Ute Müller-Tischler

Ute Müller-Tischler promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin im Bereich Kunstwissenschaften und Ästhetik. Sie kuratierte und initiierte zahlreiche Ausstellungen und Kunstprojekte im Stadtraum. Sie ist verantwortlich für die öffentlichen Galerien in Berlin Mitte und die Baudenkmäler Klosterruine Berlin und Bärenzwinger. 2014 rief sie das Programm Curating und Management in public Institutions (CAMPI) in Leben. Seit 2012 leitet sie den Fachbereich Kunst, Kultur und Geschichte im Bezirksamt Mitte von Berlin.

“Eine goldene Nase verdienen wir uns nicht.” Ein Besuch im Haus der Materialisierung.

18.01.2022
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Foto @ Ute Müller-Tischler
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Das HdM ist ein Dach für Initiativen rund um eine ökologische Materialwirtschaft. Hier treffen Repair Café, Lebensmittel-Verteiler, Werkstätten für Selbsthilfe und Projektarbeit, Lastenradverleih, Gebrauchtmaterial-Markt und Leihladen zusammen.

Irgendwo hinter dem Haus der Statistik und des Haus des Lehrers befindet sich seit Sommer 2020 auch das HdM. Die Kultursoziologin und Aktivistin Corinna Vosse hat gemeinsam mit Gleichgesinnten mitten in der Stadt einen Ort geschaffen, der aufhorchen lässt und für ökologische Ideen und Initiativen begeistert. Bei ihrem Besuch der riesigen Produktions- und Lagerhalle zwischen Otto-Braun-Straße und Karl-Marx Allee hat Ute Müller-Tischler mit der Co-Initiatorin und Geschäftsführerin gesprochen.

Ute Müller-Tischler (UM): Hallo Corinna, was genau eigentlich bedeutet das Kürzel HdM?

Corinna Vosse (CV): Schön, dass du da bist. HdM heißt einfach Haus der Materialisierung. Hier sind Projekte und Akteure vereint, die sich mit sehr unterschiedlichen Ansätzen um eine reversible Materialwirtschaft bemühen. Hier tauschen und leihen wir, sammeln Gebrauchtes, beschaffen und wiederverwenden alles, was denkbar ist. Wir reparieren und halten instand. Es geht um Upcycling und Umnutzung und, ja auch um ganz praktische Angebote. Aber eben auch um Workshops und künstlerische Projekte, in denen es mehr darum geht, die Metaebene der ökologischen Praxis von verschiedenen Perspektiven her zu thematisieren.

UM: Es geht euch nicht einfach nur um den Gebrauch und den ökologischen Nutzen von Material.

CV: Ja, genau, es geht uns um die Materialisierung von Prozessen. Zum Beispiel wie es zu unserer Entfremdung vom Material und vom eigenen Umgang damit kommt. Und wie schaffen wir es wieder, Material selber zu gestalten. Materialisierung ist etwas Aktives, etwas, was man eben tun muss. Und natürlich ist der Name unserer Institution erst einmal auch aus einem Wortspiel und den stadträumlichen Anschlüssen entstanden. Neben dem Haus der Statistik, Haus der Gesundheit und so weiter gibt es jetzt auch das Haus der Materialisierung. Und ja, es ist natürlich ein Statement, wir meinen das schon so, wie wir das sagen, dass man hier wirklich gefragt ist, sich wieder mit dem Material selbst auseinanderzusetzen. Es ist der einzige Weg, um in regionalwirtschaftlichen Kreisläufen das, was eben vorhanden ist, weiter in Wert zu setzen, in der Nutzung zu halten, um so die Entnahme von Ressourcen zu reduzieren und natürlich auch das Aufkommen von Abfällen.

UM: Immerhin beschäftigt dich die Idee der sustainable Ressourcen schon seit 2006 als du Kunst-Stoffe e.V. gegründet hast. Wie seid ihr hier am Alexanderplatz gelandet?

CV: Wir haben damals Kunst-Stoffe e.V. gemeinsam mit Leuten aus dem RAW (Reichsbahnausbesserungswerke) gegründet, mit denen ich schon zusammengearbeitet hatte. Also namentlich war das Frauke Hehl und eben andere Leute, mit denen wir nach so einer… ja, so einer gemeinschaftlichen Infrastruktur für Kunst und Kultur gesucht haben. Es war so eine Mischung aus: wir wollen einen Ort schaffen, der aufnehmen kann, was woanders gerade kein Zuhause findet, und der aber auch einen Inspirationspunkt bildet für die Weiterverarbeitung von etwas. Es ging bei uns nie, auch heute eben nicht, um Gebrauchsgüter, sondern immer um das Material als Ausgangspunkt für einen Prozess. Wir haben dann schon relativ bald auch Werkstätten aufgebaut, auch da nicht nur von der Materialseite her, sondern von den Möglichkeiten für die Manipulation, Bearbeitung und Transformation der Materialien als neue Rohstoffe. In dem Zuge haben wir dann auch die Gründung des Verbundes Offene Werkstätten e.V. mitbegleitet, der später für ganz Deutschland solche allgemein zugänglichen Werkstätten angeboten hat. Das war gar nicht per se als eine Struktur für Kunst- und Kulturschaffende gedacht, sondern eigentlich mehr für die kreative Allgemeinheit, um insgesamt Eigenarbeit zu fördern. Heute ist das zu einer sehr großen Bewegung angewachsen, die ein stückweit immer noch etwas parallel läuft zu dem, was im engeren Sinne Kunst- und Kulturschaffende als ihre Infrastruktur verstehen. Das wollten wir aber zunehmend zusammenbringen, auch hier im Haus der Materialisierung, 15 Jahre später.

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UM: Der Nachhaltigkeitsgedanke hat sich in den letzten Jahren sehr stark vergesellschaftet. Er ist natürlich politisch präsent, aber auch aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sustainabel Ressourcen greifen als Vintage-Kultur nicht nur in die Alltagsästhetiken ein, sondern auch formal in die Künste.

CV: Aber nur unter privilegierten Menschen. Also ein hohes Bildungsniveau und auch sozial-ökonomisch bessergestellt zu sein, ist die Voraussetzung. Leute, bei denen es schon immer materiell knapp war, die rennen auch heute noch hinter Neuware her.

UM: Wie erklärst du dir das?

CV: Es geht dabei häufig darum, Mangel zu kompensieren und nach wie vor auch um Konsum und den Wunsch, den eigenen Status anheben zu wollen. Und wenn du nicht wie  im Sinne von Bourdieu über kulturelles und soziales Kapital verfügst, dann ist es eben das ökonomische Kapital, über das du dich aufwertest. Der Zugang zu deiner Wertsteigerung ist natürlich immer das Produkt. Du trägst ja nicht das Geld herum.

UM: Aber das Produkt kann ja auch Vintage sein oder so aussehen.

CV: Wie etwas als wertig bewertet wird, das hängt ja wiederum sehr von der Identifikation deiner Zielgruppe ab und da sind wir dann wieder bei bildungsfernen Milieus. Da findest du es eben selten Vintage-Ästhetik.

UM: Wie ist das denn mit euren Zielgruppen hier im Haus der Materialisierung?

CV: Die Angebote hier sind sehr vielfältig. Wir sprechen hier einerseits Kulturschaffende an, die für ein Kunstprojekt Material brauchen, aber auch Privatpersonen, die sich zum Beispiel ein Hochbett bauen oder Gartenprojekte verwirklichen. Auch kommen viele Leute zu uns, die politische Arbeit machen, Festivals organisieren oder auch Demonstrationsschilder bauen und bemalen. Also es ist wirklich ein breites Spektrum.

UM: Kommen zu Euch auch Schulen und Kitas?

CV: Ja, genau, die haben wir hier natürlich auch. Bildungsakteure sowieso. Trotzdem dringen wir nicht so richtig in die Mitte der Konsumgesellschaft ein, bisher. Aber das ist schon unsere Ambition. Im Vergleich zu unserem ursprünglichen Gründungsimpuls haben wir uns weiterentwickelt und verstehen uns heute als Zero-Waste-Baumarkt und versuchen uns explizit auch da zu verorten: Einen Baumarkt, das kenn ich, das verstehe ich und jetzt noch mit so ein bisschen öko… na kann man sich ja mal angucken. Also das ist im Moment die Kommunikationsstrategie bei uns.

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UM: Und wie funktioniert das? Kann man bei Euch Materialien abgeben und auch abholen sozusagen. Wenn man was abgibt, kostet das etwas? Bei den normalen kommerziellen Recyclinghöfen gibt es Gebühren.

CV:  Guter Punkt. Also die ganze Finanzierung ist immer noch ein bisschen prekär. Die Einnahmen aus den An- und Verkäufen der Materialien machen den kleinsten Anteil aus. Dann gibt es natürlich Engagement, das heißt, Arbeit wird nicht, sagen wir mal 1:1 bezahlt. Und es gibt eben immer wieder Zuwendungen und Förderungen von Stiftungen, die unsere verschiedenen Ideen, die wir hier verbreiten und entwickeln, unterstützen wollen. Und ja, da kommen wir immer wieder an den Punkt, dass das Ganze weiterentwickelt werden sollte. Wir müssen schauen, ob wir eine Abfallgebühr bei den Materialspendern erheben. So ein Modell gibt es in Paris, ich glaube, die heißen Ressourcerie. Wie erfolgreich das ist oder wie gut das funktioniert, kann ich aber nicht sagen. Außerdem kenne ich ein Modell in Leipzig, die machen das so, dass sie einen Abfallservice für Veranstalter anbieten, speziell für Messen und so weiter.  Da ziehen sie dann das Material für ihren Gebrauchtmaterialmarkt raus und werden dafür bezahlt, dass sie dann tatsächlich alles mitnehmen. Und da muss ich jetzt sagen: ich sehe meine berufliche Entwicklung eigentlich nicht darin, dass ich ein Entsorgungsunternehmen betreibe.

UM: Das ist wahrscheinlich eine Grenze, an die ihr stoßen könntet. Aber Euer Unternehmen basiert ja doch sehr auf Freiwilligkeit verbunden mit bestimmten Zielen und Ideen der Wiederverwertung. Bei den Recyclinghöfen wird nicht in dem Sinn wiederverwertet, sondern in Verbrennungsanlagen entsorgt.  

CV: Genau. Also auf Recyclinghöfen spielt vor allen Dingen die Verbrennung, die Fütterung der Müllverbrennungsanlage, die Berlin ja nun mal hat, eine Rolle. Das lenkt tatsächlich auch die Abfallströme, also versuch mal von diesen Höfen irgendwie Holz wieder raus zu kriegen. Das hat dann gar nichts mit der Möglichkeit, es wieder zu nutzen, zutun. Und dann gibt es noch andere Abfallfraktionen, die auf einem industriellen Recycling basieren. Was aber immer energetisch, also jetzt vom CO2-Fußabdruck her, der Direktwiederverwendung unterlegen ist, natürlich. Und da greift ja auch zunehmend Berlins Abfallwirtschaftskonzept, was vorsieht, dass Stoffe und Produkte in einer Wiederverwendung gehalten werden. Deshalb stehen wir hier mit dem HDM bzw. mit unserem Re-Use-Zentrum. Wir sind hier als Pioniere vom Haus der Statistik mit vielen anderen Initiativen eingezogen. Das war erst einmal ein loser Verbund und dann hat sich eine Kerngruppe von rund fünfzehn Leuten gebildet, die das ganze Haus hier wieder instand gesetzt haben. Zuerst hatte uns die anstiftung gefördert und dann die Postcode Lotterie. Das hat damals Kunst-Stoffe e.V.  gemanagt. Und dann haben wir die Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz (SenUVK) auf den Weg gebracht und das Zentrum für klimaschonende Ressourcennutzung gegründet.

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UM: Ist es jetzt Euer Ziel, den Standort als einen dieser laut Koalitionsvertrag geplanten vier Re-Use-Zentren in Berlin auszubauen?

CV: Genau. Das ist der Plan. Neben uns gibt es die NochMall, die BSR ist damit eingestiegen. Dann einen Pop-up-Store auf der dritten Etage im Karstadt am Hermannplatz, wo es verschiedene Angebote gibt, aber wirklich nur auf der Ebene von Konsumgüter-Sekundärnutzung. Und hier bei uns im ‚Zentrum für klimaschonende Ressourcennutzung‘ ist es wohl der komplexeste Ansatz, bei dem es um Transformationen und Upcycling geht sowie um systemische Transformation.  

UM: Existiert für die Re-Use-Zentren ein gemeinsames Förderkonzept bei der SenUVK?

CV: Jedes Zentrum ist für sich selbst entstanden und entwickelt sich weiter. Aber aus Sicht der SenUVK geht es darum, für alle eine Gesamtkommunikation zu schaffen, die eben sagt, hier sind Re-Use-Zentren mit sehr unterschiedlichen Konzepten und Angeboten. Das ist für uns, sagen wir mal, ein ganz interessanter Schritt und eine interessante Weiterentwicklung. Die Frage, wie wir aus diesem engeren Kreis von Kunst und Kultur heraustreten können. Wir gehen jetzt mehr in die Breite und erreichen eben auch Menschen, die bisher noch nicht daran gedacht haben, dass sie auch was Gebrauchtes erwerben könnten, dass sie etwas selber bauen könnten, aus Gebrauchtem oder eben, dass sie hier auch einen Kurs machen können.

UM: Das heißt, ihr habt eine Zukunft hier an diesem Standort?

CV: Ja und nein. Natürlich soll das Ganze aus Sicht von SenUVK an so prominenter Stelle verankert bleiben und das ist auch unsere Vision. Aber allen ist auch klar, dass sich der Platzbedarf von ca. 2000 m², den wir hier haben, an so zentraler Lage unter den herrschenden Regeln auf Dauer schwer finanzieren lässt. Bisher ist das nur möglich durch die Arbeit der Initiative Haus der Statistik.

UM: Und wie viele Personen sind bei euch beschäftigt? Oder ist das alles ehrenamtliche Arbeit?

CV: Die meisten sind dezentral beschäftigt, weil wir die Förderung weitergegeben an die Partner hier im HdM, die ihrerseits auch gemeinnützige Träger und eben Teil des Projektes sind und dadurch einen Teil der Zuwendung erhalten. Die Holzwerkstatt wird von den Baufachfrauen betrieben, die Textilwerkstatt vom Kostümkollektiv, es gibt den Leihladen und die Fahrradwerkstatt. Wir haben auch noch den Textilhafen und ein Nählabor, das organisiert die Stadtmission, die hier auch Gebrauchtwaren aus Wohnungsauflösungen anbieten. Sie bekommen auch wahnsinnig viele Textilien, die sich überhaupt nicht für die Obdachlosenhilfe verwenden lassen. Die haben ein Aufkommen von mehreren Tonnen gespendeten Textilien jeden Monat

UM: Das ist riesig. Da müsstet Ihr über Berlin hinausdenken und agieren. Wie vernetzt seid ihr mit euren Projekten?

CV: Ich würde sagen, es gibt ein loses Netzwerk von Gebrauchtmaterialvermittlungen in Deutschland. Und es hat sich ein sehr gut organisiertes Netz der Offenen Werkstätten gebildet.

UM: Welche Rolle nimmst du hier am Standort ein?

CV: Bei Kunst-Stoffe e.V. bin ich die Geschäftsführerin und da Kunst-Stoffe e.V. Trägerin des Re-Use-Zentrums ist, bin ich hierfür auch verantwortlich. Aber wir sind schon ein recht großes Team, ich glaub so 10 Leute, die Materialvermittlung managen, die Akquise machen, die Abholung organisieren, das Büro organisieren und die Öffentlichkeitsarbeit übernommen haben. Das meiste natürlich auf Honorarbasis. Im Moment verfügen wir sogar über zwei Angestellte. Aber eine goldene Nase verdienen wir uns nicht.

Corinna Vosse, Foto @ Ute Müller-Tischler

Infos:
WERKSTATT Haus der Statistik
Karl-Marx-Allee 1, 10178 Berlin
Haus der Materialisierung – Modellprojekt Haus der Statistik

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