Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

„Das ist eine Herzensangelegenheit“

13.11.2018
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Save your Soul Plakat im Stadtraum, Foto: Anna-Lena Wenzel

Interview mit Joy Kristin Kalu über das Save Your Soul Festival in den Sophiensälen

Zum Auftakt des Theaterfestivals Save Your Soul spricht der Performer Jaamil Olawale Kosoko mit Joy Kristin Kalu, Leiterin des Festivals, über sein Stück Séancers, seine künstlerische Praxis und das Thema Loslassen. Im Anschluss habe ich die Gelegenheit zu einem Interview mit Kalu.

Wie ist die Idee für das Festival entstanden?

Ich habe in den letzten Jahren in der Uni gearbeitet und hatte dort ein Forschungsprojekt, das sich mit Theater und Therapie auseinandergesetzt hat. Ich habe vier Jahre lang geforscht und mir ganz viele Produktionen angeschaut, sowohl im Bereich der echten Therapie, der Theatertherapie, die mit allen möglichen experimentellen Theaterverfahren arbeitet, aber auch der Freien Szene und dem experimentellen Theater, das das Therapeutische miteinbezieht. Im Zuge meiner Forschung habe ich dafür eine richtige Begeisterung entwickelt. Ich habe international so viele Arbeiten gesehen, die ich spannend fand, dass der Wunsch aufkam, sie nach Berlin zu holen. So ist die Idee zum Festival entstanden. Das ist für mich wirklich eine Herzensangelegenheit.

Wie bist du zu den Stücken gekommen?

Es sind viele Sachen, die ich schon gesehen habe wie zum Beispiel die Arbeiten von Ann Liv Young und Ontroerend Goed. Auf andere Stücke bin ich im Austausch mit den Kolleg*innen hier im Haus gekommen, die schon länger in der Praxis sind – es sind Positionen, die zu ähnlichen Themen arbeiten, aber die ich noch nicht kannte. Es ist eine Mischung aus internationalen Stücken, die zum Teil erstmals in Berlin zu sehen sind, und Neuproduktionen wie das ANGSTPIECE von Anta Helena Recke und Julia*n Meding. Eine weitere Neuproduktion ist von Interrobang, die sich mit dem gegenwärtigen Optimierungsdruck auseinandersetzen.

Was für Formate werden zu sehen sein?

Das Besondere an dem Festival ist, dass es sehr viele intime Formate gibt, also Kleingruppenformate oder eins zu eins Settings, in denen ein Performer oder eine Performerin mit einer Zuschauer*in längere Zeit in intensivem Austausch ist. Es gibt einige Projekte, die sehr kleinteilig arbeiten, und Bühnenprojekte, die ganz klassisch mit Zuschauerraum und Bühne getrennt voneinander funktionieren.

Das finde ich interessant, weil die klassische Vorstellung einer Therapiesitzung ist, dass man sich auf ein Sofa legt und allein mit seinem/r Therapeut*in ist. Aber die Bühnensituation hält auch die Möglichkeit bereit, in Kontakt zu kommen mit dem Publikum, Energien auszutauschen und mit einer größeren Gruppe einen Heilungsprozess anzuregen.

Ja, das Psychotherapeutische ist ein Thema, das ganz stark aufkommt, aber eigentlich haben wir mit Save Your Soul versucht, ganz unterschiedliche Techniken der Heilung aufzurufen – Katharsis zum Beispiel ist ja ein uraltes Konzept. Es gibt wirklich Arbeiten, die über diese Zirkulation von Energien oder über eine Anregung zum Mitfühlen funktionieren. Da wird über eine große Emotionalität eine starke Involvierung der einzelnen Besucher*innen im Publikum angestrebt.

Beim Lesen des Programms ist mir aufgefallen, dass es noch weitere Stichwörter gibt wie Krisenmanagement, Gruppentherapie, Academy, Orakel. Das sind sehr unterschiedliche Formate, die das Verständnis des Therapeutischen erweitern.

Absolut, es geht um sehr unterschiedliche Ansätze das Selbst zu bearbeiten. Das können spirituelle Formen sein, zum Beispiel bei Jaamil Olawale Kosoko. Es geht ihm um eine spirituelle Praxis, bei der er versucht mit den Toten in einen Austausch zu treten. Bei der Academy geht es eher um einen Bildungsanspruch und darum, Themen rund um das Therapeutische aus der feministischen Perspektive zu beleuchten. Daraus erwächst dann ein Empowerment-Gedanke. Dann gibt es eine Performance, Mothers of Steel, in der die ganze Zeit geweint wird. Einerseits wird dieses Reinigungsritual dargestellt und andererseits in einen politischen Kontext gesetzt. Wir haben versucht verschiedene Selbsttechniken der Optimierung und der Heilung…

…der Selbstsorge…

…zu versammeln. Das Therapeutische ist gerade ein wahnsinnig dominanter Diskurs, er betrifft auch mindestens die Hälfte der Produktionen, aber die anderen arbeiten auch mit ganz anderen Strategien. Zuweilen geht es eher in Richtung einer Coaching-Ideologie.

Als weiteres Spannungsfeld habe ich empfunden, dass es einerseits eine Reflexion des therapeutischen Diskurses gibt und andererseits ein Reingehen in die Emotion.

Genau. Wir wollen zeigen, wie sich das Theater der Arbeit am Selbst annähert. Dabei geht es zum einen um eine kritische Reflexion der großen Popularität des Therapeutischen und der Optimierung, und zum anderen um Arbeiten, die einladen, wirklich an sich zu arbeiten. Zum Beispiel die Gruppe Meine Wunschdomain, die in dem Wohnwagen das Orakel anbieten. Sie wollen wirklich helfen, Veränderungen schaffen und bieten eine Berufsberatung und eine Berufungsberatung an. Auf der kritischen Ebene wird im Festival aber reflektiert, was für Ausschlussmechanismen der therapeutische Diskurs hervorbringt. Inwiefern werden Subjekte ihrer politischen Kraft beraubt, wenn sie sich vor allem um das eigene Wohlbefinden/ die eigene Optimierung kümmern?

Da habe ich auch schon drüber nachgedacht, dass man kritische Stimmen entschärft, in dem Moment, in dem man sie in die Schublade eines psychischen Krankheitsbildes steckt.

Absolut. Das ist bei Demi Nandhra der Fall, die im Rahmen ihrer Performance Life is no Lauging Matter die Frage aufbringt, ob es Sinn macht von einer klinischen Depression zu sprechen, wenn es sich um ein Unwohlsein handelt aufgrund der politischen Lage und gesellschaftlichen Unterdrückung, die sie als Frau of color in einer weißen Mehrheitsgesellschaft erfährt.

Es geht also um das Individuum genauso wie um das große Ganze.

Joy Kristin Kalu im Gespräch mit Jaamil Olawale Kosoko, Foto: Anna-Lena Wenzel

Ja, in vielen Stücken werden persönliche Befinden ernst genommen und in einen größeren, politischen Zusammenhang gestellt. Bei Jaamil Olawale Kosoko ist das sehr präsent: Er geht von der eigenen und übergreifenden Schwarzen Erfahrung aus, die eine Erfahrung von Verletzlichkeit ist, die aber in einem gesellschaftlichen Zusammenhang betrachtet wird und geöffnet wird für ein Publikum, das nicht schwarz sein muss.
Es gibt eine weitere Arbeit von der bereits erwähnten Demi Nandhra, aus England, die von ihrer eigenen Depression im Format einer Stand-Up Comedy erzählt. Es ist eine sehr intime Arbeit bzw. sie hat mit intimen Bekenntnissen zu tun. Gleichzeitig setzt sie ihre Depression und ihre Pathologisierung in Zusammenhang mit bestimmten Machtverhältnissen, die dazu führen, dass sie auf eine bestimmte Weise klassifiziert wird. Auch bei ANGSTPIECE geht es um ein kritisches Hinterfragen: Wer kann es sich überhaupt leisten, eine Diagnose wie Agoraphobie zu bekommen? Ist das eine typisch westliche Krankheit?

Jaamil Olawale Kosoko hat davon gesprochen, dass aus der Wut über die Geschichte des Rassismus eine Energie entstehen kann. Diese kann entweder etwas Selbstzerstörerisches haben oder nach außen gehen, sich nach außen richten.

Genau, sein Ansatz ist es tatsächlich eine positive Zukunft zu gestalten, schmerzvolle Erfahrungen auch als wertvolle zu erachten und als einen weiteren Schritt auf einem spirituellen Weg zu betrachten. Aber die Performances haben zudem destruktive, harte, konfrontative Momente, die aus der Wut in (und über) unsere/r Gegenwart zu tun haben.

Ich fand es interessant, dass er die Arbeit angesprochen hat, die es bedeutet, diese Wut zu transformieren. Auch das ist ja ein Spannungsfeld: die Selbstoptimierung ist im negativen Sinne eine Brauchbarmachung für das neoliberale System und gleichzeitig ist sie ein Dienst an sich selber, sei es weil man in Kontakt mit sich und seinen Emotionen oder seiner verstorbenen Familie tritt.

Ja, dieser Aushandlungsprozess bewegt sich immer zwischen einer Normierung, die einen eher zum Schweigen bringen kann, und einem Empowerment Gedanken, sobald man selbst für sein Wohlbefinden sorgt und Kraft schöpft auch solidarisch handeln zu können. Ich glaube, in diesem Spannungsfeld sind alle Arbeiten verortet, und es lässt sich nicht auflösen, sondern muss individuell verhandelt werden.

Wie stark ist der Glaube, etwas verändern – heilen – zu können?

Bei Jaamil Olawale Kosoko gibt es den auf jeden Fall. Aber insgesamt haben wir ganz unterschiedliche Arbeiten im Festival. Der Großteil hat den Anspruch von einer Transformation und möchte ein politisches Denken in Bezug auf Optimierungsprozesse anregen. Gerade die Vorträge im Festival, wie der von Eva Illouz, werden auch auf die Warenförmigkeit von Emotionen eingehen und darauf wie der therapeutische Diskurs einer neoliberalen Logik unterliegt.

Gibt es etwas, worauf du dich besonders freust während des Festivals?

Ich muss schon sagen, dass ich mich jetzt zum Eröffnungswochenende wahnsinnig freue, dass die Arbeiten von Jaamil Olawale Kosoko und Ann Liv Young Mal in Berlin sind. Persönlich liegt mir auch das Stück ANGSTPIECE am Herzen, weil ich da als Produktionsdramaturgin involviert bin. Das ist somit ein Prozess gewesen, den ich von der Konzeptionsphase bis zur Probenphase begleitet habe. Ebenfalls freue ich mich auf das zweite Festivalwochenende, das u.a. mit den Arbeiten Mothers of Steel und So you can Feel im Zeichen einer lust- und auch humorvollen Erforschung von Traurigkeit steht.

Führt die Beschäftigung mit Formen des Therapeutischen eigentlich auch zu einer Erweiterung der Selbstbezeichnung der Performer*innen? Gibt es welche, die sich auch als Heiler*innen verstehen? Die ägyptische Performerin Nora Amin, die in Berlin dieses Jahr eine Gastprofessur hatte, hat davon gesprochen, dass es ihr in ihrer Praxis auch um das Heilen von Traumata geht.

Ja. Sie arbeitet sehr viel mit diesen Community-Prozessen und mit dem Theatre for Change. Dieser pädagogische Anspruch, bei dem es Settings gibt, in denen Geschichten erzählt werden und das Publikum eingreifen und etwas neu aufbereiten kann. Das changiert zwischen Heilung und politischem Anspruch. Das gibt es, glaube ich, häufig, dass Künstler*innen sowohl etwas für die Bühne produzieren als auch Community-Arbeit machen. Aber der Anspruch wirklich als Heilerin aufzutreten, war eher in den 60/70er Jahren in der Performance-Kunst Thema. Heute ist den meisten Arbeiten eine Infragestellung dieser Heilsversprechen eingeschrieben.

Weil darin auch immer eine Art von Macht, Machtverhältnis eingeschrieben ist, die es zu reflektieren gilt?

Ja, beim Festival geht es nicht um die „richtige“ Therapie, sondern um die „freien“ Arbeiten, die sich am Therapeutischen abarbeiten. Manche mit einem ernstgemeinten Anspruch etwas ändern zu können, und anderen, die sich sehr kritisch auf die therapeutischen Logiken und ihre Ausschlussmechanismen beziehen.

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