Anna-Lena Wenzel: Bevor wir auf die Ausstellung zu sprechen kommen, möchte ich etwas zum Freiflächen-Konzept von BERLIN GLOBAL fragen, in dessen Rahmen sie stattfindet. Habe ich es richtig verstanden, dass ein Teil der Ausstellungsfläche für wechselnde Sonderpräsentationen reserviert ist? Was zeichnet diese Ausstellungen aus und ist es die erste Ausstellung, die du kuratiert hast?
Brenda Spiesbach: Das Konzept für die Freiflächen war von Beginn an im Gesamtkonzept der Ausstellung BERLIN GLOBAL angelegt und wurde im Verlauf der Ausstellungsentwicklung von einem Teil des Teams ausgearbeitet. Über die drei Freiflächen in der Ausstellung werden verschiedene Ziele mitgetragen: Hier erfolgt die Übergabe an Akteur*innen der Berliner Stadtgesellschaft. Es werden Themen präsentiert und verhandelt, mit denen sich unsere Kooperationspartner*innen vorab bewerben. Sie reichen ein Thema ein bzw. stellen eine Idee mit Berlinbezug und Geschichten vor, die fehlen und hier erzählt werden sollten.
Welche Projekte mit dem Stadtmuseum ausgearbeitet und umgesetzt werden, entscheidet eine unabhängige Jury, die aus Vertreter*innen der Berliner Zivilgesellschaft besteht. Die Freiflächen-Projekte sind sozusagen kleine Sonderausstellungen, die als alleinstehende Präsentationen funktionieren und die Gesamtausstellung immer wieder aktualisieren und kommentieren. Die Partner*innen aus der Stadt erweitern die Perspektiven und Positionen in der Ausstellung und ermöglichen es, den Gegenwartsbezug immer wieder neu herzustellen.
Die Ausstellung „Mitten unter uns. Wohnungslose Frauen* in Berlin“ ist das zweite Projekt, das ich begleite und es entstand in Zusammenarbeit mit dem Verein querstadtein. Insgesamt ist dies aber unsere fünfte Freiflächen-Ausstellung seit 2021.
„Ich hab unter der Brücke am Zoo auch schlechte Erfahrungen mit Gewalt gemacht. Also gerade gegen Frauen. Männer sind da ja immer, was Frauen angeht, nicht gerade zimperlich.“[1]
„Ich habe mich auf der Straße sicherer als bei mir zu Hause gefühlt.“
ALW: Die Ausstellung besteht vornehmlich aus einer kompakten, recht cleanen Haus-Architektur mit sechs Türen. Wenn man diese öffnet, blickt man auf einen Infotext, Fotos und eine Medienstation, auf der man Interview-Zusammenschnitte anhören und parallel nachlesen kann. Wie ist die Idee zur Architektur entstanden?
BS: In der Projektskizze von querstadtein war von Anfang der Schwerpunkt auf Audiobeiträge gesetzt, sodass wir auf der Suche nach einer Präsentation waren, die Visuelles und Raumgreifendes ergänzt, ohne zu sehr von den eigentlichen Inhalten der Audios abzulenken. Der konkrete Vorschlag kam von den Gestalter*innen von Studio IT’S ABOUT, mit denen wir für die Ausstellung zusammengearbeitet haben.
„Ich muss heute sagen, ich habe sehr bewusst angefangen Drogen zu konsumieren, weil Menschen mir wehgetan haben und das wehgetan hat. Und Drogen waren für mich eine Bewältigungsstrategie, das nicht mehr zu merken. Also jetzt zum Beispiel auch auf der Straße Sachen nicht mehr zu merken.“
„Meine Drogensucht war einfach dafür da, dass ich meinen Kopf tot mach᾿, damit ich die Gefühle nicht hab᾿. Damit ich keine Aggressionen hab᾿. Einfach nur totmachen. Da hat das Heroin geholfen, ja.“
ALW: In den Interviews kommen sechs Frauen zu Wort und äußern sich zu folgenden Fragen: Warum wurden wir wohnungslos? Woher kommen wir? Wie (über)leben wir auf der Straße? Was hilft uns? Wie wollen wir leben? Wo bleibt unsere Würde? Ihr unterscheidet zwischen wohnungslos und obdachlos – also zwischen Frauen, die auf der Straße leben und denjenigen, die in Einrichtungen wohnen bzw. diese regelmäßig nutzen. Dazu ein paar Zahlen von euren Infotafeln: zum 31.1.2023 waren in Berlin 40.000 wohnungslose Menschen in Einrichtungen untergebracht, von Obdachlosigkeit betroffen sind ca. 6.000 bis 12.000 Menschen. Was ich aufschlussreich fand, war die komplexe Gemengelage, die häufig mit Obdachlosigkeit verbunden ist: Flucht vor häuslicher Gewalt oder dysfunktionalen Familien, Suchterkrankungen, Arbeitslosigkeit, Überforderung vor bürokratischen Anforderungen, wobei es gut war, auch auf die „positiven Seiten“ des Lebens auf der Straße hingewiesen zu werden, wie zum Beispiel der Kontakt zu anderen. Was hast du bei der Ausstellung gelernt?
„Ich habe mir 30 Wohnungen angeschaut. Aber die Sozialarbeiterin gab nicht auf. Sie sagte: Wir werden weitersuchen. Und irgendwann Anfang November, meinte sie zu mir: Komm, schau dir noch diese letzte Wohnung an! Aber ich habe nicht damit gerechnet, als obdachlose Frau, fast ohne einen Cent, diese Wohnung zu bekommen. Und die Sozialarbeiterin gab mir die Unterlagen für die Wohnungsbesichtigung. Ich war die einzige bei der Besichtigung. Und jetzt wohne ich in der Wohnung.“
„Nur, wenn man eine Wohnung hat, dann kommen andere Probleme. Ich zum Beispiel habe mit geschlossenen Türen Probleme. Ich muss immer mit dem Gesicht zur Türe schlafen, wenn ich alleine schlafe. Ich muss bis heute Licht anhaben. Ich muss die Türen offenlassen. Ich habe Panikattacken gekriegt. Dann kam alles auf einmal. Man ist ja postalisch wieder zu erreichen. GEZ will was von dir, Krankenkasse will was von dir. Es war nicht du hast ᾿ne Wohnung und alles ist gut, also das ist es definitiv nicht, sondern es wird erstmal richtig beschissen.“
ALW: Die Ausstellung ist in enger Kooperation mit dem Verein querstadtein entstanden, der Stadtführungen zu den Themen „Armut und Obdachlosigkeit“ sowie „Flucht und Migration“ aus der Perspektive von Betroffenen entwickelt und organisiert. Was zeichnet die Zusammenarbeit mit einer solchen Initiative im Vergleich zu anderen Kooperationspartner*innen aus?
BS: Das Besondere an den Freiflächenprojekten ist, dass sich das Stadtmuseum hier zurücknimmt und den jeweiligen Expert*innen, sprich Kooperationspartner*innen die Bühne und die Deutungshoheit überlässt. Das unterscheidet sich natürlich von Fall zu Fall, aber hier waren für die Erstellung der Inhalte – Audios, Fotografien und Texte –, in Rücksprache mit mir, die Projektbeteiligten von querstadtein verantwortlich. Diese vom Stadtmuseum begleitete Übergabe zeichnet die Freiflächenausstellungen aus. Ich sehe mich in den Projekten deshalb auch eher als Mittlerin. Und je nach Projekt, den Schwerpunkten der jeweiligen Partner*innen, fällt die Begleitung durch mich oder meine Kollegin Sophie Perl unterschiedlich aus. Häufig entwickeln wir gemeinsam zu Beginn Kernaussagen und formulieren bestimmte Ziele, wir helfen beim Fokussieren, stellen Fragen und achten auf die Zugänglichkeit auf unterschiedlichen Ebenen für die Besucher*innen.
ALW: In den Interviews, aus denen man Ausschnitte hören kann, kommen sechs Frauen* zu Wort. Ich habe das Gefühl, ihr habt Wert auf eine diverse Auswahl gelegt: es ist zum Beispiel eine Trans-Person dabei und eine Frau mit Migrationsgeschichte. Wie seid ihr auf sie gekommen? Arbeiten sie bei querstadtein oder wurden sie durch querstadtein vermittelt? Gibt es Personengruppen oder Geschichten, die fehlen?
BS: Die Protagonist*innen der Ausstellung wurde alle von querstadtein vermittelt. Durch die Vereinsarbeit besteht dort ein großes Netzwerk – unter anderem zu Housing First, Evas Obdach, Zeit für Solidarität und anderen Initiativen. Dort konnten wir unkompliziert Frauen* ansprechen.
„Ich habe erst in den letzten Jahren begriffen, dass die Gesellschaft obdachlose Menschen oder wohnungslose Menschen als schwach empfindet. Nein, verdammt noch mal, die sind nicht schwach. Genau das Gegenteil. Man soll erst mal auf der Straße klarkommen. Man soll erst mal überleben. Man soll sich erst mal selber eine Binde basteln oder einen Löffel basteln oder einen Brandanschlag hinter sich kriegen, ohne zum Psychologen rennen zu können. Das muss man erst mal schaffen.“
ALW: Bei der Ausstellungseröffnung ging es in der anschließenden Diskussion auch um die Frage, wie zugänglich die Ausstellung im Humboldt-Forum für wohnungslose Menschen ist. Allein die repräsentative Architektur könnte einschüchternd wirken, hinzukommen Ticketpreise und die Verpflichtung, bei einer Ermäßigung ein Dokument vorlegen zu müssen. Wie seid ihr mit diesen Fragen umgegangen?
BS: Hier komme ich nochmal auf den Punkt zurück, der ziemlich zu Beginn der Ausstellungsentwicklung stand, sich nämlich gemeinsam bewusst zu machen, an welchem Ort wir uns hier befinden: Ein Raum, der unheimlich aufgeladen und belastet ist und für viele Menschen in der Stadt unterschiedliche Hürden bereithält. Sodass für mich und auch für das Team von querstadtein klar war, dass wir zwar versuchen werden, neue Besucher*innengruppen für das Thema zu gewinnen, aber dass uns der Ort Humboldt-Forum auch beschränkt und wir auch eine Ausstellung machen für das Publikum, das da ist. Ich war dann sehr erfreut, gleich nach der Eröffnung zu merken, dass es auch Interesse von Betroffenen gibt, sich die Ausstellung anzuschauen.
Viele Personengruppen erhalten kostenfreien Eintritt für BERLIN GLOBAL, aber verbunden mit einem Nachweis. Aktuell besprechen wir, wie die Ausstellung zugänglicher werden kann, wobei dem Stadtmuseum eine Willkommenskultur wichtig ist. Wir versuchen diese in den Ausstellungsflächen von BERLIN GLOBAL umzusetzen, doch ist das nur sehr bedingt auf die anderen Flächen des Hauses übertragbar.
ALW: Diese Frage ist wirklich komplex. Mich hat sie beschäftigt, weil ich die Ausstellung „Home Sweet Home – Wege aus der Obdachlosigkeit“ im Paul-Löbe-Haus (18.10. bis 17.11.2023) gesehen habe. Sprache und Zugangsbeschränkungen ließen auf die Abgeordneten als Zielpublikum schließen. Die Ausstellung lässt sich somit als Lobbyarbeit für die Belange von wohnungslosen Menschen verstehen, während eure Ausstellung auf ein breiteres Publikum ausgerichtet ist.
BS: Ja, das Anliegen ist, das Thema in der Mitte der Stadt zu verhandeln, das Publikum des Humboldt Forums zu sensibilisieren und Aufklärungsarbeit zu leisten, durch die Stimmen derer, die Obdach- und Wohnungslosigkeit erlebt haben. Wichtig war von Anfang, die Perspektive von Frauen* in den Mittelpunkt zu rücken, die häufig unsichtbar bleiben (müssen).
„Auf der Straße teilst du alles. Dein Schlafzimmer. Dein Wohnzimmer, dein Esszimmer. Ja, eventuell auch dein Badezimmer, je nachdem. Durch Corona war es ja für uns Frauen echt ein Problem, irgendwo das Geschäft zu verrichten.“
„Die wenigsten, die mir begegnen, kämen auf die Idee, dass ich wohnungslos bin. Ich weiß mich zu kleiden. Ich kann reden. Ich geh natürlich auch mit dieser Situation nicht unbedingt hausieren.“
ALW: Gibt es ein spezifisches Vermittlungsprogramm für die Ausstellung?
BS: Ja, wir setzen auch im Vermittlungs- und Veranstaltungsprogramm einen Schwerpunkt auf die Zusammenarbeit mit den Protagonist*innen. So findet am 21. Februar eine Lesung mit der Autorin Janita-Marja Juvonen statt, die zum Thema Obdachlosigkeit ein Buch geschrieben hat. Im März und April wird es in der Ausstellung Tandemführungen mit Susanne Hinneberg von querstadtein geben. Für die Sommermonate planen wir Stadtführungen in Kooperation mit querstadtein und es wird an einem eintrittsfreien Sonntag einen Thementag Obdach- und Wohnungslosigkeit geben.
„Ich habe mit Schulvorträgen angefangen, dann kamen Podiumsdiskussionen, Stadtführungen, dazu, Lesungen usw. und so fort. Und seitdem ich Stadtführungen mache, weiß ich, die Bevölkerung hat keine Ahnung. Da ist es kein Wunder, dass solche Sprüche kommen wie: selber dran schuld. Jeder kann, keiner muss.“
„Wie wir während der Pandemie gemerkt haben: Es geht schneller als man denkt und es gibt keine Schicht, die es nicht betrifft. Es gibt keinen, dem das nicht passiert. Und die Bevölkerung sollte ihre Stimme auch den betroffenen Menschen geben. Sei es jetzt politisch, wenn sie politisch aktiv sind, und nicht nur zu Weihnachten. Zeigen, dass man nicht wegguckt und dass man den Menschen, die keine Stimme haben, die Stimme bekräftigt.“
ALW: Zu den Videos gibt es zum Teil eine Triggerwarnung, dass die dargestellten Tracks Erzählungen über Gewalt und den Umgang mit Drogen enthalten. Ich habe mich an dieser Stelle gefragt, wie sinnvoll diese Hinweise sind, oder anders gefragt: Ab wann ist die einem Objekt inhärente oder in einer Arbeit thematisierte Gewalt so drastisch, dass davor gewarnt werden muss? Vor dem Hintergrund von Videospielen oder Musikvideos, die offensichtlich Darstellungen von Gewalt enthalten, finde ich es extrem schwer, zu bestimmen, wann mit einem Hinweis gewarnt werden soll. Dieselbe Frage kam mir in der Ausstellung von Mark Dion im Museum Nikolaikirche, wo es einen Giftschrank gibt, der nur auf Nachfrage geöffnet wird und eine Barbiepuppe ebenso enthält wie Zinnsoldaten. Wie diskutiert ihr das innerhalb des Teams?
BS: Über die mediale Darstellung von Gewalt haben wir uns im Rahmen von BERLIN GLOBAL immer wieder ausgetauscht, auch in Bezug auf andere gewaltvolle, möglicherweise retraumatisierende Darstellungen. Ein Grund für die Entscheidung, eine Triggerwarnung zu setzen, hängt damit zusammen, dass wir zum einen Menschen vorwarnen wollten, die möglicherweise ähnliche Erfahrungen gemacht haben und für die solche Schilderungen schwer zu ertragen sind oder anderes auslösen können. Eine weitere Besucher*innengruppe sind Kinder und Schüler*innen, die zwar begleitet die Ausstellung besuchen, aber wo wir die Möglichkeit geben wollten, drastische Schilderungen auch auslassen zu können.
Du sprichst mit deiner Frage aber natürlich einen größeren Komplex in der Ausstellungsarbeit an, bei dem ich und meine Kolleg*innen viel Gesprächsbedarf sehen. Der Giftschrank in der Nikolaikirche ist der Versuch, eine mögliche Strategie auszutesten. Mit Blick auf rassistische, rassifizierende Darstellungen haben wir im Stadtmuseum darüber hinaus eine Workshop-Reihe konzipiert, um im Team und mit externen Expert*innen Strategien für eine rassismuskritische und diskriminierungssensible Ausstellungspraxis zu entwickeln.
ALW: Die Europäische Union und die Bundesrepublik Deutschland wollen Wohnungslosigkeit bis 2030 beenden. Wie ist deine persönliche Einschätzung nach dieser Ausstellung. Ist das deiner Meinung nach ein realistisches Ziel?
BS: Ich bin trotz des Projektes keine Expertin für das Thema, aber was dieses Ziel anbelangt, bin ich leider pessimistisch. Denn auch wenn Projekte wie Housing First eine hohe Erfolgsquote haben, sind sie aktuell viel zu klein skaliert und es bräuchte einen Paradigmenwechsel: In Berlin könnte jede*r Person ca. 39qm Wohnraum zu Verfügung stehen. Das heißt, wir sollten neben oder zusätzlich zu dem meist sehr klimaschädlichen Bauen über das Thema Verteilungsgerechtigkeit sprechen, um mehr Menschen Wohnraum zur Verfügung stellen zu können.
[1] Alle kursiv gesetzten Aussagen stammen von den Interviewpartner*innen und sind Teil der Ausstellung.
„Mitten unter uns. Wohnungslose Frauen* in Berlin“
BERLIN GLOBAL im Humboldt Forum, Schlossplatz 1, 10178 Berlin
Öffnungszeiten: Mi – Mo, 10.30 – 18.30 Uhr (auch an Feiertagen)
Laufzeit: 21. Oktober 2023 bis 31. März 2025
https://www.stadtmuseum.de/ausstellung/mitten-unter-uns