Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Wie ein „grünes“ Terrassenhaus für den Wedding polarisiert

09.10.2018
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Die Terrassenstruktur des Lobe Blockes ist auch von der Straße sichtbar, Foto: Anna-Lena Wenzel
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Die Terrassenansicht aus dem Hinterhof, Foto: Anna-Lena Wenzel

Im August 2018 zogen die ersten Mieter*innen in die Böttgerstraße 16 im Wedding ein, am 7. September fand eine von der Architekturzeitschrift arch+ veranstaltete Diskussion mit der Initiatorin und Bauherrin Olivia Reynolds, der Geschäftsführerin des Atelier- und Galeriehauses Elke Falat, dem Entwurfsarchitekten Arno Brandlhuber und dem ausführenden Architekten Muck Petzet statt. Aus dem moderierten und vielen aufgeschnappten Gesprächen, der Veranstaltungsankündigung und postn zum Thema habe ich ein ABC der verschiedenen Eindrücke zusammengestellt, um die Polarität, die das Haus hervorruft, zu verdeutlichen.

A: Ich bin mit der Idee zu Brandlhuber rein und hab ihn von meiner Vision überzeugen können. Dann hat er einen Entwurf gemacht und Muck hat das zusammen mit uns ausgeführt.

B: „Das neu errichtete Terrassenhaus Berlin – die ‚brutalistischen hängenden Gärten von Wedding‘ – von Brandlhuber+ Emde, Schneider mit Muck Petzet Architekten erschafft eine neue Typologie, deren ungewöhnliche Tiefe und Außenraumbezug für den Berliner Kontext radikal ist. Der Bau ist modellhaft für die Diskussion um Nutzungsmischung, Nachverdichtung und urbane Freiräume.“[1]

C: Puh, krasses Gebäude. Ich liebe diesen rohen Beton und die verqueren Sichtachsen! Es ist sehr merkwürdig diese schräge Treppe hochzulaufen. Das Gebäude sieht nicht nur ungewöhnlich aus, es fordert auch ungewohnte Nutzungsweisen ein.

Foto: Anna-Lena Wenzel

D: Aber das ist so ein homogenes Publikum hier – und auch das ganze Gebäude ist derbe durchgestylt – vom Café im Erdgeschoss, den Blumenkübeln, dem obligatorischen Rennrad, das an der Wand lehnt, den ganzen gut aussehenden Besucher*innen hier . Und auch in den Wohnungen bzw. den Läden oder Ateliers sieht es überall gleich aus. Das liegt auch an den Betonküchenzeilen, die sich in allen Einheiten finden.

E: Die simplen Betonkücheneinbauten sind auf meinem Mist gewachsen. Ich wollte nicht, dass hier teure, hochtechnologisierte Einbauküchen reinkommen, die so typisch sind für die Deutschen. Sie sind wie ein gleichmachendes Moment – aber es hat wegen ihnen viel Ärger gegeben.

F: Die Vorderseite mit den Fensterfronten, vor denen diese Gitter angebracht sind, ist toll. Aber ich weiß noch nicht, wie ich die schrägen Wände finden soll. Es wirkt alles recht luftig, aber ganz ehrlich: wenn dann mittendrin ein Staubsauger rumsteht, weil es keine Abstellflächen gibt, macht das den ganzen Eindruck kaputt!

G: Ich finde den Blick vom Dach spektakulär – da hinten siehst du die Bunkeraussichtsplattformen im Humboldthain, auf der anderen Seite das neogotische Amtsgericht und dort kann man entlang der Bahngleise ganz weit in Richtung Osten blicken. Nebenan gibt es diese Rampe ins Nichts, dahinter einen Sportplatz, gegenüber Autowerkstätten. Man ist mittendrin in der Heterogenität des Weddings, es ist alles etwas undefiniert hier und rau. Darauf muss man ja auch erst mal klarkommen.

H: Dieses Gebäude bezieht sich natürlich auf seine Umgebung. Der Wedding ist rauer als Mitte. Diese Typologie eines Terrassenhauses, wie sie hier gebaut wurde, die gab es vorher nicht! Die Terrassen weisen nach hinten – hier ist Süden und es gibt den ganzen Tag Sonne.

I: Das Gebäude polarisiert enorm. Es gab viele Proteste, auch gewalttätige, weil das Gebäude als Gentrifizierungsvorreiter gesehen wurde. Wir haben viel Arbeit reingesteckt, um mit der Nachbarschaft hier vor Ort in Kontakt zu treten und die Wogen zu glätten.

J: Ob das Areal gegenüber mit den Autowerkstätten in ein paar Jahren genauso gefährdet ist wie das Dragonerareal in Kreuzberg?

K: Wir sind nicht die ersten und werden nicht die letzten sein, die das Viertel verändern.

L: „Brandlhuber baut für die kreative Elite Berlins.“[2]

M: Das ganze hier ist Gewerbegebiet, deswegen sind hier auch nur gewerbliche Mieter*innen drin. Aber ich gehe davon aus, dass sich das Baurecht in ein paar Jahren ändert und die überholte und sinnlose Unterscheidung zwischen Gewerbe und Wohnnutzung aufbricht. Darauf ist dieses Gebäude schon vorbereitet, weil es für beide Nutzungen offen steht.

N: Ob das jemand kontrolliert, ob das wirklich nur als Gewerbe genutzt wird?

O: Ich war in einigen Einheiten drin. Einige waren schon bezogen, andere noch leer. Es gibt Ateliers, Bürogemeinschaften, einen multifunktionalen Raum, der temporär vermietet wird und einen Modeladen. In einem Atelier, das man betreten durfte, war die Tochter von dem Mieter da, der Künstler und Professor ist. Wir haben Sie gefragt, was es kostet, aber sie wusste es nicht.

P: Wir hatten Probleme eine Bank zu finden. Experimentelle Architektur ist nicht gerade hoch im Kurs bei Banken. Und dann hat uns die Bank gezwungen, zu einem Zeitpunkt als die Wände noch nicht eingezogen waren, Mietverträge vorzulegen, sonst hätten wir den Kredit nicht ausgezahlt bekommen. Da waren wir im Zugzwang.

Q: Wir haben auch lange nach einem Baugrundstück gesucht. Das ist hier ein Grundstück der Bahn gewesen. Das war natürlich total verseucht. Solche Unvorhersehbarkeiten gab es einige.

R: Dadurch ist es teurer geworden als wir gehofft haben, aber wir liegen mit den Baukosten unter dem Durchschnitt. Und wir haben Wert darauf gelegt dass die Mietverträge langfristig sind – fünf bis zehn Jahre mit Option auf Verlängerung – so dass die Mieter*innen keine Angst haben müssen, bald wieder gekündigt zu werden.

S: Wir würden uns wünschen, dass das hier ein offener Ort wird. Das Besondere sind die fünf Meter breiten Terrassen, die frei zugänglich sind. Geplant ist, sie mit Grün zu füllen und hier öffentliche Gärten zu installieren. Es gibt schon Kontakte zu Leuten, die hier eine Box bepflanzen wollen. Aber es sind noch einige Fragen offen was Versicherungen betrifft: Wer ist verantwortlich, wenn sich hier jemand verletzt? Wir hatten schon eine Kita, die hier reinwollte, aber dann gab es Schwierigkeiten mit der Versicherung, weil die Stufen zu hoch waren.

T: Die Leute können durch die Einfahrt in den Hinterhof und auf die Terrassen kommen. Es gibt jemanden, der macht hier auf dem Dach jeden Morgen Yoga! Aber es ist schon eine Herausforderung, wenn vor deinem Küchenfenster und auf deiner Terrasse jederzeit wildfremde Leute erscheinen können. Da muss man sich erst dran gewöhnen. Es ist ein Prozess …

U: Ich glaube nicht, dass das klappt. Dafür sind die ästhetischen Schwellen viel zu hoch, hier braucht man eine gehörige Portion kreatives und kulturelles Kapital, um sich hier den Raum anzueignen.

V: Mich erinnert dieser Anspruch, ein offener und damit sozial durchmischter Ort zu werden an das Futurium. Das ist ein neues Museum in der Nähe des Hauptbahnhofs mit einer tollen, ungewöhnlichen Architektur. Aber es wird unterschätzt, was diese Architektur für Schwellen setzt – dass sich viele durch das Rohe, Kühle abgeschreckt fühlen. Um den Anspruch wirklich wahr werden zu lassen, ein offenes Haus zu sein, sind viele Bemühungen und viel Kommunikation nötig. Mir scheint es ein guter Zug gewesen zu sein, dass es mit den zwei Bauherrinnen Olivia Reynolds und Elke Falat zwei Frauen gibt, die den Kiez kennen, weil sie hier einen Projektraum betrieben haben. Sie brechen den Architektenhabitus eines Brandlhuber wieder auf.

W: „Arno Brandlhuber ist einer der spannendsten Architekten Deutschlands. Sein Haus in Berlin-Wedding erfüllt die DIN-Norm, sprengt aber Gattungen.“[3]

X: Ob das Kabel, das da raushängt, auch zum Konzept gehört?

Y: Die Mittefizierung des Wedding schreitet voran!

Z: Wir wären hier auch gerne eingezogen, aber es ist schon alles vermietet.

[1] https://www.archplus.net/home/news/7,1-17519,1,0.html?referer=317
[2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/architektur-luxusstrassenkoeter-1.4101858
[3] Ebd.

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