiche, die machen mir nicht so furchtbar viel Freude. Wenn es nach mir ginge, würde ich den ganzen Tag Farbzusammenstellungen machen, aber die wirtschaftliche Notwendigkeit zeigt, dass ich mich auch um die Produktion und um die Materialbeschaffung kümmern muss.
WL: Und um die Shootings kümmerst du dich auch allein: den Ort, die Models und die Vision von den Bildern, die du möchtest?
AH: Ja, das mache ich alles, und ich habe eine klare Vorstellung, wie die Bilder aussehen sollen. Das gilt im Übrigen auch für den Designprozess. Ich muss von einem neuen Entwurf emotional überzeugt sein. Ich lasse viele Entwürfe erst einmal auf der Puppe hängen und gucke mir die Sache am nächsten Tag mit ein bisschen Abstand noch einmal an. Dann muss es aber zu mir sprechen, und ich muss das Gefühl haben, da ist was. Es ist tatsächlich so, dass ich selbst – das ist durchaus auch ein etwas mühsamer Prozess – überzeugt sein muss. Wenn ich eine Sache auf der Puppe sehe und nichts spüre, dann ist irgendetwas noch nicht da oder wird vielleicht niemals so, dass es mich interessiert. Das ist schon eine sehr emotionale Thematik. Ich kann diesen Moment auch gar nicht genau beschreiben, wieso manche Sachen zu mir sprechen und manche nicht.
WL: Das hat vielleicht etwas mit dem zu tun, was du vorhin mit dem Wort zeitgenössisch benannt hast. Ich stelle mir vor, dass sich diese manchmal unsagbare Zeitgenossenschaft mit deinen ganz spezifischen Visionen von Design und Mode verknüpft und das Moment einer Verformung von Materialität ist.
AH: Verformung finde ich gar nicht so schlecht gesagt, weil es auch etwas ist, das man aus der Luft herausgreift, sich zu eigen macht und dann wieder hergibt. Ich stelle es mir wie diese Banden bei Autorennen vor, diese Stopper, wo das Auto hängen bleibt und dann weiterfährt. Ich stelle Ideen zusammen und die spiele ich dann in die Öffentlichkeit zurück. Ich stelle etwas zur Verfügung, woraus dann jeder sein Ding rausgreifen kann.
WL: Aber für diese Art der Arbeit und Kreativität braucht man natürlich Zeit.
AH: Genau, und die habe ich natürlich nicht, wenn ich die ganze Zeit im Kundengespräch bin. Deswegen hat es auch Vorteile mit dem Onlineshop. Und ja, ich finde, das Zeitgenössische kann man recht schwer dingfest machen. Es ist sicher etwas, was du anders siehst als ich, und ich gucke schon auch viel auf der Straße, was Leute so tragen. Ich habe auch ein bisschen ein Ohr bei der Jugend, aber nicht unbedingt, weil ich es umsetzen will, sondern einfach nur aus Interesse; einer Art wissenschaftlichem Interesse, um zu erspüren, was gerade in der Luft liegt. Da gibt es zum Beispiel momentan den Trend zum Second-Hand und Upcycling. Das finde ich total interessant und manchmal gibt es in diese Richtung Anschlussmöglichkeiten, wie bei meinen T-Shirts, die aus verschiedenen Stoffteilen zusammengesetzt sind. Das ist ein Zugeständnis an die Situation, dass ich eben auch viele Materialien übrig habe, die ich dann nachhaltig einsetzen kann.
WL: Lass uns gen Ende des Gesprächs kurz über das Kreativ-Frauennetzwerk in Berlin Mitte sprechen. Bei meinem letzten Besuch hast du mir das Mäppchen mit den Adressen und der Übersicht über die daran beteiligten Shops gegeben. Könntest du dazu kurz etwas sagen? Wer seid ihr und wie kam es dazu?
AH: Ja, das Netzwerk gibt es noch. Es ist initiiert von Clara Brandenburg, die die Linierie in der Linienstraße macht. Es ist ein loses Frauennetzwerk, weil wir denken, dass sich Frauen untereinander besser vernetzen müssen, um auf dem Markt bestehen zu können. Das funktioniert eigentlich ganz gut, speziell für Labels wie meines, die eher in einer Seitenstraße liegen. Es gibt ja auch ein paar andere von solchen Faltplänen, wobei unser Alleinstellungsmerkmal eben das „Run by Women“ ist. Da sind tolle Frauen und tolle Shops dabei!
WL: Und wen oder welchen Ort würdest du empfehlen zu besuchen und kennenzulernen?
AH: Ganz klar Starstyling, auch wenn die gar nicht mehr dabei sind (lacht). Eigentlich ist es aber die Mischung von Shops, die für Berlin-Besucher*innen vor allem interessant sein dürfte. Vielleicht wäre aber auch Jacqueline Huste von Wolfen für so ein Gespräch interessant. Sie hat ihren Shop in der Auguststraße gerade zugemacht, weswegen sie aus dem Netzwerk ausgestiegen ist. Es ist vielleicht interessant mit ihr darüber zu sprechen, warum sie den Shop geschlossen hat und warum es sich für sie durch die Online-Präsenz wahrscheinlich nicht mehr gerechnet hat, den Showroom zu halten. Ich würde nur über meine Leiche den Raum hier zumachen, weil ich das Gefühl habe, dass das eine totale Relevanz hat, dass es solche Läden gibt. Es ist relevant, Sachen anzuschauen und zu berühren; ich finde, das gehört zu unserer Kultur und zu Berlin. Felicious, das ist Felicitas Seidler, ist auch einen Besuch wert. Sie macht Schmuck in der Schröderstraße und hat einen wunderschönen Laden und tollen Schmuck. Also, solange es das Netzwerk gibt und da Dinge dabei sind, die ich gerne mag und gerne empfehle, werde ich auch dabeibleiben. Denn ich sehe mich hier in der Gegend schon in der Verantwortung, auch die anderen Shops ein bisschen zu kommunizieren. Das gehört für mich dazu.
WL: Ich danke dir sehr, dass du dir für dieses Gespräch Zeit genommen hast und sage: Happy Birthday zum 20. Geburtstag!
AH: Ich danke Dir.