Marina Naprushkina

Marina Naprushkina, geboren in Minsk/Belarus lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist Künstlerin, hat an der Frankfurter Städelschule studiert, unterrichtet an der Weissensee Kunsthochschule/Berlin und stellt international aus. Sie hat verschiedene Initiativen gegründet, wie die Neue Nachbarschaft/Moabit, Refugees Library, oder das Büro für Antipropaganda. Aktuell leitet sie "institutions extended" für den Fachbereich Kunst und Kultur in Mitte.

Wir interessieren uns für Ideen, die nicht in großen Lernzentren diskutiert werden

23.06.2020
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"Lebt und arbeitet in Berlin" ist unsere neue Reihe, in der Künstler*innen miteinander sprechen. Das Format wechselt zwischen verschiedenen Genres, die die Künstler*innen jeweils wählen. Die Reihe ist Teil des Projekts Institutions Extended. Für diese Ausgabe trafen sich die Künstlerin Marina Naprushkina und die Kuratorin Agnieszka Kilian mit Slavs and Tatars und deren Artist-in-Residence Sergey Shabohin und Olia Sosnovskaya.

Marina Naprushkina: Es ist aktuell eine wichtige Frage zu überlegen, wie Künstler*innen ihre vorhandenen Ressourcen miteinander teilen können. Ihr habt euer Studio in Moabit zu einer Residency für Künstler*innen und Kurator*innen erklärt. Wie ist die Idee entstanden und was habt ihr noch vor?

Slavs and Tatars: Die Residenz ist eine unserer jüngeren Initiativen, die darauf abzielen, Slavs and Tatars als Plattform, aber auch als Kunstkollektiv zurückzugewinnen. Als wir 2006 begannen, ging es darum, eine Reihe von Fragen zu stellen, die unserer Meinung nach bisher nicht ausreichend behandelt wurden, bestimmte Lücken in der Wissensproduktion zu untersuchen usw.
Wir hatten nicht vor, eine von Autor*innen getriebene künstlerische Praxis zu entwickeln. Ein Jahrzehnt später, anlässlich einer Ausstellung als Retrospektive in der Mitte unserer Laufbahn, die sich ausschließlich auf unsere Region konzentrierte – Vilnius, Warschau, Teheran, Istanbul -, hielten wir es für wichtig, einen Blick zurückzuwerfen, bevor wir uns vorwärts bewegten, um zu sehen, wohin wir in den nächsten zehn Jahren oder länger gehen wollten.
Es ist sowohl Verantwortung als auch Segen: Wir haben mehr als ausreichende Möglichkeiten und Ressourcen für unsere eigenen Projekte. Wir würden die Plattform gerne auf andere ausdehnen. Der Aufenthalt hier ist insofern einzigartig, als er auch als Mentor*innenprogramm fungiert. Wir finden, dass es an vielen Stellen in der Kunstausbildung mangelt. Aber selbst an den renommierten Kunstschulen wie Städel oder Yale wird das Notwendige nicht vermittelt, wie man zum Beispiel im 21. Jahrhundert als Künstler*in wirtschaftlich überlebt und sich erfolgreich positioniert.

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Slavs and Tatars, ‘Nose to Nose’, 2017. Installation view at Pejman Foundation, Teheran.
Photo: Hamid Eskandari

MN: Aus welchen Ländern kommen die Gäste eurer Residenz?

S&T: Das Programm wurde zusammen mit Jakob Racek vom Goethe-Institut in Minsk ins Leben gerufen. Die ersten vier Künstler*innen und Kurator*innen kamen aus Belarus. Danach waren auch Kunstschaffende aus Armenien, Georgien und Russland bei uns.

Agnieszka Kilian: Euer Studio hat ein großes Fenster, das eine Verbindung von der Straße zum Innenraum bildet. Wie steht ihr zum Thema Studio und Straße? Habt ihr nach dieser Art von Verbindung gesucht?

S&T: Sehr sogar. Die Wahl einer Ladenfläche im Erdgeschoss mit großen Fenstern ist eine eher politische Entscheidung. Oft nutzen Künstler*innen die Stadt Berlin als eine Art anonymen Ort, der einfach der Entspannung und der Entgiftung dient. Vor der Pandemie war der größte Teil der Arbeiten der Berliner Künstler*innen irgendwo anders und dadurch wurde die Stadt eher zu einer Art Privatraum. Durch die großen Fensterscheiben, diese Durchlässigkeit, eine Sichtbarkeit wollten wir  uns mit unserem Kiez verbinden. In diesem Sinne wurde auch das Studio konzipiert. Wir haben die Fenster nicht getönt, wir haben keine Jalousien installiert.

MN: Wie lange lebt ihr schon in Moabit und wie hat sich die Nachbarschaft verändert, wie erlebt ihr das?

S&T: Wir leben seit 2013 in Moabit und lieben seine bescheidene Zentralität, gut verbunden mit dem westlichen und östlichen Zentrum. Für viele Berliner*innen ist es ein unbekannter Fleck in der Mitte der Stadt. Die Vielfalt spiegelt sich auch darin wider, dass es viele Mikro-Gemeinschaften gibt. Es gibt keine dominierende Einwanderergemeinde, die Menschen kommen aus der Ukraine, Polen, Libanon, Westafrika usw.

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Slavs and Tatars, ‘The Vague Space’, 2017. Installation view at Weserburg Museum, Bremen.
Photo: Björn Behrens

MN: Ihr produziert viele Objekte, arbeitet mit unterschiedlichen Materialen. Ich denke zum Beispiel an “Spinne der Solidarität”, einer Arbeit, die ihr in Minsk in der Galerie “Y” gezeigt habt. In den Dörfern in Belarus wurden traditionell auch “Spinnen” aus Stroh gemacht. Ich erinnere mich, das in der Schule gelernt zu haben. Wie und wo erwerbt ihr eure handwerklichen “Skills”? Wie wichtig ist das für euch?

S&T: Wir arbeiten je nach Projekt mit Handwerkern*innen: in Usbekistan für Suzanis (Stickarbeiten), in Polen für Pająki (Geflochtene Figuren aus Stroh) im Iran für Spiegelmosaiken usw. Handwerk ist uns wichtig als Medium, aber auch als Mittel, bestimmte Ideen zu überdenken. Zum Beispiel wird der Begriff der Urheberschaft auch im Handwerk oft sublimiert: Man schreibt sich in eine Tradition ein, und es ist in dieser Tradition, nicht gegen sie, dass man sie weiterentwickelt. Innovation und Individualismus – die beiden Säulen der bildenden Kunst oder der zeitgenössischen Kunst – existieren im Handwerk so nicht.

AK: Wie lernt ihr von anderen? Oder anders gefragt: was bedeutet für Euch eine Zusammenarbeit?

S&T: Als Kollektiv ist Zusammenarbeit für uns eine tägliche Praxis. Tatsächlich ist jeder von uns ganz anders, mit unterschiedlichen Fähigkeiten, wenn nicht gar Überzeugungen: Es ist wichtig, sich die eigene Antithese zu eigen zu machen. Sie lehrt uns wie wertvoll es ist, sich mit Menschen anzufreunden, die ganz anders sind als wir selbst, und uns mit Ideen auseinanderzusetzen, die wir vielleicht schrecklich finden. Dies geht auf den Kern der Frage zurück, warum wir Slavs and Tatars gegründet haben: um uns mit jenen Wissensgebieten zu befassen, mit denen wir sonst vielleicht nicht konfrontiert wären. Deshalb wird man in unseren Büchern kaum Hinweise auf einschlägige kritische Theoretiker finden: Wir interessieren uns für Zahlen oder Ideen, die nicht in großen Lernzentren diskutiert werden. Wir haben es immer als etwas entmutigend empfunden, dass die Universitäten in Cambridge, Heidelberg, Moskau und Jakarta alle dem gleichen Kanon und Genealogien folgen.

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Slavs and Tatars, Solidarność Pająk Study 3, 2011, acrylic yarn, cordon thread, metal beads, string crochet, fringe trim, wool, ribbons, steel, 80 × 40 × 40 cm. ©Slavs and Tatars

MN: Wenn ich in Minsk in einem Antiquariat stehe, zwischen Büchern aus der sowjetischen Zeit, die eine beträchtliche geografische Weite der Weltliteratur und Zeitgeschichte abdecken, muss ich oft an euch denken. Besonders wenn ich mir die früheren Satire-Magazine der ehemaligen sowjetischen Republiken anschaue. Ein Medium um diese radikale und gewaltsame politische und gesellschaftliche Umwandlung zu spiegeln. Ihr arbeitet ganz gezielt damit. Könnt ihr vielleicht erzählen, wie ihr die Themen für eure Arbeit findet?

S&T: Wir arbeiten nach Forschungszyklen – jeder Zyklus dauert etwa drei Jahre. Wir brauchen etwa zwei Jahre für einen zweigleisigen Forschungsansatz. Auf der einen Seite unternehmen wir eine bibliographische bzw. wissenschaftliche Forschung, und auf der anderen betreiben wir Field Research, um uns mit anderen Mitteln – affektiv und erfahrungsbezogen, der eher analytischen Funktion der bibliographischen Forschung zu nähern. Nachdem wir einige Fortschritte gemacht haben, stellt sich unweigerlich die Frage: Was bringen wir als Künstler*innen, als Slavs and Tatars in die Debatte ein. Sei es zur Politik des Alphabets, Spiegel für Fürsten oder zur unwahrscheinlichen Beziehung zwischen dem Iran und Polen vom 17. bis zum 21. Jahrhundert, wozu bspw.Akademiker*innen, Politiker*innen, Aktivisten*innen usw. nicht bereits etwas eingebracht haben. Dann ist etwa ein Jahr dafür vorgesehen, dieser Forschung Gestalt zu geben: Ob sie nun eine Ausstellung, eine Publikation, eine Vortragsaufführung oder eine Kombination aus allen dreien wird.
Angesichts der Tatsache, wie fernliegend unsere Interessen oft sind – sei es die ungarische Schrein-Kultur oder mittelalterliche Ratgeberliteratur – bemühen wir uns sehr, die Vermittlung innerhalb des Themas selbst zu konzipieren. Das heißt, je populärer oder partizipatorischer die Arbeit ist, desto mehr erlaubt sie einen Handlungsspielraum, um obskure, schwierige Themen zu untersuchen.

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Slavs and Tatars, Wheat Mollah, 2011, wheat, cotton, brick, 25 × 45 × 35 cm. ©Slavs and Tatars

MN: Ihr arbeitet an vielen Orten, stellt international aus. Wie organisiert ihr eure Arbeit im Spannungsfeld der immer höheren geforderten Flexibilität und der Notwendigkeit privater Auszeiten und Regenerierung?

S&T: In den ersten zehn Jahren haben wir unser Ausstellungsprogramm selbst geplant, wobei die meisten Einladungen aus dem Westen kamen. Trotz zunehmender Internationalisierung und Dekolonialisierung des Kanons bleibt der Kernpunkt der Kunstwelt leider zwischen New York und dem Rheinland. Wir haben uns also in den letzten Jahren bemüht, Ausstellungen, Vorträge usw. in unserer Region zu veranstalten: in Eriwan und Baku. Die Ausstellung in Minsk war eine Erinnerung an frühere Zeiten, wirklich. Seit wir als Lesegruppe begonnen haben, bleibt das partizipatorische Element der Forschung wichtig, und das Feedback ist in Minsk unendlich bereichernder und dankbarer als beispielsweise in London.

Sergey Shabohin, Künstler und Kurator hatte im Dezember 2018 eine Residency im Studio von Slavs and Tatars.

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Sergey Shabohin in the Slavs & Tatars studio, Berlin, 2018. ©Sergey Shabohin

Agnieszka Kilian: Sergey, du hast einen Monat in der Residenz im Atelier von Slavs and Tatars verbracht. Woran hast du gearbeitet und wie unterscheidet sich diese Residenz von anderen, die zum Beispiel Institutionen anbieten?

Sergey Shabohin: Ich sehe diese Resdenz als eine Art Mentoring-Programm. Wir haben im Studio als Teil des Slavs and Tatars-Teams gearbeitet und mitgewirkt. Es gab einen hohen Vertrauensvorschuss. Sie haben damals als Kurator*innen ein Projekt in Ljubljana vorbereitet. Ich durfte Künstler*innen für dieses Projekt vorschlagen und meine Vorschläge wurden auch umgesetzt. Das war natürlich eine großartige Bestätigung.
Auch dass ich in der heißen Projektphase stark in die Umsetzung mit eingebunden wurde, viele Künstler*innen dabei kennengelernt habe, all das hat mein professionelles Selbstbewusstsein gestärkt.
Aber es gab auch Zeit zum Erkunden der Stadt, für mich selbst, meine Projekte. Das alles unterscheidet dieses Format sehr von üblichen Residency Aufenthalten, wo man doch mehr auf sich allein gestellt ist.

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We are Stern Consumers of Cultural Revolutions, 2017, ©Sergey Shabohin

Olia Sosnovskaya ist Künstlerin und Theoretikerin aus Minsk und hatte im März 2019 bei Slavs and Tatars eine Studio-Residenz.

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Olia Sosnovskaya, lecture-performance im Rahmen der Ausstellung Pose, Subordination, Festivities and Hedgehogs, Aperto Raum, Berlin, 2019. ©Olia Sosnovskaya

Agnieszka Kilian: Olia, Post Studio ist der Begriff für die aktuelle Diskussion darüber, ob ein Studio ein überhaupt noch benötigter Arbeitsraum ist. Wie siehst du diese Diskussion? Studio als Raum, welche Rolle spielt es für dich?

Olia Sosnovskaya: Im Kontext der Diskussionen über Post Studio fühle ich mich in einer eher ironischen Position: als wäre ich schon immer post gewesen. Ich hatte nie ein Studio. Ich habe an keiner Kunstakademie studiert, ein eigenes Studio zu mieten konnte ich mir nie leisten. Es schien mir auch nicht unbedingt notwendig: Für meine Arbeit benötige ich einen Computer und meinen Körper. Vielleicht hat das Fehlen einer räumlichen Abgrenzung der Arbeits- und Nichtarbeitsbereiche dazu geführt, dass der Unterschied zwischen diesen Bereichen für mich ein komplexes und ungelöstes Problem darstellt. In letzter Zeit scheint mir das Studio aber etwas sehr Wertvolles. Ich finde die Idee des Studios als Kollaborationsraum richtig, daher hat mir die Zeit bei Slavs and Tatars, die gemeinsame Arbeit, viel Energie gegeben.
Ich denke, die Idee des Post-Studio ergibt sich aus dem Verständnis der Kunst, als etwas Flüchtiges, etwas was versucht, der Normierung zu entkommen. Eine solche Haltung veranschaulicht die Arbeit von Mladen Stilinović “Artist at Work” von 1978 perfekt – ein Bild, auf dem der Künstler im Bett liegt. Andererseits könnte sich hinter der Idee des post studios die normalisierte Prekarität verbergen, mangelnde Ressourcen und Ausbeutung. Man ist sozusagen immer bei der Arbeit, egal welcher Raum, jeder kann zu deinem “Studio” werden. Und was auch klar ist: unterschiedliche Praktiken und Arbeitsweisen benötigen unterschiedliche Räume.

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Olia Sosnovskaya, Incredibly relaxing meditation music, 2019. ©Olia Sosnovskaya

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Gefördert von der Europäische Union – aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und das Land Berlin im Rahmen der Zukunftsinitiative Stadtteil, Programm Sozialer Zusammenhalt

Slavs and Tatars sind eine Künstler*innengruppe (gegründet 2006 in Eurasien) mit Künstler*innen aus Belgien, Polen, Iran und den USA. Das Werk von Slavs and Tatars untersucht multiple Glaubens- und Ritualsysteme Eurasiens und in Vergessenheit geratene Bereiche der slawischen, kaukasischen und zentralasiatischen Kultur. Sprache ist ein zentrales Thema des Kollektivs, welches ursprünglich als Lesegruppe gegründet wurde. S&T stellen international aus und halten Vorträge.
Die Gruppe ist mit ihrem Studio in Berlin Moabit angesiedelt.

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