Ferial Nadja Karrasch

Immer wieder Neues zu lernen, die Welt für einen Augenblick mit den Augen einer fremden Person sehen, sich auf die unterschiedlichsten Perspektiven einlassen – das sind nur einige Aspekte, die Ferial Nadja Karrasch an ihrer Tätigkeit als Kunstjournalistin so schätzt. Sie lebt in Berlin und schreibt für verschiedene digitale und analoge Formate über Kunst und Kultur. Studiert hat sie Kunstwissenschaft, Philosophie und Ausstellungspraxis an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, an der Universiteit van Amsterdam sowie an der Universität der Künste Berlin.

Ein Rundgang entlang und abseits der Berlin Art Week 2021

23.09.2021
Alexander Lieck, Wind Me Up, 752/752, 2021
Alexander Lieck, Wind Me Up, 752/752, 2021
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Zehra Doğan, Ez Zehra, ne poşman im, 2019 © Ute Langkafel MAIFOTO
Hana Usui _Fukushima _2019_Copyright the artist and Courtesy Marcello Farabegoli Projects_(3)
Hana Usui , Fukushima (2019), Copyright the artist and Courtesy Marcello Farabegoli Projects
ENCODE VII, 2006
Katharina Sieverding ENCODE VII 2006 Digitaldruck auf Vliesrückenpapier 252 x 356 cm © Katharina Sieverding, VG Bild-Kunst
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Ben Dabush, Sky Longs to Meet Water Like Sand, Installationsansicht RL16, Foto: Eric Tschernow
Sophia Domagala, Beggars, Installationsansicht 1
Sophia Domagala, Beggars, Installationsansicht 1-3: Sophia Domagala, Beggars, Installationsansicht © Best Quality, courtesy die Künstlerin und Mountains, Berlin

In dieser Stadt kann sich der kunstinteressierte Mensch zuweilen wie ein Kind im Spielzeugladen fühlen - so groß ist die Auswahl an dem, was man gesehen und erlebt haben will, vor allem jetzt, zu Corona-ist-noch-nicht-vorbei-Zeiten. Noch größer ist der Drang, sich unter das Kunstvolk zu mischen, wenn die Berlin Art Week ihre symbolischen Tore öffnet und für fünf Tage aus dem Ausstellungsbesuch ein Spektakel macht.

Auch wenn die meisten Ausstellungen der Berlin Art Week natürlich auch nach dem 19. September noch zu sehen sind, möchte man dabei sein, bei diesem Event, ein bisschen den Wind alter prä-Pandemie-Luft schnuppern, sich zu Kunstveranstaltungen treffen und vor Ort austauschen, vielleicht ein Getränk zu sich nehmen…

Um jene Zeit, von der man ja in der Regel doch nicht so viel hat, als dass man alles sehen könnte, möglichst effektiv zu gestalten, liest man sich vorab ein. Man studiert das Programm der 10. Ausgabe der Berlin Art Week gewissenhaft. Man erstellt Favoriten-Listen und Reise-Routen und versieht die Seiten mit unzähligen Post-its… Nur um dann doch vom gut durchdachten Plan abzukommen, weil man hier einem Ausstellungsort begegnet, den man schon länger mal besuchen wollte und dort Kunstwerke durch ein Schaufenster sieht, die einen geradezu anspringen.   

Das Folgende ist eine Zusammenstellung einer persönlichen Top Five, der im Rahmen der Berlin Art Week besuchten Ausstellungen in Mitte.

Auf dem Weg zum Times Art Center (das dann an diesem Tag doch nicht besucht wird…) bleibe ich vor dem Schaufenster des erst im März dieses Jahres eröffneten Ausstellungsraums RL16 in der Rosa-Luxemburg-Straße 16 stehen. Nach drei Corona-gerechten Schaufensterausstellungen war hier vom 9.7. bis zum 18.9. die erste Einzelausstellung des in Berlin lebenden Künstlers Ben Dabush (*1989 in Jerusalem) zu sehen. Die in Sky Longs to Meet Water Like Sand arrangierten Objekte – ein Paravent, Jalousien und vor der Wand installierte Vorhänge – schaffen einerseits Möglichkeiten der räumlichen Abgrenzung im Hier und Jetzt und laden andererseits aufgrund ihrer Gestaltung dazu ein, sich gedanklich in ein Anderswo zu begeben: Der Paravent ist versehen mit dem Abbild aufspritzenden Meerwassers, die Jalousien zeigen dicke Wolken, die an einem blauen Himmel vorüberziehen und die beiden Vorhänge erinnern in ihrer Farbgebung an eine Wüstenlandschaft. Die Installation spielt mit dem Gegensatzpaar Drinnen-Draußen: Rückzug in einen geschützten Raum, der das Außenstehende von der Ruhe suchenden Person abschirmt und Konzentration auf einen inneren Raum, in dem das Ferne – die Natur, das Meer, der Himmel – heraufbeschwört wird. Mit der Ausstellung Die langen Tage (16.9.-18.12.) des Berliner Künstlers Alexander Lieck (*1967) werden außerdem die großzügigen Räume in der zweiten Etage eröffnet: 

Liecks Paintings with Numbers (2021) – bunte, mit Zahlen versehene Zettelchen auf weißer Leinwand – sind abstrakte Collagen, die trotz ihres Minimalismus an die Dada-Ästhetik erinnern. Ebenso wie die Bilder der Serie Wind Me Up (2021), in denen der Künstler jeweils zwei Nummernzettel zentral auf den kleinformatigen, abstrakten Öl-Gemälden anbrachte, verweigern die Paintings with Numbers es, die Geschichte hinter den Zahlen zu erzählen. Nur von Wind Me Up 692/692 (2021) erfährt man im Pressetext, dass es sich um Garderobennummern vom Kunstverein Hannover handelt, wo Lieck 2018 ausstellte und seine Jacke abgab.

Um die Ecke des Ausstellungsraums RL16 faszinieren in der Mountains Gallery die Arbeiten der Künstlerin Sophia Domagala (*1981 in Hamburg, lebt in Berlin). Die Werke der Ausstellung BEGGARS entstanden allesamt zu Pandemie-Zeiten und widmen sich dem Motiv der Streifen: In der Wiederholung des scheinbar Gleichen zeigt sich in ihnen das minimal Abweichende, das dadurch zum Einzigartigen wird. 

Die Streifen bestehen nicht aus akkurat gezogenen Linien, vielmehr sind sie gelegentlich ein wenig krumm geraten, der Pinsel wurde auf dem Weg von A nach B abgesetzt und selbst in den strenger gestalteten Gemälden lässt jedes Bildelement erkennen, dass hier frei Hand gearbeitet wurde. Domagalas Arbeiten kombinieren Ordnung und Struktur mit dem Ungeplanten, Spontanen. Die Gemälde, die hier und da Worte versteckt halten (z.B. „Why“) und teilweise mit großen, auf die Wand gemalten Begriffen wie „Lucky“ und „Happy“ interagieren, haben eine beinah meditative Wirkung und reflektieren einen Zustand, der uns vor allem auch mit Blick auf die Ausnahmezeiten der Pandemie vertraut ist: „Unregelmäßigkeiten als Regel, nicht als Abweichung davon.“ (Camila McHugh in ihrem Text Echt genug zum Reiten, der im begleitenden Ausstellungskatalog zu lesen ist.)

Ein bisschen weiter nördlich, in der Ackerstraße 169, feiert der Club der polnischen Versager sein 20-jähriges Bestehen. Gegründet von in Berlin lebenden polnischen Künstler:innen, beschreibt der Club sich in seinem „kleinen Manifest“ wie folgt: „Unseresgleichen gibt es nicht viele in der Stadt. Ein paar nur, vielleicht einige zehn. Der Rest, das sind Menschen des Erfolgs, kühle und kaltblütige Spezialisten – was immer sie auch tun, das tun sie bestens. Wir – die Schwachen, weniger Begabten, können kaum etwas erwirken (…).“
Immerhin haben seine Initiator:innen und Macher:innen über die Jahre an die 200 Ausstellungen, Happenings und Aktionen stattfinden lassen. Und sie haben es geschafft, den Kulturort über zwei Dekaden zu etablieren und zu erhalten – eine Errungenschaft, die sich mit Blick auf drohende Verdrängung und Räumung, die auch das Fortbestehen dieses Ortes gefährdeten, nicht kleinreden lässt. 

Beheimatet in einem Kultur-Wohn-Projekt mit einem Theater, Ateliers, Proberäumen, Werkstätten und Wohnungen sowie dem Kulturbetrieb Schokoladen, ist der Club der polnischen Versager „geöffnet, wenn nicht geschlossen“ und wendet sich an jene, „die an ihrem Ort und in ihrer Zeit fremd stehen“. 

Vom 18. September bis zum 3. Oktober ist hier ein Bild des Fukushima-Zyklus der japanischen Künstlerin Hana Usui (*1974 in Tokio) zu sehen. Usui kombiniert Fotografien der durch den verheerenden Reaktorunfall kontaminierten Orte mit auf Seidenpapier gezeichneten Linien und Bögen und lässt so zurückhaltende Arbeiten entstehen. Hier fällt etwas auseinander: Die Schönheit und Poesie dieser Werke mag nicht so recht zu der Zerstörung passen, die nicht zu sehen ist, und dadurch noch Bedrohlicher wird. 

Die Fukushima-Serie ist Ausdruck einer Auseinandersetzung der Künstlerin mit den Missständen ihres Landes: „Mir sind schon immer zahlreiche Ungerechtigkeiten in Japan bewusst gewesen. Seit der Atomkatastrophe in Fukushima und der Art und Weise, wie die japanische Regierung darauf reagiert hat und immer noch reagiert, habe ich in gewisser Weise die Hoffnung verloren, dass mein Land gerettet wird.“ Und mit Bezug auf den begleitenden Essay „Menschengemachte Menschleere“ des Philosophen Konrad Paul Liessmann fügt sie hinzu: „Dieser Titel passt perfekt zu einer dystopischen Vision meines schönen Landes, in der meine Landsleute nicht aufwachen und sich wehren.“ 

Neben dem Bild zeigt die Künstlerin eine Videoarbeit über Fukushima, die zusammen mit der Journalistin Judith Brandner entstand.

Von dieser ernsten Arbeit, die so leicht daherkommt, führt mich mein Rundgang in die Auguststraße 11-13, wo die Ausstellung Katharina Sieverding – Headlines die Ausstellungs- und Veranstaltungstätigkeit des Salons Berlin beendet. Unter dem neuen Namen Salon Burda werden in der Dependance des Baden-Badener Museums Frieder Burda künftig weiterhin Formate erarbeitet, die jedoch nicht unbedingt am bisherigen Standort in Berlin-Mitte stattfinden werden. 

Die von Udo Kittelmann kuratierte Werkauswahl der Fotokünstlerin zeigt unter anderem großformatige Bilder, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen. Sieverding überlagert in ihnen dokumentarische Aufnahmen der Konzentrationslager Dachau und Sachsenhausen sowie Aufnahmen des Holocaust-Denkmals in Berlin. Auf diese Weise entstanden vielschichtige Bilder, die ein Gefühl der Orientierungslosigkeit hervorrufen und in denen Erkennen und Verfremdung – oder auch Entfremdung – ineinander fallen. Und natürlich kommt man nicht umhin, die Arbeiten in Bezug zu dem sie umgebenden Ausstellungsort zu setzen: In den Räumen der ehemaligen jüdischen Mädchenschule verstärken die Arbeiten die besondere Atmosphäre dieses Gebäudes, die sich aus seiner bewegten Geschichte ergibt und die trotz der modernen und schicken Umgestaltung wahrnehmbar ist. 

Auf dem Weg zum PalaisPopulaire, wo die gebürtige Berlinerin Conny Maier, der taiwanesische Künstler Zhang Xu Zhan (*1988) und Maxwell Alexandre (*1990 in Rocinha (Rio de Janeiro), Brasilien) die Auszeichnung „Artists of the Year“ der Deutschen Bank erhielten (anlässlich des 10. Jubiläums des Preises werden in diesem Jahr erstmals drei Künstler:innen ausgezeichnet), sorgt der 5. Berliner Herbstsalon für eine weitere Abweichung vom vorab erstellten Art Week Plan: 

Der vom Maxim-Gorki-Theater ausgerichtete Berliner Herbstsalon widmet sich seit 2013 dem Diskurs um Nation, Identität und Zugehörigkeit und hat in diesem Jahr sein Format geändert. Anstelle eines dreiwöchigen Festivals wird es in der Saison 2021/22 mehrere Einzelausstellungen und interdisziplinäre Projekte geben. Die Ausstellungsserie wird mit dem aktuellen Projekt stronger still eröffnet, das sich wiederum aus mehreren Einzelausstellungen zusammensetzt. Darunter die beeindruckende Ausstellung Prison No. 5 der kurdischen Künstlerin, Journalistin und Aktivistin Zehra Doğan (*1989 in Diyarbakır, Türkei) im Gorki Kiosk in der Dorotheenstraße 3. 

Doğan ist Gründerin der kurdisch-feministischen Nachrichtenagentur JINHA und wurde während des Militäreinsatzes türkischer Streitkräfte in Nusaybin 2016 wegen „terroristischer Propaganda“ verhaftet, nachdem sie ein Bild in den sozialen Medien veröffentlichte, das die Zerstörung der Stadt dokumentierte. 

In der Folge saß sie 34 Monate in drei unterschiedlichen Gefängnissen ein, darunter in dem für Folter berüchtigten Gefängnis No. 5 in Diyarbakır. 

Die in der Einzelausstellung gezeigten Arbeiten sind eine Auswahl der während ihrer Haft entstandenen Werke, in denen sie die Grausamkeit des Gefängnis-Alltags, aber auch den Zusammenhalt unter den Gefangenen dokumentierte. Als Materialien dienten ihr dabei verschiedene Textilien wie Kleidungsstücke, Zeitungen, Briefe, Essensreste, Haare und ihr eigenes Menstruationsblut. 

Die Werke, darunter eine handgeschriebene Zeitung und eine Graphic Novel, geben Einblick in die Abgründe menschlichen Handelns und zeugen von der unglaublichen Widerstandskraft der Künstlerin sowie weiterer Kurd:innen gegen den Druck von Seiten der türkischen Regierung. 

Ergänzt wird dieser schockierende Einblick in eine für uns ferne Realität durch das Virtual-Reality-Modul Silivri Müzesi (2023) des Journalisten, Autors und Filmemachers Can Dündar (*1961 in Ankara). Seinerzeit Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet wurde Dündar 2015 der Spionage bezichtigt und kam für drei Monate in Untersuchungshaft, der ein Urteil des türkischen Verfassungsgericht Anfang 2016 ein Ende setzte. Silivri Müzesi (2023) lässt Dündars Hoffnung, dass das „größte Journalisten-Gefängnis der Welt“ (Dündar), das Silivri Gefängnis, einst ein Museum sein wird, zur virtuellen Realität werden. Geleitet von der Stimme einer freundlichen Frauenstimme werden das Eingangstor, ein Vernehmungszimmer und eine Einzelzelle „besichtigt“. Auch wenn die Besucherin zu jeder Zeit Kopfhöher und Brille absetzen kann, löst der virtuelle Rundgang Beklemmungen aus. Im Zusammenspiel mit Doğans Zeugnissen entsteht so ein ansatzweiser Einblick in den Alltag der in den türkischen Gefängnissen inhaftierten Menschen. 

Erweitert wird dieser Einblick durch die Installation Silivri. Prison of Thought, einer Nachbildung jener Zelle, in der Can Dündar einsaß sowie durch die Ausstellung Museum of Small Things. Hier widmen sich Dündar und Hakan Savaş Mican der „Widerstandskraft des denkenden Menschen“: Unterschiedlichste Objekte dienen als Ausgangspunkt für die Geschichten 12 Inhaftierter. Vor der Betrachterin breiten sich Episoden besonderen Einfallsreichtums, des Widerstands und des kleinen Glücks aus. So beispielsweise die Geschichte des türkischen Unternehmers Osman Kavala, der 2017 wegen des Vorwurfs, die Gezi-Proteste 2013 finanziert zu haben, ins Gefängnis kam: Um der Einsamkeit der Einzelhaft zu entgehen, hielt er sich zwei Schnecken, die er eines Tages auf einem Salatblatt entdeckte. Während die Schnecken allerdings mittlerweile nicht mehr im Gefängnis sind, befindet sich Kavala nach wie vor in Haft.  

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