Ferial Nadja Karrasch

Immer wieder Neues zu lernen, die Welt für einen Augenblick mit den Augen einer fremden Person sehen, sich auf die unterschiedlichsten Perspektiven einlassen – das sind nur einige Aspekte, die Ferial Nadja Karrasch an ihrer Tätigkeit als Kunstjournalistin so schätzt. Sie lebt in Berlin und schreibt für verschiedene digitale und analoge Formate über Kunst und Kultur. Studiert hat sie Kunstwissenschaft, Philosophie und Ausstellungspraxis an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, an der Universiteit van Amsterdam sowie an der Universität der Künste Berlin.

„Was würde Kalliopē tun?“ – Ein Besuch bei der experimentellen Institution Callie’s

25.01.2021

Das Callie’s ist neu im Wedding. Residencies, Ateliers, Veranstaltungen, Kiezbezogenheit und eine Buchhandlung sind Teil des Konzepts. Ferial Nadja Karrasch besucht für uns diese Institution, bevor wir es alle wieder tun dürfen.

Es ist kalt an diesem Freitagvormittag im Januar, doch unter meinem Mund-Nasen-Schutz ist es warm. Einer der Vorteile des Tragens einer Maske. Im Innenhof der Lindower Straße 20, nur ein paar Meter entfernt von der S- und U-Bahnstation Wedding, warte ich auf Agnesa Schmudke, Assistenzkuratorin bei Callie’s. Die „gemeinnützige, experimentelle Institution“ bringt seit 2018 Leben in den zuvor größtenteils leerstehenden Komplex. Das große L-förmige Backsteingebäude, typisch für die Berliner Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts,  erstreckt sich über vier Stockwerke, auf dem Flachdach wurde es um einen zweistöckigen Anbau erweitert. Der Innenhofbereich wird von einem weiteren Gebäudekomplex und einem gerade im Bau befindlichen Wohngebäude umgeben und so von der Straße abgeschirmt.

Aus einem der Ateliers im zweiten Stock dringt Musik, darunter, im Erdgeschoss, wartet das Designkollektiv LABINAC (gegründet von Maria Thereza Alves, Jimmie Durham und Kai-Morten Vollmer) auf die Abholung ihrer Werke. Die Ausstellung „BROKEN–light shines through“ eröffnete im September und musste aufgrund des Lockdowns vorzeitig geschlossen werden.

Ein Atelier weiter ist die Ausstellung der Berliner Künstlerin Susi Hinz noch aufgebaut, aber ebenfalls für die Öffentlichkeit geschlossen.

Installationsansicht der Ausstellung von Susi Hinz (Callie’s, 12. September – 20. Dezember 2020). © Susi Hinz. Foto: Nick Ash

Callie’s Vision ist es, einen Raum für Experimente zu schaffen und Kreativität, kulturellen Austausch und interdisziplinäre Kooperationen zu fördern. Kunstschaffende aus Berlin und der ganzen Welt kommen hier zusammen, vernetzen sich und gehen ihren eigenen Projekten nach.

Acht Arbeitsräume stehen ihnen zur Verfügung, zwischen 160 und 200 qm groß, lichtdurchflutet. Eines der Ateliers verfügt über einen Tanzboden, im oberen Geschoss wurde ein Sound-Studio und ein Writer’s Room eingerichtet.

Für Artists-in-Residence, die eine Unterkunft benötigen, stehen sogenannte Micro-Apartments zur Verfügung – liebevoll gestaltete und mit einer eigenen Bibliothek ausgestattete Wohnungen.

Micro-Apartment bei Callie’s © Callie’s 

„Das Residency-Programm ist Callie’s Herzstück“, betont die Kuratorin gleich zu Beginn unseres Gesprächs. „Wir laden Künstler*innen aller Disziplinen und Backgrounds ein. Manche befinden sich noch ganz am Anfang ihrer Karriere, andere konnten sich bereits etablieren. Diese Durchmischung ist uns sehr wichtig.“
Für die Bewerbungen gibt es keine Deadlines oder Richtlinien, der Aufenthalt ist nicht zwingend an eine Endpräsentation gekoppelt. Wie lang ein*e Künstler*in Resident ist, ob er oder sie finanzielle Unterstützung durch Callie’s erhält – einige Künstler*innen erhalten bereits Stipendien oder Zuwendungen von Außen – all das ist nicht vorab geregelt, sondern wird im fortlaufenden Dialog geklärt. Somit unterscheidet sich Callie’s deutlich von den meisten Artist in Residency-Programmen, die zumeist mit einem rigiden Auflagenkatalog einhergehen. Auf diese Weise möchte das Team auf die zunehmend prekären materiellen Bedingungen reagieren, denen Kunstschaffende ausgesetzt sind. „Gerade jetzt, in einer Zeit der Instabilität und der steigenden Mieten, in der viele Künstler*innen ihren Arbeitsraum verlieren, ist es wichtig, dass es Räume wie Callie’s gibt, die Offenheit und Flexibilität ermöglichen“, so Schmudke. Dass diese Offenheit besondere Herausforderungen mit sich bringt und ständige Abstimmungsprozesse erfordert, ist offensichtlich. Callie’s und das dahinterstehende Team befinden sich in vielerlei Hinsicht noch in der Findungsphase, das betont die Kuratorin immer wieder.

Auch die für gewöhnlich enge Taktung vorab festgelegter Programme, die sonst an Ausstellungsorten den Jahresrhythmus bestimmt, gibt es bei Callie’s nicht. Allerdings bedeutet das nicht, dass man und frau hier ausschließlich hinter verschlossenen Türen arbeiten: „Auf Initiative der Residents haben wir im vergangenen Herbst im Rahmen des Gallery Weekends einige Ausstellungen eröffnet.“ Keti Ortoidze, Miloš Trakilović, Shuang Li, LABINAC, Susi Hinz und das Institute for Embodied Creative Practices präsentierten ihre Arbeiten und ermöglichten Interessierten einen Blick in die Räumlichkeiten und die hier stattfindenden Prozesse.

Betrachtet man die Liste der bereits stattgefundenen Veranstaltungen, fällt auf, dass das erste Event kein „hauseigenes“ war: Vom 27. August bis zum 5. September 2020 fand bei Callie’s das Pan-Afrikanische Festival „Isusu Ffena“ statt, eine Veranstaltungsreihe, in deren Mittelpunkt afrikanische und afroeuropäische Ideen stehen und die eine Plattform für Minderheiten- und Queer-Narrative bietet.

„Die Zusammenarbeit mit unseren Nachbar*innen ist uns sehr wichtig, wir stehen in Kontakt mit allen möglichen Einrichtungen, die sich in der Nähe befinden, z.B. mit Jugendclubs. Uns geht es nicht nur um die Zusammenarbeit und Vernetzung nach innen, sondern auch um die nach außen. Wir wollen nicht nur fertige Angebote auf dem Silbertablett präsentieren, mit denen die Menschen in unserer Umgebung vielleicht gar nichts anfangen können. Wir sind immer offen für Vorschläge von anderen. Akteur*innen sind herzlich willkommen, bei Callie’s eigene Veranstaltungen durchzuführen.“

Um auch kunstfernere Menschen aus dem Kiez anzusprechen, gab es im Oktober einen Tag der Offenen Türen mit Falafel und Führungen in Deutsch, Englisch und Türkisch. „Aber“, räumt Schmudke ein, „trotz kostenlosem Essen ist es nicht so leicht, Menschen, die sich nicht ohnehin schon mit Kunst auseinandersetzen, in den Hinterhof zu locken. Da müssen wir uns noch mehr überlegen.“

Ein Bindeglied zwischen dem im Hinterhof gelegenen Produktionsort und der Straße ist die Buchhandlung a.p., die zwar nicht unmittelbar zu Callie’s gehört, jedoch in Kollaboration entstand und eng mit der experimentellen Institution verknüpft ist. Vertreten sind hier vor allem kleine internationale und Berlin-ansässige Verlage, der Fokus liegt auf Künstler*innenbüchern, Theorie, Literatur und Poesie. Und auch a.p. versteht sich als Plattform für Austausch – regelmäßig sollen hier Vorträge, Lesungen und Workshops stattfinden. Eine große Fensterfront lässt von der Straße in das Innere blicken, das mit einer zentralen Sitzecke ausgestattet ist.

Buchhandlung a.p. © a.p.

„Die unmittelbare Umgebung“, erzählt die Kuratorin, „nehmen sowohl das Team von Callie’s als auch die hier arbeitenden Künstler*innen als sehr inspirierend wahr. Es ist ein Kiez, der willkommen heißt!“

Nicht nur die Geschichte des Kiezes, auch die des Gebäudes spielt für Callie’s eine wichtige Rolle. Beidem widmet sich die Website der Institution in großer Ausführlichkeit. Um die bis dahin nicht aufgearbeitete Historie des Gebäudes zu dokumentieren suchte und fand Schmudke in den Online-Datenbanken der Zentral- und Landesbibliothek Berlin die unterschiedlichen Einrichtungen, die seit Bau des Gebäudes in der Lindower Straße 20 unterkamen: 1871 von den Brüdern Hasse als Max Hasse & Comp. Maschinenfabrik erbaut, wurden hier jahrzehntelang Fräs-, Niet- und Nähmaschinen hergestellt. 1929 übernahm ein anderer Berliner Maschinenhersteller die Lizenzen, die Produktion wurde eingestellt. In den 1930er Jahren zogen mehrere Unternehmen und Hersteller in die Räumlichkeiten ein, darunter auch der Haushaltswarenhersteller Graetz&Glückstein, ein jüdischer Betrieb, der 1937 von den Nationalsozialisten enteignet wurde. Die Zeit der Nutzung des Gebäudes durch herstellende Firmen (die Lindower Straße 20 beherbergte unter anderem eine Knopffabrik, eine Quarzlampenfabrik, Buchbindereien, einen Likörhersteller und eine Dienstbekleidungsfirma), wurde von einer Phase des Leerstands und einer Periode kurzer und temporärer Zwischennutzungen abgelöst. 2013 begann die Renovierung des Gebäudes, wobei darauf geachtet wurde, den Bestand so weit wie möglich zu erhalten. „Alle Eingriffe in die historische Struktur wurden durch die Verwendung einfacher, aber funktioneller Materialien deutlich gemacht“, heißt es auf der Callie’s-Homepage. Die Recherche zum Ort und seiner Umgebung dauere immer noch an, so Schmudke. Für das Callie’s-Team sei es sehr wichtig, zu wissen, auf was für einem Boden sie mit ihrer Institution stehen.

Ein Residency-Programm ohne notwendig zu erfüllende Bedingungen, ohne Alters- oder Disziplinengrenzen, mit der Möglichkeit auf finanzielle Förderung, ein Ort, der riesige Arbeitsräume zur Verfügung stellt und für Projekte Interessierter offensteht – wie wird all das finanziert? „Die erste Phase war ausschließlich durch Spenden finanziert. In Zukunft werden wir uns jedoch auch um öffentliche Förderung bemühen“, berichtet Schmudke. „Ein wesentlicher Unterstützer ist der Eigentümer des Gebäudes, ein Kunstliebhaber, der uns diesen Ort zu einer günstigen Miete zur Verfügung stellt. Ohne die günstige Miete, wäre das hier nicht zu realisieren.“

Camille Henrot in ihrem Atelier bei Callie’s, November 2020. © Camille Henrot, Foto: Callie’s

Ein auf private Spenden basierendes Finanzierungsmodell erinnert vor allem an amerikanische Einrichtungen; auf die Frage, ob es konkrete Vorbilder gibt, an denen Callie’s sich orientiert, antwortet Schmudke: „Natürlich gibt es immer Ideen, an denen man sich orientiert, aber ich würde als konkretes Vorbild nicht irgendeine Institution nennen, sondern eher eine bestimmte Figur, die den Spirit des Ortes trägt: Kalliopē, die Muse der epischen Dichtung – von ihr leitet sich auch der Name der Einrichtung ab.“

Die Musen, in der griechischen Mythologie Schutzgöttinnen der Künste, helfen denen, die sie bitten. Sie sind, in den Worten des Callie’s-Teams, „Quellen des Wissens und Personifizierungen des wegweisenden Genies, in den Bereichen der Künste und Wissenschaften“. Das sich von ihnen ableitende, griechische Mouseion, der „Ort der Musen“ war ein Treffpunkt für Forschende, Schreibende und Lehrende, die hier nicht nur zum Arbeiten, sondern auch zu Gespräch und Speis und Trank zusammenkamen.

Während viele Institutionen tendenziell eher männlich geprägt seien, so Schmudke, orientiere Callie’s sich am weiblichen Geist, der gibt und nährt, ohne eine Gegenleistung einzufordern. „Die Figur der Kalliopē ist für uns als Institution Ausgangspunkt andauernder Selbstbefragung: Was wollen wir? Wohin wollen wir? Was würde Kalliopē tun?“ 

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