Ferial Nadja Karrasch

Immer wieder Neues zu lernen, die Welt für einen Augenblick mit den Augen einer fremden Person sehen, sich auf die unterschiedlichsten Perspektiven einlassen – das sind nur einige Aspekte, die Ferial Nadja Karrasch an ihrer Tätigkeit als Kunstjournalistin so schätzt. Sie lebt in Berlin und schreibt für verschiedene digitale und analoge Formate über Kunst und Kultur. Studiert hat sie Kunstwissenschaft, Philosophie und Ausstellungspraxis an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, an der Universiteit van Amsterdam sowie an der Universität der Künste Berlin.

Wo Berlin seinen Ursprung nahm

05.10.2020
Wo Berlin seinen Ursprung nahm: Abfallschacht; Foto: Ferial Nadja Karrasch

Ein Besuch der Ausgrabungen am Molkenmarkt Die Führung über die archäologischen Ausgrabungen am Molkenmarkt beginnt an einem Ort, an dem man sich nicht gerne lang aufhält. Ferial Nadja Karrasch berichtet, warum er trotzdem einen Besuch wert ist.

Die Führung über die archäologischen Ausgrabungen am Molkenmarkt beginnt an einem Ort, an dem man sich nicht gerne lang aufhält: Jüdenstraße und Parochialstraße treffen hier aufeinander, mit dem Neuen Stadthaus und dem Alten Stadthaus im Rücken blickt man auf ein mit einem Bauzaun abgesperrtes Areal, dahinter rauscht auf der Kreuzung Spandauer Straße/Grunerstraße der Verkehr. Es ist laut, es riecht nach Abgasen – ein Ort der sogenannten autogerechten Stadt, wie sie in den 1960er Jahren proklamiert und durchgesetzt wurde.

Das Gebiet um den Molkenmarkt soll wieder zu einem für Menschen attraktiven Ort werden, zu diesem Zweck wurde 2016 ein Bebauungsplan beschlossen, der hier ein „lebendiges Quartier mit einer vielfältigen Mischung aus Wohnen, Gewerbe und Kultur“ vorsieht. Bereits kurz nach der Wiedervereinigung entstand der Gedanke der „Rückgewinnung dieses Teils der Berliner Mitte“, die nun unter anderem mit der bereits begonnenen Umverlegung der Grunerstraße realisiert werden soll.

Doch eh der Molkenmarkt ein neues Gesicht bekommt, wird zunächst seine Vergangenheit erkundet – denn auch wenn sich in unmittelbarer Nähe das Nikolaiviertel befindet, man kommt bei dem Blick auf die mehrspurigen Straßen und die umliegende Bebauung nicht auf die Idee, dass sich hier die städtische Keimzelle Berlins befindet. Radikale Umgestaltungsmaßnahmen um 1900 und während des Nationalsozialismus sowie kriegsbedingte Zerstörungen und die Verbreiterung und Verlängerung der Grunerstraße in den 1960er Jahren haben die Spuren der Vergangenheit weitestgehend beseitigt.

Seit letztem Jahr finden an verschiedenen Stellen rund um den Molkenmarkt Ausgrabungen statt, die insgesamt eine Fläche von 6.000 Quadratmeter umfassen. Bereits abgeschlossen sind die Grabungen an der Rückseite des Roten Rathauses – hier wurden unter anderem eines der ersten Elektrizitätswerke Berlins (1888) und die Fundamente des ehemals ältesten steinernen Hauses Berlins (Haus Blankenfelde aus dem 14. Jahrhundert) ausgegraben. Im August 2019 starteten die Ausgrabungen auf dem Areal vor dem Alten und dem Neuen Stadthaus. Unter der Leitung von Dr. Michael Malliaris gehen die Archäolog*innen hier der Entwicklung der historischen Mitte Berlins nach.

Denn an dieser Stelle nimmt das mittelalterliche Berlin in direkter Nachbarschaft zur kleineren Schwesterstadt Cölln (hier befindet sich heute die Fischerinsel) seinen Ausgangspunkt. Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der beiden mittelalterlichen Schwester-Städte spielte der über die Spree gebaute Mühlendamm – heute eine der Hauptverkehrsstraßen des Stadtteils Mitte –,  der 1298 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Er stellte nicht nur die wichtigste Verbindung zwischen Berlin und Cölln dar, sondern war auch ein für beide Städte sehr lukrativer Warenumschlagplatz: Hier ankommende Schiffe waren aufgrund des „Stapelrechts“ gezwungen ihre Waren abzuladen und sie direkt dem Handel anzubieten, eh sie wieder aufladen und weiterfahren konnten. So entstanden der Cöllnische Fischmarkt und der Berliner Molkenmarkt. 

Die südlichen Abschnitte der Spandauer Straße (die heute zwölf Meter breiter ist als die historische Straße), der Jüdenstraße sowie der Klosterstraße lassen noch immer den Verlauf der Stadtmauer des mittelalterlichen Berlins erahnen. Hier lebten Vertreter*innen der mittelalterlichen Gesellschaft – Kaufleute, Handwerker*innen, Adlige und Mönche – zunächst in Holz- und Fachwerkhäuser und ab dem 14. Jahrhundert in feuerfesten Steinhäusern.

Von dieser Zeit zeugen die derzeit ältesten Befunde auf der aktuellen Ausgrabungsstätte, zu der man über eine hinabführende Treppe gelangt – das Leben in Alt-Berlin fand einige Meter unterhalb der heutigen Laufhöhe statt. Eingefasst von einer freigelegten Backsteinwand und einem Bodenprofil, das die unterschiedlich gefärbten Ablagerungsschichten deutlich erkennen lässt, wird der Blick auf einen im 13. Jahrhundert angelegten Graben frei, aus dem zarte Bäumchen wachsen. Ein paar Meter entfernt hiervon befindet sich ein mittelalterlicher Abfallschacht, dessen Holzrahmen sich erstaunlich gut erhalten hat und in dem neben Scherben von Gefäßen und Töpfen auch ein Jahrhunderte alter Lederschuh gefunden wurde. Zu verdanken ist dies dem Substrat aus organischen Materialien, das sich in dem Schacht anreicherte und so für eine luftdichte „Aufbewahrung“ der hier entsorgten Gegenstände sorgte.

Wo Berlin seinen Ursprung nahm: Graben und Brunnen

Auch für die jungen Bäumchen, die aus dem ehemaligen Graben wachsen, bilden die Überreste organischer Materialien, die hier vor langer Zeit entsorgt wurden, einen fruchtbaren Nährboden. Weniger günstig war diese Befüllung des Grabens derweil für die umliegende Straße: Da sich das Material Stück um Stück zersetzte, senkte sich das Pflaster mit der Zeit ab, so dass das freigelegte Stückchen Straße heute steil in den Graben rutscht.

Dieser Bereich der Ausgrabungen befindet sich rund vier Meter unter der heutigen Laufhöhe Berlins. Durch unterschiedlichste Materialschichtungen wird die jeweilige Laufhöhe im Laufe der Jahrhunderte kontinuierlich nach oben gesetzt, normal seien für eine Dauer von 800 Jahren rund 250 cm, so Malliaris, vier Meter seien allerdings eine ungewöhnlich große Veränderung. Warum das so ist, konnte noch nicht definitiv herausgefunden werden.

In unmittelbarer Nachbarschaft zum Graben, allerdings zeitgeschichtlich einige Jahrhunderte entfernt, befindet sich der Überrest eines rot gepflasterten Kellers aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hieran schließen Sickerschächte aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, ein Kamin, dessen Innenwände noch schwarz gefärbt sind, sowie zwei Brunnen aus dem 18. und dem 19. Jahrhundert. Die Befunde lassen vermuten, dass sich an dieser Stelle ein Hinterhof befand, erklärt Malliaris.

Die Wohn-und Geschäftshäuser dieses Blocks wurden in der Zeit des Nationalsozialismus abgerissen, um hier eine Freifläche vor dem Alten Stadthaus zu schaffen. Weiterhin musste die gesamte Vorderhausbebauung der Parochialstraße und die südliche Zeile des Großen Jüdenhofs dem Neubau der 1938 eingeweihten Feuersozietät, dem heutigen Neuen Stadthaus, weichen.

Nachdem das Quartier im Zweiten Weltkrieg stark zerstört worden war, wurde hier im Zuge der Enttrümmerung haufenweise Schutt entsorgt – eine Auswahl der Findlinge liegt aufgereiht vor einem der Baucontainer: unter anderem eine vor Hitze geschmolzene Glasvase, eine mit Einschusslöchern versehene Werbetafel, ein Telefonhörer, ein halb verrostetes Schild der Feuersozietät, zudem Scherben von Tellern, Krügen und Schüsseln. Zu den unerfreulichen Funden zählen haufenweise Granaten und Maschinenpistolen, erzählt Malliaris. Außerdem stieß das Team auf einen Blindgänger.

Während die Überreste aus dem Zweiten Weltkrieg für Malliaris’ Team keine besondere Bedeutung haben, werden die älteren Funde dokumentiert und in die Datenbank des Landesdenkmalamts Berlin aufgenommen. Eisenfunde, Gefäße und Scherben, aber auch Tierskelette (unter anderem wurde das Skelett eines Pferdes gefunden) und an Töpfen klebende Essensreste geben den Forschenden Aufschluss über die mittelalterlichen Lebensgewohnheiten. Nach Abschluss der Untersuchungen gelangen die Funde in das Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin, wo sie in unterschiedlichen Depots gelagert werden und so für Wissenschaftler*innen zugänglich bleiben. Ausgewählte Funde der Berliner Ausgrabungen sind beispielsweise in der Berlin-Ausstellung im Neuen Museum zu sehen – noch sind die am Molkenmarkt gefundenen Objekte jedoch nicht Teil der Ausstellung.

Das sich im Aufbau befindliche Archäologische Haus am Petriplatz wird es Interessierten nach Fertigstellung ermöglichen, die Arbeit der Forscherinnen und Forscher nachzuvollziehen. Bis dahin lohnt es sich, an einer Führung über die archäologischen Ausgrabungen am Molkenmarkt teilzunehmen, die jeden Freitag um 14 Uhr stattfinden. Außerdem bietet der 23. Berliner Archäologentag am 4. November die Gelegenheit, an unterschiedlichen Führungen teilzunehmen und einen Einblick in das Archäologische Eingangsmagazin und das Archiv der Bodendenkmalpflege zu erhalten.

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