Montagnachmittag am Standort der Akademie der Künste am Pariser Platz. Ein Mannschaftswagen der Polizei sperrt den Fußgängerbereich ab, in der Mitte des Platzes stehen mehrere Limousinen neben kleineren Gruppen von Protestierenden, die Schilder in die Höhe halten. In direkter Nachbarschaft zum wiederaufgebauten Hotel Adlon mit seinen klassizistischen Formen und dem wuchtigen Neubau der DZ-Bank, deren Straßenabschnitt mit Pollern versperrt ist, wirkt die Akademie durch ihre transparente Glasfassade wie ein Versprechen aus einer anderen Zeit.
Das Büro von Manos Tsangaris befindet sich im dritten Stock des lichtdurchfluteten, asymmetrischen und geräumigen Innenraums des Gebäudes. Ich setze mich neben ihn und seine Referentin Kerstin Diekmann mit Blick auf den Pariser Platz an den runden Tisch und bekomme ein Glas Wasser eingeschenkt. Tsangaris beginnt zu erzählen, wie er am Tag zuvor in der Kirche am Hohenzollernplatz in Berlin aufgetreten sei und sagt, dass er gerne in Kirchen spiele, weil dort die Akustik dankbar sei.
ALW: Dazu fällt mir eine erste Frage ein: Hat sich Ihre Bekanntheit verändert, seit Sie Akademie-Präsident geworden sind? Werden Sie da anders angesprochen?
MT: Hm, ich denke schon. Anfang Mai habe ich den Mauricio Kagel Musikpreis bekommen und wurde Ende Mai zum Präsidenten gewählt, da wurde das konkret spürbar. Ich hatte noch nie so viele Glückwünsche und Nachrichten in meinen diversen Accounts wie nach der Wahl! Aber auch sonst werde ich darauf angesprochen, weil ich viel unterwegs bin, manchmal sorgenvoll im Sinne von: Arbeitest Du denn noch?
ALW: Das ist eine Frage, die ich mir auch gestellt habe. Wie kriegen Sie die repräsentative und kommunikative Präsidentenrolle mit der eher introvertierten Komponistenarbeit kombiniert?
MT: Ich kann sagen, dass ich mich immer schon engagiert und viel organisiert habe: Wir hatten eine Produzentengalerie in Köln, ich war in diversen genossenschaftlichen Initiativen, ich kuratiere und habe zwölf Jahre lang die Münchener Biennale, ein Festival für Neues Musiktheater organisiert. Ich bin diese Wechsel also gewöhnt. Das wiederum ist in meiner Arbeit selbst begründet. Ich mache oft situatives und kontextualisiertes Musiktheater – auf der Straße, in der U-Bahn, in kleinen Räumen. Bevor ich überhaupt die erste Zeile schreiben kann, muss ich mir über die genauen Bedingungen und Parameter im Klaren sein. Das schafft ein anderes Denken, als wenn alles immer klar vorgegeben, nach Schema verlaufen würde.
ALW: Aber wie halten Sie sich die Räume für das Komponieren frei?
MT: Das ist eine der Sachen, die ich schon lange sehr genieße, weil Komponieren – wenn man es im alten Stil mit Papier und monatelangem Nachdenken macht – ein sehr einsames Geschäft ist. Das ist für mich die 0 auf 100 Schaltung. In diesem Sommer war ich, statt Urlaub zu machen, am Arbeiten – es war die einzige Lücke, um meine Partitur für Wien Modern zu machen – das war ein seit Jahren, schon vor der Pandemie geplanter großer Kompositionsauftrag im Rahmen von Schönberg 150. Da konnte ich ja noch nicht ahnen, dass ich Präsident dieser tollen Institution werde! Ich hatte nur sieben Wochen und wusste, jetzt muss es klappen. Für diese Zeit habe ich mich komplett weggeschlossen. Danach „durfte“ ich wieder raus unter Menschen.
ALW: Das ist schön, wenn Sie diesen Wechsel als etwas beschreiben, was auch Energie bringt – ich empfinde die Übergänge mitunter als mühsame Zwischenphasen.
MT: Diese Wechsel von Innen- und Außenleben kennen wir doch alle, vielleicht sind sie in meinem Fall berufsbedingt oder leidenschaftsbedingt noch etwas extremer. Ich mache mir dabei Zeitfenster und beschließe die nächsten zwei, drei Stunden, alle Maschinen auszumachen und sitzen zu bleiben. Das habe ich auch vielen Studierenden empfohlen. Das klappt erstaunlich gut. Wir können viel regeln durch solche Rahmenvereinbarungen mit uns selber.
ALW: Mich hat bei meiner Frage auch interessiert, inwieweit der repräsentative Teil ihrer Aufgabe als Akademie-Präsident zugenommen hat.
MT: Ja, das hat zugenommen, das muss man mögen.
ALW: Sonst hätten Sie sich nicht beworben.
MT: Ja, ich wusste, was mich erwartet. Ich war vorher bereits neun Jahre lang, von 2012 bis 2021, Direktor der Sektion Musik, und kannte das Anforderungsprofil eines Präsidenten oder einer Präsidentin. Wenn ich nicht ganz schlecht drauf bin, macht mir dieser Teil auch Spaß. Man kann auch sehr formelle Situationen ein bisschen auflockern.
ALW: Das ist schön gesagt, dass es nicht nur Druck ist, sondern dass es da auch einen Gestaltungsspielraum gibt.
MT: Die Form gibt sehr viel Distanz vor, wenn man das will, aber das kann man auch gut unterlaufen. Ich glaube nicht, dass ich der unnahbarste Mensch bin [ironischer Unterton] und das verändert sich auch nicht in irgendwelchen Funktionen.
ALW: Können Sie Ihren Alltag ein wenig beschreiben, damit anschaulicher wird, womit Sie beschäftigt sind? Was für verschiedene Aufgabenbereiche umfasst dieses Amt?
MT: Ja, wie sieht der Alltag aus – ich bin ein Morgenarbeiter, frühstücke nicht, sondern trinke Tee, das geht dann so drei, vier Stunden. Danach bin ich frei, um mich um andere Dinge zu kümmern.
Was die Aufgaben betrifft, wechselt es relativ viel. Morgen fahre ich etwa nach Dresden, um dort zu unterrichten und am Samstag nach Wien für Vorproben. Parallel arbeite ich an verschiedenen Publikationen und bereite neue Stücke vor. Das Terminrelief ist wichtig. Ich würde sagen, dass wir jeden Tag im Kontakt sind mit den engsten Mitarbeiter*innen [guckt seine Referentin Kerstin Diekmann an, die zustimmend nickt]. In der Anfangsphase gab es eine Reihe von Antrittsbesuchen und Kennenlerngesprächen intern und extern mit verschiedenen Instanzen und Institutionen wie der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Die repräsentativen Termine werfen Schatten voraus, da werden mir kleine Reden geschrieben, die ich dann gerne variiere [schmunzelt]. Oder ich werde schnell gebrieft, es ist ja schon ein kulturpolitisches Amt, ich muss also oft in sehr unterschiedlichen Arbeitsgebieten und Baustellen relativ kurzfristig einigermaßen Bescheid wissen, worüber gerade geredet wird. Dann gibt es noch das Tagesgeschäft, also Dinge, die fast jeden Tag anfallen. Heute ist der Redaktionsschluss für das nächste Leporello, unser Programmheft.
Was mir ein Anliegen ist, ist ein hoher Grad von persönlicher Zugewandtheit und Aufmerksamkeit. Wenn mir ein Programmpunkt oder ein Termin wichtig ist, lade ich persönlich dazu ein, auch wenn das Zeit kostet.
ALW: Das war mir gar nicht so klar: Dass Sie hier in eine Institution kommen, die sehr gut organisiert ist, die Sie unterstützt und zuarbeitet und dazu führt, dass Sie nicht auf einen Schlag alleine verantwortlich sind.
MT: Ja, ohne den institutionellen Apparat würde das sicherlich niemand schaffen. Das sind mehrere Mitarbeiterinnen hier im Präsidialbüro, ein sehr fähiger Verwaltungsdirektor und nicht zuletzt mein Vizepräsident Anh-Linh Ngo. Wir sind tatsächlich zu zweit. Das ist etwas, was ich schon lange betreibe – angefangen mit der Biennale für Neues Musiktheater in München, die ich mit Daniel Ott geleitet habe. Es ist gar nicht weniger Arbeit, weil man sich viel abstimmen muss und es durchaus unterschiedliche Meinungen gibt, aber ich glaube, im Resultat ist es besser. Es geht ja nicht um mich, es geht um die Institution und 433 Kunstschaffende, die hier Mitglied sind, plus um die 210 Mitarbeitende. Ich möchte mich nicht als allzu altruistisch gebärden, aber dieses tolle Präsidentenamt hat eine Dienstleistungsfunktion, man muss die Haltung haben, sein Ego im richtigen Moment an der Pforte zu lassen und sich dafür einsetzen, was für die Akademie – und die Gesellschaft – das Beste ist.
Kerstin Diekmann: Um das noch mal zu erklären: Der Präsident leitet die Akademie der Künste, zweimal im Jahr kommen die Mitglieder zur Versammlung zusammen, sechsmal im Jahr kommt der Senat – das wichtigste Entscheidungsgremium – zusammen und in regelmäßigen Abständen die Geschäftsführung, die dem Präsidenten untersteht.
MT: Danke! Wir haben zusätzlich informelle Treffen mit den sogenannten Sekretären eingeführt, alle weiblichen Geschlechts, die ungern Sekretärinnen genannt werden wollen. Alle zwei Monate findet eine informelle Vollversammlung mit den Mitarbeitenden statt – das ist auch neu – wo bewusst keine Tagesordnung gesetzt wird. Ich glaube schon beim zweiten Mal hat sich ein Unterschied bemerkbar gemacht.
ALW: Ihre Aufgabe ist ein Ehrenamt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Zusammenarbeit mit einer Geschäftsstelle, in der die Mitarbeitenden angestellt sind, mitunter zu Konflikten führen kann.
MT: Ich kann ja nur von mir und Anh-Linh Ngo sprechen: Wir wussten, worauf wir uns einlassen, dass es eine Aufwandsentschädigung gibt und wir umsorgt werden von allen möglichen Menschen – im Sinne der Sache natürlich [schmunzelt] – da habe ich persönlich keinen inneren Zwist.
ALW: Das setzt voraus, dass man sich das leisten kann.
MT: Die Historie geht davon aus, dass wer in dieses Amt gewählt wird, sowieso alles schon geschafft hat und als Kunstfürst oder -fürstin abgesichert ist. Das würde ich von mir nicht behaupten. Max Liebermann, der ja da drüben gewohnt hat [Manos Tsangaris zeigt nach draußen auf das Max Liebermann Haus], und seit 1920 Präsident der Akademie war, war wahrscheinlich wirtschaftlich besser gestellt als ich – zumindest bis 1932.
ALW: In dieser Position ist das größere Problem dann eher, wie man die vielfältigen Aufgaben parallel bewältigt und ihnen gerecht wird. Ich würde gerne noch einmal auf ihre Zusammenarbeit mit Anh-Linh Ngo zu sprechen kommen. Als ich mir die Themen der ersten Akademie-Gespräche angeschaut habe, die sie zu zweit verantworten, ist mir aufgefallen, dass es beim ersten mit der Galerie Lafayette um eine konkrete stadtpolitische Frage ging, die ich Ngo als Architekturexperte zuschreiben würde, während mir das zweite Über das Abseitige aus ihrer Feder zu kommen schien. Was sind die Schwerpunkte, die Sie sich für Ihre Amtszeit vorgenommen haben?
MT: Ein paar Monate vor der Wahl, als mir klar wurde, dass ich auf Bitte von drei Mitgliedern der Akademie kandidieren würde, habe ich mit Anh-Linh Ngo gesprochen. Ich hatte die Ausstellung The Great Repair in der Akademie am Hanseatenweg gesehen, die er mitkuratiert hat, und mich gefragt: Wer ist das? Er war anfangs etwas skeptisch, weil wir dachten, es müsse eine Frau mit im Präsidium sein, das war nach einer Minute Thema. Aber leider habe ich von den Frauen, die ich gefragt habe, nur Absagen bekommen.
Schon im Vorgespräch haben wir uns über Grundzüge und Vorstellungen darüber ausgetauscht, was wir machen würden, falls wir gewählt werden. Er ist sehr gut vernetzt in der Stadt und im politischen Berlin. Da kann ich viel von ihm lernen. Das greift wirklich ineinander, mit gegenseitigem und beidseitigem Respekt.
Wir gehen mit mindestens zwei Beinen – das eine ist die Intimität, die Zurückgezogenheit, das Persönliche und der persönliche Stoffwechsel, den es braucht, um zu versuchen, Kunst zu machen. Und auf der anderen Seite die politische Verantwortung, die wir wahrnehmen wollen und die so eine Akademie auch wahrzunehmen hat. In einer Zeit, wo sich die Räume im Diskurs immer weiter verengen, wollen wir Räume nach Außen und nach Innen öffnen und unterschiedliche und auch gegensätzliche Meinungen zulassen. Das haben wir bis jetzt durch die Akademie-Gespräche nach außen, aber auch nach innen durch einige Änderungen umgesetzt. Zum Beispiel gab es hier das Problem, dass für die Mitglieder zu wenig flexible Räume zur Verfügung standen, um eher kurzfristig eine kleine Lesung oder einen Workshop zu machen. Wir haben jetzt einen niedrigschwelligen Modus geschaffen, der es ermöglicht, dass Mitglieder ab Herbst drei unterschiedlich große und disponierte Räume an zwei bis drei Tagen in der Woche nutzen können – ohne technische Unterstützung.
ALW: Ich kenne die Aktivitäten der Akademie vor allem über das Journal der Künste, das dreimal im Jahr erscheint, und hatte den Eindruck, dass Ihre Vorgängerinnen Jeanine Meerapfel und Kathrin Röggla ihre Aufgabe sehr politisch verstanden haben. Ich habe ihre Arbeit so wahrgenommen, dass sie sich als Akademie positionieren wollten. Ich vermute bei Ihnen, dass sie sowohl das Politische als auch das Künstlerische in den Blick nehmen wollen.
MT: Ich glaube, dass haben meine Vorgängerinnen auch gemacht. Wir setzen einige Linien ihrer Arbeit fort, beispielsweise die Europäische Allianz der Akademien, die sehr wichtig ist, auch als Solidaritätsinstrument für Kunstschaffende und deren Institutionen in Ungarn, in der Slowakei, in Polen, in Italien und weltweit. Ich unterschreibe sehr häufig Pamphlete oder Appelle mit kulturpolitischen Forderungen – aber das ist nicht nur eine Formalität, das tue ich von Herzen.
ALW: Dieses Aktuell-Aktivistische kommt ja immer noch auf die tägliche Arbeit oben drauf. Wie gerät man da nicht außer Atem?
MT: Ich sage mal, es hilft, jeden Morgen ein bisschen zu meditieren, Gebete zu sprechen und zu wissen, warum wir das tun. Wer sollte sonst die Perspektiven der Kunstschaffenden und dessen, was damit zusammenhängt, vertreten? Es gibt die Berufsverbände, die sind auch sehr wichtig, aber so im transdisziplinären Bereich gibt es nichts Vergleichbares.
ALW: Transdisziplinarität ist ein gutes Stichwort – ich habe in Ihrer Biografie gelesen, dass sie nicht nur Komponist, sondern auch Kurator und Künstler sind. Nun gibt es in der Akademie diese strikten sechs Sektionen. Was ist mit Künstler*innen und Kunstvermittler*innen, die transdisziplinär arbeiten? Hat man da eine Chance, Mitglied der Akademie zu werden?
MT: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, dass sich da viel verändert hat in den letzten 20 Jahren, sonst säße ich nicht hier. Als ich in die Sektion Musik gewählt wurde, wussten sie schon, was sie machen. In den anderen Sektionen ist es ähnlich, da gibt es überall Randgänger*innen, weil die Sektionalität ja auch eine Fiktion ist, die mehr oder weniger im 19. Jahrhundert geschaffen wurde. Es gibt kaum eine Künstlerin oder einen Künstler, der oder die nicht noch auf anderen Baustellen und Jagdgebieten unterwegs ist. Wir denken gerade darüber nach, wie wir das berücksichtigen können. Wir hatten gerade vor ein paar Tagen Senatsklausur, wo wir ausführlich darüber diskutiert haben, wie man gezielt, ich sag mal, eine siebte Kolonne entwickeln kann. Es kann sein, dass wir projektbezogen noch eine Abteilung jenseits des Satzungsgefüges kreieren, weil alle das Bedürfnis haben und die Notwendigkeit sehen, diese besondere Qualität, so unterschiedliche Menschen und Arbeitsansätze zusammenzubringen, noch fruchtbarer zu machen. Diese Unterteilung in Sektionen ist dabei ein generelles strukturelles Problem. Die Antragsstruktur bei vielen Stiftungen, auf deren Förderungen wir leider angewiesen sind, ist ebenfalls oft in Sektionen unterteilt.
ALW: Das ist ein guter Moment, um noch mal auf die Struktur der Akademie zu sprechen zu kommen. Die vom Bund finanzierte Institution ist ja ein sehr exklusiver Ort, denn man kann sich nicht bewerben, sondern wird gewählt aufgrund seiner Lebensleistung. Die Anzahl der Mitglieder ist auf 500 beschränkt, der Altersdurchschnitt ist hoch. Wie hält man den Laden jung und divers?
MT: Auch da tut sich viel. Von der Sektion Musik kann ich aus der Zeit berichten, als ich dort Direktor war. Damals haben wir uns selber bestimmte Wahlstatuten gegeben, die allerdings nicht in der Satzung festgeschrieben sind, weil das nicht erlaubt ist. Wir haben zum Beispiel gesagt, es ist erst dann erlaubt, ein männliches Mitglied zu wählen, wenn vorher ein weibliches gewählt wurde. Das hatte zur Folge, dass erstmal nur weibliche gewählt wurden. Die Sektion hat sich unter anderem auch dadurch extrem verjüngt. Per definitionem ist es so, dass du in besonderem Maß zur Kunst der Gegenwart beigetragen haben musst, so dass wir niemanden wählen können, der 22 ist.
ALW: Die Akademie der Künste ist vieles zugleich: Interessenvertretung, Beraterin der Bundesrepublik in Angelegenheit der Kunst und Kultur, Ausstellungs- und Veranstaltungsort mit zwei Standorten, Archiv, Künstlergemeinschaft. Wo sehen Sie den Schwerpunkt?
MT: Ich habe für mich eine Formel, die es vielleicht ganz gut wiedergibt: Die Akademie hat drei Grundfunktionen: Die Akademie ist Produzentin, sie ermöglicht Stoffwechsel und realisiert Arbeiten und Projekte. Dann ist die Akademie Agentin für die Mitglieder, für die Kunst und das künstlerische Denken, aber auch für menschliche Werte. Das hängt ja zusammen. Eine Akademie, die nicht auch humanistisch denkt und agiert, taugt nichts. Das haben wir zwischen 1933 und 1945 gesehen. Als Drittes ist die Akademie eine Bewahrerin – von bestimmten Werten und Vorstellungen und Prinzipien. Keine der drei Aufgaben darf zu kurz kommen, es braucht eine gute Balance.
ALW: Die Funktion der Bewahrerin ist sie vor allem durch ihre Archive …
MT: Ja, die Archive sind ein tolles Geschenk und unverzichtbar. Wir haben ein sehr lebendiges Archivleben inklusive der sorgfältigen wissenschaftlichen Arbeit, die hier geleistet wird. Nächstes Jahr wird das Archiv 75 Jahre alt, da gibt es eine große Ausstellung und wir sind sehr bestrebt, neue, kleine Aufträge auch für Künstler*innen zu vergeben oder an Leute aus der Jungen Akademie, die sich mit bestimmten Inhalten und Gegenständen aus dem Archiv auseinandersetzen.
ALW: Ich finde das schön, wie Sie über das Archiv gesprochen haben, denn dadurch, dass die immer größer und schwerer werden, könnte man sie auch als einen Klotz am Bein empfinden, der enorme räumliche, finanzielle und personelle Ressourcen bindet.
MT: Ja, ich würde lügen, wenn ich sagen würde, das Archiv wäre anspruchslos. Es ist ein sehr komplexes Gebilde, das im Moment auf sechs verschiedene Standorte verteilt ist. Dabei muss jeder Standort gewissen Standards genügen, weil ein Archiv in einer stabilen klimatischen Verfassung gehalten werden muss und im Zweifelsfall nicht mit Wasser gelöscht werden darf etc. Ökologisch ist das in Zukunft in dieser Form nicht mehr vertretbar. Da sind wir dran.
ALW: Sie haben vorhin kurz auf die Ost-West-Geschichte der Akademie verwiesen, die von 1950 (Ost) bzw. 1956 (West) bis 1993 in eine Ost- und eine West-Akademie mit zwei Standorten aufgeteilt war. Ich habe gehört, dass die Vereinigung – wie auch im ganzen Land – nicht unkompliziert war. Ist da noch Arbeit zu tun?
MT: Eine der Ideen, die für mich und Anh-Linh Ngo von Anfang an präsent waren, war es, eine Ost-West-Runde einzuberufen. Die haben wir zunächst mit nur zehn Mitgliedern, die sämtlich DDR-sozialisiert sind, initiiert, um ihnen einen Freiraum zu geben. Es ist wichtig, dass nicht wieder jemand, der im Rheinland sozialisiert ist, über die Ost-Kolleg*innen spricht und sagt, jetzt müsstet ihr aber mal dies und jenes machen. Im Gegenteil haben wir uns ein paar Stunden hingesetzt und gemeinsam nachgedacht. Einer der Kollegen, der Komponist Helmut Oehring hat gesagt, es ist wie mit Familiengeheimnissen, die unter den Teppich gekehrt werden und doch wie Elefanten im Raum stehen. Alle wissen davon, und es bricht auch mal plötzlich auf, aber es wird nicht wirklich angeschaut. Es kann ein schmerzvoller Prozess sein, sich die Dinge anzusehen und selbstkritisch zu sein. Es wird wahrgenommen, dass es nicht ein weiterer zynischer Seitenhieb ist, sondern dass wir das sehr ernst nehmen und wichtig finden. Wir hoffen, dass wir auf die Art und Weise bestimmte Verwerfungen und Verbitterungen buchstäblich aufarbeiten können. Eine Fusion endet immer damit, dass einer vom anderen geschluckt wird. Obwohl sich Heiner Müller, der damals Präsident der Akademie Ost war, bei der Wiedervereinigung der Akademien sehr klug verhalten und gewehrt hat, haben viele Ost-Kolleg*innen zurecht das Gefühl, dass eine einseitige Übernahme stattgefunden hat und zwar nicht nur auf der Mitgliederebene, sondern auch auf der Seite der Angestellten in der Akademie. Es gab damals eine ziemliche West-Arroganz, die kräftig ausgebildet war, nach dem Motto: So, jetzt dürft ihr mal mitmachen, jetzt seht ihr, wie das geht. Ich weiß nicht, wie diese Wiedervereinigung im Einzelnen verlaufen ist, aber sie war für die Westakademie ein gutes Geschäft, wie so manches andere auch. Das ist ja in ganz Deutschland passiert.
ALW: Ich war dieses Jahr beim Festival Osten in Bitterfeld-Wolfen und habe dort eine Mitarbeiterin ihres Hauses erlebt, Marion Neumann, die bei einer Diskussionsrunde von konkreten Projekten auf dem Land berichtete, bei denen einzelne Akademie-Mitglieder Workshops in Schulen oder anderen Institutionen anbieten. Das hat mich überrascht, dass auch diese ehrenwerte, aber kleinteilige und wenig glanzvolle Arbeit von Mitgliedern der Akademie geleistet wird!
MT: Vielen Dank, dass Sie das ansprechen. Da geht es um die sogenannten Kunstwelten, die Klaus Staeck initiiert hat und die sich insbesondere an Kinder und Jugendliche richten. Marion Neumann ist die Hauptprotagonistin. Es gibt verschiedene Landkreise, wo sie seit über zehn Jahren regelmäßig mit Mitgliedern vor Ort in sehr heiklen Vierteln aktiv ist und versucht, mit viel Engagement Aufklärung zu leisten. Die Junge Akademie fußt ebenfalls auf einer Gepflogenheit, die in der Ost-Akademie herrschte. Die hat sich immer auch als pädagogisches Institut verstanden. Daraus ist die Junge Akademie entstanden, das sind jährlich 17 Stipendiat*innen, die die Akademie beleben. Da sind Leute aus der ganzen Welt eingeladen, von denen kann ich noch viel lernen.