Am Anfang, da ist Ruhe. Verlässt man die breite, viel befahrene Perleberger Straße in Moabit und tritt ein in die Quitzowstraße, dann ist auf einmal alles ruhig. Ob es der Gebäude-Koloss eines Baumarktes zur Rechten ist, der den Schall abprallen lässt, oder die vielen Bäume, die den Krach schlucken – egal. Auf einmal stellt sich ein bisschen Entspannung ein. Den Blick zu den hübschen Altbauten, die die linke Straßenseite säumen, fühlt man sich, als wäre man in einer netten Wohngegend in einem ruhigen Teil der Stadt. Die unmittelbare Nähe der Ringbahn und auch des Westhafens sind noch nicht zu bemerken. Stattdessen spielen einige Kinder auf dem Schulhof der Theodor-Heuss-Schule und mehren das Gefühl von Großstadt-Idyll.
Doch das ändert sich schon bald. Hinter dem großen Baumarkt und rechts neben der Straße steht ein hohes, rostiges Viereck. Eine Gedenktafel, die an die Deportationen von Jüd*innen ab dem Güterbahnhof Moabit erinnert. Der Gedenkort selbst liegt zwar an der parallelen Ellen-Epstein-Straße. Doch auch hier auf der Tafel erfährt man, dass während der Nazi-Zeit zwischen Oktober 1941 und Frühjahr 1945 über 50.000 Menschen vom Güterbahnhof Moabit aus deportiert wurden. Er war der größte der Berliner Deportationsbahnhöfe. Auch vom Bahnhof Grunewald und dem Anhalter Bahnhof wurden Menschen in Ghettos oder Vernichtungslager gebracht. „Dies alles geschah unter aktiver Beteiligung von Behörden und Unternehmen und vor den Augen der Anwohnerinnen und Anwohner”, lautet der letzte Satz des Mahnmals. Er lässt einen mulmig werden, betroffen sein, gerade jetzt, wo Rechtspopulismus zunimmt, Rechtsextreme zu Gewalt greifen und sogar wieder vermehrt morden.
Die Ruhe, die gerade noch so angenehm war, lässt Raum für Grübeleien, für düstere Gedanken, die sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft gelten. Als wollte sich die Umgebung dem anpassen, wandelt sich nun auch der Eindruck der Quitzowstraße. Er ist genau genommen gespalten. Auf der linken Seite noch immer: Altbauten, wunderschön, vermutlich Gründerzeit. Keine Zierde wurde von der Fassade gekloppt, die Balkone sind noch immer prachtvoll geschmückt. Man kann sich geradezu ausmalen, wie die Wohnungen aussehen, hohe Decken, Holzfußboden, das volle Programm eben. Nur: Die Aussicht auf die gegenüberliegende Straßenseite trübt wahrscheinlich die Freude. Denn die ist gesäumt von Industrie. Profi-Küchenausstatter folgt auf Tankstelle folgt auf Metallankauf folgt auf Auto-Werkstatt – und so weiter. Zwischen den Gebäuden werden Kräne und Schornsteine des Gebietes um den Westhafen sichtbar. Viele der Firmen wirken, als wären sie schon lange da. Doch auch der Fahrradverleih eines Start-Ups hat sich hier niedergelassen.
Kultur und Krimskrams
Ein wenig Kultur gibt es auch an dieser Straße: Der Korea Verband hat dort seinen Sitz, eine „offene, politisch unabhängige und im deutschen Sprachraum ansässige Informations- und Kooperationsplattform für alle, die an der Geschichte und Kultur Koreas sowie den aktuellen Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel interessiert sind”, wie es auf deren Homepage heißt. Und eine Kuriosität: „Paul’s Trend Shop”, ein kleines Lädchen, beleuchtet von LED-Lichterketten. In seinem Schaufenster bietet er allerlei Krimskrams an: kleine ägyptische Statuen, Totenkopf-Anhänger, Stifte, kleine Püppchen und Enten und Teddys. Billard-post bietet Paul auch an, genauso wie Fahrrad-Reparaturen.
Dann bald ist die Entdeckungstour an der Quitzowstraße auch schon beendet. Denn nach nur etwa einem Kilometer geht sie über in die Siemensstraße. Die Ruhe geht, die Industrie bleibt.