Annett Gröschner 

Annett Gröschner wurde, wie alle Berliner Stadtchronist*innen, nicht in Berlin geboren, sondern in Magdeburg, wo sie auf einer Elbinsel aufwuchs und das Wasser ein- und ausatmete. Sie mag die Wasserstraßen von Berlin, nimmt aber die Berliner Flüsse nicht ganz ernst. Am liebsten würde sie auf einem Hausboot ihre Romane, Erzählungen, kulturjournalistischen Feature und Theaterstücke schreiben, kann sich aber nicht mal ein Ruderboot leisten. Nebenbei arbeitet sie als Dozentin an der UdK, ist gelegentlich Performerin bei She She Pop, Redakteurin der Plattform 10 nach 8 bei Zeit Online, Ausstellungsmacherin  und momentan Kolumnistin der Berliner Volksbühne. Zuletzt erschien im Frühjahr bei der Edition Nautilus Berliner Bürger*stuben. Palimpseste und Geschichten.

Die Stadt im Kopf III: Berliner Wasserstraßen

15.09.2020
Aus der Reihe Stadt im Kopf Kultur Mitte Magazin

Kaum jemand kennt die Stadt Berlin und ihre Geschichte so gut wie die Autorin und Literaturhistorikerin Annett Gröschner.  Sie hat Berlin fast zur Gänze abgelaufen und die verschiedenen Aspekte der Stadt in einer Vielzahl von Publikationen beschrieben. Die genau beobachteten Geschichten in "Parzelle Paradies" gehören genauso dazu wie ihr jüngstes Buch "Berliner Bürger*stube", das buchstäblich im Wettlauf mit den rasanten Veränderung der Stadt Berlin entstanden ist, aber auch ihre immens interessante Aufarbeitung der Berliner Frauenbewegung in Ost und West, die vor zwei Jahren unter dem Titel "Berolinas zornige Töchter" erschienen ist. Für unsere Reihe "Stadt im Kopf" widmet sie sich den Berliner Wasserstraßen.

Menschen wie ich, die an großen Flüssen, gar Strömen aufgewachsen sind, können in Berlin keinen Fluss finden. Obwohl es mindestens drei gibt, die Havel, die Spree und die „wendische Spree“ – die Dahme. In den fast vier Jahrzehnten, die ich in Berlin lebe, habe ich noch nie ein Spreehochwasser erlebt, und wenn ich auf der Halbinsel Stralau sitze, früher, vor der Verhunzung mit gesichtslosen Reihenhäusern und Eigentumswohnungen einer meiner Lieblingsplätze, und aufs Wasser starre, fließt da nichts. Die Spree steht wie ein See. Schon immer hat mich gewundert, dass die Bewohner*innen von Stralau ihre Toten direkt am Fluss bestatten, mit den Füßen zum Wasser – auf der Elbinsel, auf der ich aufgewachsen bin, gab es wegen der Hochwassergefahr nie einen Friedhof, die Gefahr, dass die Toten abhandenkamen, war zu groß. In Zeiten der Trockenheit, wie vor zwei Jahren, fließt die Spree zeitweise sogar rückwärts, zur Quelle zurück. Wenn es so weitergeht mit den trockenen Sommern, wird sie bald gar nicht mehr schiffbar sein, dann müssen die wasserverbrauchenden Schleusen geschlossen werden und Landwirtschaft und Industrie auf eine Wasserentnahme verzichten. Auch die Panke, die von Bernau kommend durch Buch, Pankow, Wedding und Mitte fließt und teilungsbedingt an zwei Stellen der Innenstadt in die Spree bzw. den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal mündet, trocknet mehr und mehr aus.

Ich liebe das Wort Wasserstraßen. Und vor allem auch seine beliebig erweiterbaren Komposita. So etwas wie Wasserstraßenbauamtsingenieurszulagenübernahme. Es gibt auch eine Wasserstraßenverkehrsordnung, die offiziell Binnenschifffahrtsstraßenordnung heißt. Es gibt Bundeswasserstraßen und Landeswasserstraßen. Der Müggelsee zum Beispiel, durch den die Spree fließt, ist eine Bundeswasserstraße, so muss das Land Berlin nicht für den Unterhalt aufkommen. Überhaupt ist die ganze Spree-Oder-Wasserstraße von der Spreemündung bis zur Oder in Eisenhüttenstadt eine Bundeswasserstraße, unterbrochen von sieben Schleusen, die bekannteste ist die Mühlendammschleuse am Ursprung Berlins.

Nirgendwo in Mitteleuropa gibt es ein dichteres System von Wasserstraßen als in und um Berlin herum. All die Flüsse und Kanäle, die, wenn man nur immer weiterfährt, irgendwann zum Meer führen. Aber die Wasserstraßen werden von der Binnenschifffahrt so gut wie nicht mehr genutzt, was bedauerlich und Segen zugleich ist. Bedauerlich, weil die Autostraßen und -bahnen verstopfen und Diesel die Luft verpestet, Segen, weil der Rückgang der Schifffahrt und der Niedergang der Industrie zur Verbesserung der Wasserqualität geführt hat. Es gibt wieder genießbare Fische und die Flüsse sind Orte der Erholung. An manchen Stellen kann man schon wieder schwimmen. In der Mitte Berlins allerdings immer noch nicht, obwohl es seit einigen Jahren realisierbare Pläne gibt, die bei Unwettern überlaufende Kanalisation vor dem Zufluss in die Spree abzufangen und zu reinigen, um im Fluss wieder schwimmen zu können. Im Kupfergraben gegenüber dem Schloss zum Beispiel. An der Friedrichsgracht gibt es seit einiger Zeit ein Schiff mit vielen Versuchsanordnungen zur Wasserqualität. Aber bisher überwiegen die Bedenken und es bleibt beim Spreeschwimmen einmal im Jahr. Das Wasser wird nach wie vor nur von mythischen Wesen wie Undine bevölkert, die immer mal wieder an Land kommt, zuletzt, um in einem Film von Christian Petzold mitzuspielen. Eine literarische Figur wie die Spreelore, vor 40 Jahren noch ein bekanntes Berliner Original wie die Eisrieke, hat sich inzwischen aus dem Gedächtnis der Stadt verflüchtigt. Spreelore schüttete an der Friedrichsgracht jeden Morgen die Reste ihrer Notdurft in den Spreekanal und heiratete einen Binnenschiffer.

Auf einem Hausboot arabisch Kaffee kochen. Foto: Annett Gröschner.

Friedrichsgracht klingt nach Amsterdam, und das kam nicht von ungefähr. Im 17. Jahrhundert hatten die holländischen Baumeister die Kunst der Wasserregulierung mitgebracht, der Berlin unter anderem den Friedrichswerder verdankt, bis Mitte des 17. Jahrhunderts ein aus mehreren Sandinseln bestehendes sumpfiges und von Tümpeln und Teichen durchzogenes Gelände voller Mücken. 1658 wurde mit dem Bau der Festungsanlage nach holländischem Vorbild begonnen. Mit der Einbeziehung in die Festung wurden die Inseln melioriert und das überschüssige Wasser in die Umfassungsgräben geleitet.

Der Schiffsverkehr ging bis ins 20. Jahrhundert, weil der Mühlendamm ein Hindernis war, über den Spreekanal. Das Wasser war schmutzig und es war besser, nicht hineinzufallen, auch wenn man, was selten war, schwimmen konnte. Friedrich Rückert schrieb 1845 über die Spree: „Sie kommt beim Oberbaum herein, / rein wie ein Schwan, um wie ein Schwein / beim Unterbaum herauszukommen.“ Ende des 19. Jahrhunderts war die Gegend zwischen Spree und Kanal dicht besiedelt, bis diejenigen, die es sich leisten konnten, in die Gründerzeitviertel umzogen, die mehr Komfort und bessere hygienische Bedingungen versprachen.

Blick auf den Westhafen ver Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft, kurz Behala. Foto: Annett Gröschner

Vor 20 Jahren schrieb ich: Berlin ist eine Hafenstadt, auch wenn es hier niemals nach Meer riecht. Damals gab es den Osthafen und den Westhafen noch. Der Westhafen ist noch da, aber nahezu verwaist, die deftige Hafenschenke verschwunden, der Osthafen ist dem Verwertungsdruck auf Innenstadtflächen gänzlich zum Opfer gefallen. Containerschifffahrt, die einzige lukrative Transportmöglichkeit auf den Flüssen, braucht tiefere und breitere Flussbetten. Auf den Wasserstraßen Berlins sieht man fast nur noch Ausflugsdampfer, Partyflöße und Sportboote.

Neben den stillgelegten gibt es noch die zugeschütteten Häfen. Stillgelegte und zugeschüttete Häfen haben etwas Trauriges. Sie sagen: von hier kommst du auf dem Wasserweg nicht mehr weg, du musst dir eine andere Fluchtmöglichkeit suchen. Übriggeblieben sind Straßennamen wie Hafenplatz, Am Nordhafen und Am Hafen, womit der Tegeler gemeint ist, heute ein Wohnviertel. Am Hafenplatz in Kreuzberg sucht man vergeblich nach einem Hafenbecken.

Blick auf den Westhafen ver Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft, kurz Behala.

Schon die Gründung von Berlin und Cölln wäre ohne die Spree nicht möglich gewesen, auch Köpenick nicht. Und Spandau ohne die Havel wäre wohl auch nicht so bedeutend geworden. Mit der Inbetriebnahme des Neuen Grabens 1669, des späteren Friedrich-Wilhelm-Kanals, wurde Berlin mit Elbe und Oder verbunden und der Handel mit Schlesien nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder in Gang gebracht. Mit dem Kanal entstanden zwei Packhöfe auf dem Friedrichswerder. Sie waren die ersten nachweisbaren Hafenanlagen in Berlin. Unter Friedrich II. wurden die Wasserstraßen ausgebaut und aufgrund des Handels begann sich Berlin im 18. Jahrhundert von einer Residenzstadt zu einer Industriestadt zu entwickeln. Erst mit der aufkommenden Eisenbahn erwuchs der Schifffahrt ein ernsthafter Konkurrent, denn die Straßen waren damals noch nicht ausgebaut –die Wagen versanken im Schlamm und Wegelagerer machten sie unsicher. Neben der Entwicklung der Dampfschifffahrt führte der Bau neuer Schleusen und der Neu- und Ausbau der Kanäle – vor allem des Landwehr- und des Luisenstädtischen Kanals – dazu, dass die Binnenschifffahrt weiter konkurrenzfähig blieb. So verringerten sich die oftmals tagelangen Wartezeiten an den Schleusen. Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden vier Häfen: der Schöneberger Hafen im Landwehrkanal, Wassertor- und Engelbecken am Luisenstädtischen Kanal und der Humboldt- und der Nordhafen im Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal. Mit dem Bau des Gründerzeitgürtels um die Innenstadt begann die große Zeit der Lastkähne. Es ist ein geflügeltes Wort, dass Berlin aus dem Kahn gebaut ist. Ein Teil der Ziegel für die Häuser der Gründerzeitviertel kam aus den Ziegelbrennereien um Zehdenick und wurde über die Havel nach Berlin befördert. Der Umschlag der Baumaterialien erfolgte entlang der Wasserstraßen in unmittelbarer Nähe der Neubaugebiete, was teilweise zu katastrophalen Zuständen führte, denn die Kähne waren sich gegenseitig im Wege und die unbefestigte Uferböschung hielt den Belastungen nicht stand. Mit dem Bau des Urbanhafens und einiger Ladestraßen an der Spree Ende des 19. Jahrhunderts entspannte sich die Situation etwas, aber erst die Inbetriebnahme des Oder-Spree-Kanals und der Ausbau des Großschifffahrtsweges Berlin-Stettin ermöglichte es größeren Binnenschiffen zwischen Oder und Elbe durchgehend zu verkehren. Mit dem Bau der beiden großen Berliner Häfen, dem Osthafen (1907-1913) und dem Westhafen (1914- 1923) gab es auch genügend Lagerplätze. Sieht man alte Fotos aus dieser Zeit, so liegt Schiff an Schiff in den Hafenbecken des Westhafens oder an den Kais entlang der Spree am Osthafen. Bis 1990 war der Westhafen die Lebensader von Westberlin. Hier lagerte ein Teil der Senatsreserve. In Ostberlin kamen vor allem die Kohlen für die Braunkohleöfen über den Wasserweg.

Kreuzberger Wasserstraße – Foto: Annett Gröschner

Der Luisenstädtische Kanal, der immer stank, weil er als Kloake benutzt wurde und nach dem Ende des Baugeschehens in Kreuzberg seine Funktion verlor, wurde 1920 zugeschüttet. (Am Bethaniendamm wurde sein Gelände von 1961 bis 1989 zum Todesstreifen der Berliner Mauer.) Und auch der Landwehrkanal stand zwischenzeitlich auf der Streichliste. In den 1920er Jahren gab es Pläne, an Stelle des Kanals eine Autobahn zu bauen, ähnlich der Trasse der Stadtbahn, die Jahrzehnte zuvor über dem zugeschütteten Festungsgraben errichtet wurde. Heute sind Spree und Landwehrkanal Eldorado für Ausflugsboote, nicht mehr für Lastkähne. Einmal im Jahr muss ich mit dem Dampfer über die Berliner Wasserstraßen, einmal rundherum, mindestens bis zu dem Punkt, wo der Landwehrkanal in Charlottenburg wieder auf die Spree trifft. Im letzten Sommer machte ich die große Rundfahrt bis kurz vor Spandau. Es war ein Ausflug mit Lyriklesung, Inger Christensens Alfabet. Der Kellner, dem die Lyrik abging, rempelte sich während der Lesung auf dem Oberdeck des Ausflugsdampfers durch die Reihen der Zuhörenden und berlinerte in den Inger Christensenschen Wortteppich: „Lassen Se mich ma durch. Wer kriegt hier det Bier und wer det Weinchen?“ Noch dringender aber ist die Fahrt mit der BVG-Linie F11 über die Spree zwischen Baumschulenstraße und Wilhelmstrand auf der Schöneweider Seite. Mit dem Bau der nahegelegenen Brücke sollte die Fähre, eine der ältesten der Stadt, sie besteht seit 1896, 2017 verschwinden. Es gab Proteste und Aufrufe, die Fähre verstärkt zu nutzen. Mit einer Abokarte der Berliner Verkehrsbetriebe kann man den ganzen Tag über die Spree hin und her schippern und erhöht damit das Fahrgastaufkommen. Jede Fahrt zählt. Das hatte Erfolg. Die F11 verkehrt immer noch. 

Der Text verwendet Material aus: Annett Gröschner: Parzelle Paradies. Berliner Geschichten, Hamburg, Edition Nautilus, 2008.

Annett Gröschner wurde, wie alle Berliner Stadtchronist*innen, nicht in Berlin geboren, sondern in Magdeburg, wo sie auf einer Elbinsel aufwuchs und das Wasser ein- und ausatmete. Sie mag die Wasserstraßen von Berlin, nimmt aber die Berliner Flüsse nicht ganz ernst. Am liebsten würde sie auf einem Hausboot ihre Romane, Erzählungen, kulturjournalistischen Feature und Theaterstücke schreiben, kann sich aber nicht mal ein Ruderboot leisten. Nebenbei arbeitet sie als Dozentin an der UdK, ist gelegentlich Performerin bei She She Pop, Redakteurin der Plattform 10 nach 8 bei Zeit Online, Ausstellungsmacherin  und momentan Kolumnistin der Berliner Volksbühne. Zuletzt erschien im Frühjahr bei der Edition Nautilus Berliner Bürger*stuben. Palimpseste und Geschichten.

„Die Stadt im Kopf“ ist der Titel, den Monika Rinck einer Serie von vier Beiträgen gegeben hat, die im Laufe des langen Jahres 2020 erscheinen werden, sozusagen ein imaginäres Stadtquartett. Wie verändert sich die Vorstellung, die wir uns von unserer Stadt machen, wenn wir sie wochenlang nur durch die Wohnungsfenster sehen? Welche Entdeckungen lassen sich machen, wenn ich in meinem verkleinerten Bewegungsradius immer wieder die gleichen Spaziergänge unternehme? Vielleicht eilen meine Vorstellungen einer Stadt der Zukunft voraus. Oder ich sehe Nachbilder der Stadt, wie sie einmal war.

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