Das n.b.k. Billboard-Projekt und eine Berliner Kreuzung
Es ist laut hier, kalt und grau ohnehin, aber wirklich sehr laut. Autos rauschen vorbei, die Tram, jede Menge Krankenwagen mit kreischendem Martinshorn – die Charité ist in der Nähe. Es ist kein Ort zum Verweilen, sein Rhythmus wird von Ampeln bestimmt, die die Bewegung zwischen den vier großen Straßen regeln: Chausseestraße, Torstraße, Friedrichstraße und Hannoversche Straße laufen hier zusammen.
Aber eine schwebt Göttinnen-gleich über dem Ganzen. Wie eine höhere Macht der Ruhe sitzt sie in einem Herz, das sie irgendwie auch selber ist. Ihre körperlichen Proportionen stimmen nicht und doch ist alles so, wie es sein soll. Sie ist barbusig ohne direkt nackt zu wirken, ein Herz markiert die Stelle ihrer Vulva, aufreizend wirkt sie kein bisschen. Ihr Kopf ist von einem Textblock umgeben:
ON THE CONTINUING JOURNEY TOWARD A SHORE WHOSE DISTANCE SOMETIMES SEEMS EVEN TO INCREASE + NOW, FULLY AWARE THAT THE WAY MUST CERTAINLY BE A SOLITARY ONE, I SIGH + WONDER IF INDEED I WILL EVER MOVE FROM THE VIEW IN WHICH I FIND MYSELF TODAY. BUT NOT TO GO ON NOW IS DEATH.
Die Arbeit On the Continuing Journey (2008/2022) der Künstlerin Dorothy Iannone (*1933 in Boston, † 2022 in Berlin) ist Teil der Billboard-Serie, mit der der Neue Berliner Kunstverein (n.b.k.) seine Aktivitäten im urbanen Raum seit September 2021 erweitert. Alle sechs Monate wird hier das Werk einer zeitgenössischen Künstlerin präsentiert, das eigens für dieses Format konzipiert wurde. Entstanden ist die Idee während der Pandemie, als Kunst im Innenraum plötzlich nicht mehr zugänglich war. „Das Projekt ist auf jeden Fall im Kontext dieser Zeit zu sehen“, so Initiatorin Lidiya Anastasova, die seit 2020 als Kuratorin und Leiterin der Artothek am n.b.k. arbeitet. „Darüber hinaus habe ich mich aber als Kuratorin und Kulturschaffende immer schon für Kunst im Öffentlichen Raum interessiert: Weil sie für alle da ist.“
Wie für Kunst im Öffentlichen Raum gemacht ist die freie Fläche an der Ecke Friedrichstraße/Torstraße mitsamt der 7×7 Meter großen, auf hohen Pfeilern angebrachten Schautafel, an der sie jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit vorbeilief. Die Idee, dort Kunst zu zeigen und so die Aktivitäten des n.b.k. im öffentlichen Raum durch eine weitere Serie (neben des Fassadenprojekts) zu erweitern, wurde durch die Unterstützung der Familie Wall zu Realität. Eröffnet wurde die Billboard-Reihe mit einer Arbeit von Rosemarie Trockel, es folgten Nan Goldin, Gülsün Karamustafa und Carrie Mae Weems. Allesamt Künstlerinnen, „deren Praxis einen gesellschaftlichen foot print“ hinterlässt, so die Kuratorin. Das ist auch der Fall bei Dorothy Iannones Œuvre, das nicht nur vielen Künstler*in als Inspiration dient, sondern auch das einer „Vorreiterin für sexuelle und intellektuelle Emanzipation der Frau“ ist, wie es in der Pressemitteilung der Berlinischen Galerie heißt, wo 2014 eine Retrospektive ausgerichtet wurde.
Freie, bedingungslose Liebe, weibliche Sexualität und spirituelle Formen der Vereinigung waren wichtige Fixpunkte im Schaffen der Künstlerin, die 1976 mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) nach Berlin kam und hier ein neues Zuhause fand, dem sie sogar Liebeslieder widmete. In ihren Arbeiten, deren Bildsprache Anleihen an Pop-Art, Art brut und der Comic-Ästhetik macht, setzte sie sich über Grenzen hinweg – seien sie gesellschaftlicher, normativer oder eben auch künstlerischer Natur.
On the Continuing Journey, das Mitte September 2023 im Zuge der Berlin Art Week installiert wurde, ist eine Hommage an die 2022 überraschend gestorbene Künstlerin. Die ursprünglich als n.b.k. Edition entstandene Arbeit verbildlicht Iannones Auseinandersetzung mit konstanten Transformationsprozessen als Teil unserer Lebensreise.
Und ja, die Arbeit bietet Gelegenheit zum Nachdenken. Wenn man möchte, springt ein bisschen der Ruhe, die die Figur ausstrahlt, über, verlangsamt für einen, vielleicht sogar zwei Augenblicke das Tempo und schafft so Raum für Reflexion. Was bedeutet der Text – im Kontext des Schaffens der Künstlerin, im Kontext meines individuellen Lebens, im Kontext unserer Gesellschaft? „I SIGH + WONDER IF INDEED I WILL EVER MOVE FROM THE VIEW IN WHICH I FIND MYSELF TODAY. BUT NOT TO GO ON NOW IS DEATH.” Was wäre (möglich), wenn alle bereit wären, einen anderen Standpunkt einzunehmen, etwas zu sehen, das wir sonst nicht sehen wollen? Wenigstens für einige Augenblicke. Vermutlich sähe unsere Gegenwart anders aus.
Das ist eine persönliche Interpretation der Arbeit, eine der vielen Möglichkeiten mit ihr umzugehen. Ein anderer deutet sie vollkommen unterschiedlich, eine weitere bemerkt die Arbeit nicht einmal, ein dritter wird aufmerksam und läuft doch weiter, eine vierte findet sie blöd. Aber vielleicht noch schnell ein Foto für Insta, #nbkbillboard, #kunstimöffentlichenraum. In all diesen Umgangsweisen liegt die Möglichkeit für eine Auseinandersetzung. Denn vielleicht wird jemand beim nächsten Vorbeigehen auf die Arbeit aufmerksam, eventuell wird aus dem Vorbeigehen doch einmal ein genaueres Anschauen, ein Nachdenken, und möglicherweise ist gerade die Ablehnung der Arbeit Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit der Kunst.
Was aus der Begegnung mit Kunst entsteht, ist immer unvorhersehbar, zumal bei Arbeiten an einem Ort, der nicht per se für Kunst vorgesehen ist. Aus diesem Grund sind die Werke der Billboard-Serie sechs Monate zu sehen: „Ein solches Projekt braucht Zeit. Es gibt immer den Moment des Unkontrollierbaren bei Kunst im Öffentlichen Raum“, so Anastasova.
Dabei unterscheidet sich das Projekt von vielen anderen Kunstwerken im Öffentlichen Raum: Während für den urbanen Raum geschaffene Werke in der Regel unmittelbar, in gewisser Weise schutzlos in ihrer Umgebung platziert werden, wird hier durch das Display eine Art Rahmen geschaffen, der diese 7×7 Meter als Raum für die Kunst anzeigt. Zum einen ist das Kunstwerk durch die schiere Höhe des Displays nicht so angreifbar, wie es Kunstwerke im öffentlichen Raum in der Regel sind. Zum anderen entsteht eine gewisse Kontinuität und eine Umdeutung des Ortes zu einem (vorübergehenden) Kunst-Ort.
Das Billboard unterscheidet sich von herkömmlichen Werbe- und Plakatflächen, wie sie zuhauf in der Stadt zu sehen sind. Die einzelne Tafel ist freistehend und macht durch ihre Materialität auf sich selbst aufmerksam. Während Werbeflächen in der Regel an Hauswände und Mauern integriert sind oder hinter dem jeweiligen Werbeplakat verschwinden, bleibt die Konstruktion des Billboards sichtbar. Sein Anblick erzeugt eine Unterbrechung in der Wahrnehmung. Hier steht etwas, das ich mir nicht sofort erklären kann, das ich nicht direkt in einen Bezug setzen kann zum umliegenden Ort. Was haben die lächelnde Frau (Iannone) oder Queen B (Weems) mit dieser Kreuzung tun?
Die Antwort ist: Eigentlich nichts und dennoch – oder gerade deswegen – regen sie über die werkimmanente Beschäftigung hinaus dazu an, sich mit der Umgebung vertraut zu machen. Und das, obwohl sie nicht konkret Bezug nehmen auf ihr urbanes Umfeld, so wie beispielsweise die Arbeiten der Projekte Kunst im Stadtraum am Hansaplatz und Kunst im Stadtraum an der Karl-Marx-Straße, die den Blick explizit auf die Geschichte und Gegenwart der Viertel lenken.
Die Auseinandersetzung mit dem Umliegenden findet hier eher beiläufig statt, initiiert durch die Unterbrechung, die die Werke hervorrufen.
Und so wird aus der lauten, irgendwie unschönen Kreuzung ein architektonisches, künstlerisches, geschichtliches Potpourri. Da ist zunächst die unmittelbare Nachbarschaft des Billboards: Zwei Berlin-typische Brandwände, auf denen sich Urban Artists und Grafitti-Künstler verewigt haben. Ein Mural der Graffiti-Crew Ma’Claim zeigt auf einer der beiden Wände drei nackte, Muskel-bepackte Männer, die in einem Boot sitzend nach Diamanten fischen. Die andere Wand, direkt hinter dem Billboard ist voll mit Tags und schnell gesprühten, wenig ausgestalteten „Bildern“. Darunter eines der aus Kreuzberg stammenden Crew 1Up, deren Schriftzüge überall in der Stadt zu finden sind.
Hier kommen verschiedene künstlerische Formen zusammen: Kunst im öffentlichen Raum und im institutionellen Kontext trifft auf legale Street Art und weniger legale – nennen wir es beim Namen: illegale – Grafitti-Kunst.
Auch das Display selbst wurde zur Fläche für Sprayer*innen und Tagger*innen. Die Pfeiler tragen einige Signaturen und die großen Betonblöcke, mit denen die Tafel beschwert wird, zeigen zwei karikatureske Polizei-Figuren. Eine Lichterkette ist behelfsmäßig an zwei Pfeilern befestigt – jetzt, in der Vorweihnachtszeit werden auf der Fläche um das Display Weihnachtsbäume verkauft.
Dann sind da die umliegenden Häuser, die jeweils eine der drei verbleibenden Ecken der Kreuzung flankieren: Der Hauptsitz des Unternehmens Wall in der Friedrichstraße 118, dessen Produkte uns nahezu täglich bei unserer Bewegung durch die Stadt begegnen. Wall ist Herstellerin von Werbeträgern, Haltestellen und öffentlichen Toiletten.
Schräg gegenüber, an der Ecke Torstraße/Chaussestraße befindet sich ein prachtvolles Jugendstilgebäude. Das „Haus Feuerland“ erzählt von der Geschichte des Areals um die Chausseestraße. 1804 wurde vor dem früheren „Neuen Tor“ in der Invalidenstraße die Königliche Eisengießerei errichtet, in den 1820er Jahren folgten zahlreiche weitere sogenannte Maschinenbauanstalten, die sich vornehmlich der Entwicklung des Dampfmaschinen- und Lokomotivbaus widmeten. Als „Feuerland“ wurde das Areal in Anlehnung an den Schein der Schmiedefeuer genannt, die am Himmel zu sehen waren. Heute erinnern die Wöhlertstraße, die Borsigstraße, die Schwarzkopffstraße sowie die Pflugstraße an einige der Fabrikanten, im Kreuzberger Viktoria-Park ist mit dem Kreuzberg-Denkmal ein Werk der Königlichen Eisengießerei zu sehen und auch die Brücke zwischen den beiden Schlosstürmen auf der Pfaueninsel stammt aus diesem Betrieb.
Um wieder zurück nach Mitte zu kommen: Das letzte Haus, das die Kreuzung flankiert, ist ein in die Jahre gekommenes Gebäude mit einer Fassade, wie man sie im gegenwärtigen Berlin eigentlich kaum noch sieht: Unsaniert, mit zahlreichen ausgebesserten Stellen. Kein Schmuck, keine frische Farbe, nur rauer, grau-brauner Putz. In einem Fenster bläst der Wind eine Plastikplane auf.
Dabei ist das Haus ein Stück Berliner Geschichte: Hier lebte bis zu seiner Ausbürgerung im November 1976 der Liedermacher Wolf Biermann. Hier gingen Heiner Müller, Jürgen Böttcher, Stefan Heym und Volker Braun ein uns aus, und auch Rudi Dutschke, Heinrich Böll, Günter Wallraff, Günter Grass, Joan Baez und Allen Ginsberg kamen hier vorbei. Das Foto für die 1969 erschienene Platte „Chausseestraße 131“ entstand hinter einem dieser Fenster.
Die Kreuzung ist also vielleicht doch ein Ort zu verweilen.
Dorothy Iannone. On the Continuing Journe 14. September 2023 – 3. März 2024
Ferial Nadja Karrasch
Immer wieder Neues zu lernen, die Welt für einen Augenblick mit den Augen einer fremden Person sehen, sich auf die unterschiedlichsten Perspektiven einlassen – das sind nur einige Aspekte, die Ferial Nadja Karrasch an ihrer Tätigkeit als Kunstjournalistin so schätzt. Sie lebt in Berlin und schreibt für verschiedene digitale und analoge Formate über Kunst und Kultur. Studiert hat sie Kunstwissenschaft, Philosophie und Ausstellungspraxis an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, an der Universiteit van Amsterdam sowie an der Universität der Künste Berlin.