Aenne Quiñones und Heimo Lattner 

Aenne Quiñones ist Dramaturgin und Kuratorin für Theater und Performance. Seit 2012 ist sie stellvertretende Künstlerische Leiterin des HAU Hebbel am Ufer in Berlin.
1996 war sie Mitbegründerin und bis 2003 Kuratorin des Festivals reich & berühmt. Von 1997 bis 2002 leitete sie den Bereich Theater/Performance im Podewil, Zentrum für aktuelle Künste in Berlin. An der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz arbeitete sie von 2002 bis 2011, hier v.a. als Kuratorin für die Volksbühne im Prater. 2010 und 2012 war sie Künstlerische Leiterin des Theaterfestivals Favoriten in Dortmund. Sie ist Herausgeberin und Autorin verschiedener Publikationen zum zeitgenössischen Theater, u. a. René Pollesch, „Liebe ist kälter als das Kapital“, Rowohlt Verlag, Hamburg 2009, Gob Squad, „What are you looking at?“ in der Reihe „Postdramatisches Theater in Portraits“, Alexander Verlag Berlin, 2020.

Heimo Lattner ist freischaffender Künstler. Ausstellungen und Projekte u.a.: ICA London, PS1/MoMa New York, Sharjah Biennale, Steirischer Herbst Graz, Akademie der Künste und Hebbel am Ufer Berlin. Er war von 1999-2009 Teil des Kollektivs e-Xplo und von 2005–2015 Mitbetreiber des Projektraums General Public in Berlin. Seit 2016 ist er Mitherausgeber der Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt. Von 2016–2020 war er co-Herausgeber von Ibid.- Szenische Lesungen aus Dokumenten der Berliner Stadt- und Kulturpolitik und von 2017–2019 Mitarbeiter am Forschungsprojekt Autonomie und Funktionalisierung der Kunst, UdK Berlin. Publikationen u.a.: „Never Mind the Nineties- eine Medienarcheologie der 90-er Jahre“, adocs Verlag, Hamburg und eeclectic Verlag Berlin, 2020; „Neuverhandlungen von Kunst – Diskurse und Praktiken seit 1990 am Beispiel Berlin“, transcript Verlag Bielefeld, 2020.

“Kein Mensch muss sexi sein” Ein Rückblick auf das Jahr 2021 von Heimo Lattner im Gespräch mit Aenne Quiñones.

03.02.2022
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Konzert und Performance » Songs of Cyborgeoisie « von BBB_(Alla Popp & Alex Traka) im Bärenwzinger Berlin 01.10.21, Foto @ Juan Saez

Die Dramaturgin und Kuratorin Aenne Quiñones und der Künstler Heimo Lattner gehen in ihrem gemeinsamen Jahresrückblick u.a. den Fragen nach, in welcher Weise die Pandemie das Experiment mit neuen künstlerischen Formaten befördert, warum die Partizipation 2021 so hoch im Kurs stand und was sich in den Koalitionsverträgen der neu gewählten Bundes- und der Berliner Landesregierung an Zukunftsperspektiven findet.

Heimo Lattner (HL): Jede Krise führt zu beschleunigten Veränderungsprozessen. Sie sind gute Gelegenheiten, den Status quo zu überwinden und Zeitgenössisches zu entwickeln. Nach jahrelanger Beschleunigung im Kulturbetrieb ist aktuell gnadenlose Entschleunigung angesagt. Krisenhafte Ereignisse sind provokant, weil sie Routinen unterbrechen. Dabei ist es mittlerweile schon selbstverständlich geworden, dass wir unser Gespräch via Zoom führen. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie kratzen an den existenziellen Grenzen der Künstler*innen wie auch der Institutionen. Wie reagieren die Kulturschaffenden auf die Situation? Welche Themen werden aktuell verhandelt und sind neue Formate entstanden?

Aenne Quiñones (AQ): Die Corona Pandemie fällt in eine Phase des digitalen Wandels. Auch davor standen schon Fragestellungen nach neuen Kunstformen an. Es geht heute beispielsweise darum, herauszufinden, wie man mit digitalen Mitteln andere Dinge erzählen kann. Unsere Subjektivitäten bauen sich ja auch um. Es passieren gerade so viele Veränderungen, die noch gar nicht reflektiert worden sind. Dazu zählt vor allem der Umbau der Gesellschaft, wie er sich gerade vollzieht. Es ist also spannend zu verfolgen, wie sich mit den neuen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, Ansatzpunkte und Plattformen bilden lassen, um andere Formen des künstlerischen Ausdrucks sichtbar zu machen. Und natürlich stellt sich die Frage, was sich mit unseren Theaterräumen anstellen lässt, wenn es Zeiten gibt, in denen das Publikum nicht im Saal sitzt.

HL: Die Unmittelbarkeit zwischen Publikum und Performer*innen im selben Raum ist seit nunmehr zwei Jahren weitgehend nicht mehr möglich. Das ist für viele Künstler*innen eine große Herausforderung. Wie reagieren sie darauf?

AQ: Das Performance Kollektiv Gob Squad zum Beispiel stellt sich die Frage, wie sie weiterhin ihr Publikum mit auf die Bühne bringen können, wie sie die Verantwortung für einen Abend teilen können. Sie haben dafür in Show Me A Good Time, unserer Koproduktion während des Lockdowns 2020, eine hybride Form gefunden, bei der sie auf der Bühne als Performer*innen agieren, aber das Publikum über digitale Wege erreichen. Die Zuschauer*innen können auf ihren Displays mitverfolgen, was auf der Bühne stattfindet, aber auch interagieren. Sie werden zu Akteur*innen, indem sie kommentieren, zum Beispiel wo und wie sie zuschauen, was sie sehen oder wie sie das Bühnengeschehen wahrnehmen. Aber es gibt auch Projekte, die sich ausschließlich im digitalen Raum bewegen, die eben die technologischen Möglichkeiten dann als solche testen.

HL: Ein Beispiel dafür ist die digitale Intervention Simultaneity, die dieKünstler Joachim Blank, Karl Heinz Jeron und Sakrowski 2021 für die Karl-Marx-Allee geschaffen haben. Auf einer Karte finden sich zu ausgewählten Orten QR-Codes, über die Augmented-Reality-Objekte auf dem Smartphone oder Tablet dargestellt werden können. In der erweiterten Realität von Simultaneity verbindet sich die Ästhetik des Sozialistischen Realismus mit Game-Design von Computerspielen. In der Gegenwart treffen jetzt die Relikte der Vergangenheit wie der Sputnik oder das 1991 abgerissene Lenindenkmal auf Figuren wie Lara Croft oder Hulk. Mit Hilfe von Augmented Reality werden so der Öffentlichkeit entzogene Objekte wieder erlebbar.

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Joachim Blank, Karl Heinz Jeron und Sakrowski “Simultaneity” 2021 Foto @ Kulturmitte
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Joachim Blank, Karl Heinz Jeron und Sakrowski “Simultaneity” 2021 Foto @ Kulturmitte

AQ: Es wird gerade mit sehr unterschiedlichen Formaten experimentiert, die auf eine andere Art der Wahrnehmung abzielen. So werden eben auch andere Geschichten mit anderen Mitteln erzählt. Deutlich wird, dass sich die Kommunikation verändert und es unterschiedliche Wege geben wird, wie wir miteinander in Kontakt kommen. Das hat Vorteile, aber auch Nachteile. Bestimmte Blickwinkel haben sich sehr verändert. Was sich klar zeigt, ist, dass man auf diesen Wegen vor allem auch eine jüngere Generation ansprechen kann.

HL: Die Kunst im öffentlichen Raum hat 2021, was naheliegend ist, wieder stark an Bedeutung gewonnen. So begann sich etwa in stadtweiten Campusprojekten eine Praxis zu formulieren, sie nennt sich Urbane Praxis, die über Teilhabe an stadtpolitischen Entwicklungen und Entscheidungen eine solidarischere Stadtgesellschaft befördern möchte. Ganz eindeutig drückt neben Covid derzeit nichts so sehr aufs Gemüt wie die Mietpreise. Spielt das Thema Stadt auch im Performancebereich aktuell eine Rolle?

AQ: Bereits 2019 haben wir mit Christiane Rösinger das Musical Stadt unter Einfluss am HAU herausgebracht. Leider konnte die Arbeit aufgrund der Pandemie seither nicht wieder gezeigt werden. Aber es gibt jetzt neue Termine für Juni 2022. Rösinger rückt die Wohnungsfrage als die soziale Frage unserer Zeit, ganz besonders in Berlin, ins Zentrum. Acht Musiker*innen und ein Chor aus Kreuzberger und Neuköllner Mietaktivist*innen singen und tanzen dabei ihre eigenen Geschichten. Am Ende wird natürlich alles gut – es ist schließlich ein Musical. Die Arbeit bringt ein generationenübergreifendes Publikum zusammen. Das ideale Theaterpublikum sozusagen mit einem gemeinsamen Anliegen. Da entstehen bei den Aufführungen auch Momente des Empowerments. Also Theater at it’s best.

HL: Apropos Partizipation: Sie ist eine Denkfigur dafür, sich den Herausforderungen an eine gleichberechtigte Mitbestimmung an Entscheidungs- und Handlungsprozessen zu stellen. Sie lebt vor allem davon, dass sie zu verhandeln ist. Sie relativiert aber auch die zentrale Stellung von Künstler*innen-Persönlichkeiten.

AQ: Ich denke, wir müssen überhaupt erst einmal von einem anderen Kunstbegriff ausgehen, um auch wirklich in einen Austausch zu kommen und nicht bloß Kunst irgendwohin bringen, um zu zeigen, wie toll wir sind.

HL: Wenn man sich die Urbane Praxis genauer ansieht, stellt man fest, dass auf formaler Ebene zwischen Spandau und Marzahn nahezu identisch gearbeitet wird: Gärtnern, Möblieren, gemeinsam kochen und essen, Bildungsprogramme und Spaziergänge. Und man stößt dabei auffallend oft auf genuine männliche Künstler 50+. Vielmehr als sich weiter in Polemiken darüber zu ergehen, lohnt es sich, den Begriff Partizipation genauer zu betrachten. Er wird im Fall der Urbanen Praxis dezidiert von der Relationalen Ästhetik hergeleitet, und die ist eben nicht gefeit vor lediglich symbolischen Gesten. Im negativen Fall mündet das in Scheinpartizipationen, bei denen sich die Partizipierenden in den Konzepten und Handlungsspektren der Künstler*innen bewegen.

AQ: Es muss doch darum gehen, unterschiedliche Realitäten und Praktiken zusammenzubringen und einen gemeinsamen Ansatz zu finden, wie man sich stadtpolitisch verbünden kann. Das ist ein langer Prozess. Das hängt auch damit zusammen, dass die Leute, die erreicht werden sollen, in vielen Fällen keine Lobby in der Stadt haben. Man muss auf die Leute zugehen, die da vor Ort agieren und von ihrer Wahrnehmung der Prozesse, die um sie herum passieren, und auch von ihren Bedürfnissen lernen. Die Voraussetzung dafür ist natürlich, sich mit den Orten und den Menschen wirklich auseinandersetzen zu wollen.

HL: Differenzen tatsächlich auszuhalten, gehört nicht zu den Stärken unserer Gesellschaft und die Antagonismen, denen man sich bei solch einem künstlerischen Ansatz tatsächlich stellen müsste, werden oft zugekleistert. Diejenigen, die die Fragen stellen, sind eben nicht unbedingt diejenigen, die nach Antworten suchen. Einladungen zur Teilhabe können sich sehr schnell als inszenierte Geste entpuppen. Dann nämlich, wenn in der Praxis die Autoritätspositionen der Künstler*innen oder der Institutionen hervorblitzt. Trotz bester Absichten münden viele Projekte oft in alten Machtpraktiken. Wenn man den Antagonismus nicht aushält, bleibt eben nur der aufgezwungene Konsens autoritärer Ordnungen und ein neuer Blick auf die realen Herausforderungen verläuft sich geradewegs in gut gemeinten Absichten. Ist es eine „ehrliche“ Partizipation in dem Rahmen, wie wir ihn gerade besprechen, überhaupt möglich? 

AQ: Es gibt diesen Spielraum. Man kann das anders angehen. 2021 wurde etwa vom HAU ein Schaufenster am Mehringplatz in der Friedrichstraße 4 bespielt. Da wurde u.a. eine Ausstellung mit sehr kunstvollen, traditionsreichen Stickereien, genannt Tatreez von palästinensischen Frauen gezeigt, die in der Nähe in einem Geflüchtetenheim untergebracht sind. Die Objekte waren sehr eigenständig und symbolisieren die kulturelle Identität der Macher*innen. Es ist doch interessant, diese Art von Kunst, die schon da ist und die wir nicht erst dahin bringen müssen, einfach sichtbar zu machen und damit neue Allianzen zu schaffen.

HL: Dazu fällt mir das Projekt Neue Nachbarschaft in der Beuselstraße in Moabit ein, das unter anderem von der Künstlerin Marina Naprushkina initiiert wurde. Da wird eine soziale und künstlerische Plattform zum Austausch, Lernen und Engagieren für die Nachbarschaft aus der ganzen Welt geschaffen. Gesellschaft soll hier aktiv mitgestaltet und neue Möglichkeiten des hierarchiefreien politischen und sozialen Miteinanders geschaffen werden. Man hilft nicht, sondern lernt voneinander. 2021 wurde etwa die Kampagne HIER WÄHLEN ALLE gestartet. Damit wurde auf den Umstand reagiert, dass in Deutschland nur deutsche Staatsbürger*innen, die auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, wahlberechtigt sind, auf Landes- wie auch Bundesebene. Es wurde also in Hinblick auf die Bundestagswahlen und die Wahlen im Land Berlin im September 2021 ein Wahllokal eingerichtet, in dem alle Menschen, die in Berlin leben, ihre Stimme abgeben konnten. Die Forderung galt einem Wahlrecht für alle und einer Demokratie, die in unsere Zeit passt.

AQ: Es geht eigentlich darum, Prozesse noch mal anders sichtbar zu machen und dafür muss man auch die eigene Praxis immer wieder neu hinterfragen.

HL: Was aber nicht einfach zu bewerkstelligen ist, zumal dann nicht, wenn Partizipation in Förderrichtlinien explizit gefordert wird. Man sieht doch auch, wie Kulturschaffende sich bemühen, bloß nichts Falsches zu sagen und versuchen, ihre Nützlichkeit und Konsensfähigkeit zu beweisen. Die Verantwortung, die sie dabei übernehmen, ist aber oft nur die Verantwortung dem eigenen Beruf gegenüber, dem sie unter prekären Voraussetzungen nachgehen. Der Raum für Kunst als ästhetische Heterotopie, wo auch Platz für Wagnisse ist, oder mit Schiller gesagt: „das fröhliche Reich des Spiels“, ist sehr eng geworden. Kannst du versuchen, diesen anderen Kunstbegriff, den du eben angedeutet hast, nochmal zu fassen?

AQ: Ich würde dafür den erweiterten Kunstbegriff heranziehen, weil er davon ausgeht, dass nicht nur Kunst ist, was beispielsweise sechs Wochen geprobt wurde und dann auf die Bühne kommt und sich dabei auf eine Expertise der Theaterwissenschaft oder Ähnliches stützt. Es ist eine Frage, wie ich mich aufgrund meiner eigenen Praxis im Alltag mitteilen kann, was ich davon in eine Form bringen kann, die dann wiederum viel mit meinem eigenen Leben zu tun hat, aber auch mit Kommunikation und Begegnung. Sich selbst dabei immer als Teil der Fragestellung zu begreifen und nicht nur auf etwas „drauf zu schauen“, ist dafür Voraussetzung, denke ich.

HL: Im zweiten Coronajahr in Folge wurden fünf männliche Führungshäupter gekrönt: Klaus Biesenbach wird Direktor der Neuen Nationalgalerie, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung übernimmt das Haus der Kulturen der Welt, das Kuratorenduo Sam Bardaouil und Till Fellrath bekommt die Leitung des Hamburger Bahnhofs und Matthias Bees wird neuer Intendant der Berliner Festspiele.

AQ: Und René Pollesch ist jetzt Chef der Volksbühne.

HL: Stimmt. Dann sind es sogar sechs Männer. Im Sinne eines Nachdenkens darüber, was 2021 nicht stattgefunden hat, ist also zu konstatieren, dass keine Frauen bei der Besetzung dieser Posten berücksichtigt wurden.

AQ: Die hehren Ziele und die Praxis. Da greift immer noch der Mechanismus, dass viele Männer es besser verstehen, sich entsprechend zu positionieren. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass manche Entscheidungen sehr schnell getroffen werden mussten. Nur bedeutet das noch lange nicht, dass die Kulturpolitik davon entbunden wäre, mehr Vertrauen in eine weibliche Führungskraft zu stecken.

HL: Weil du eben René Pollesch erwähnt hast: 2021 wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, sich an das Theater- und Performancefestival reich & berühmt zu erinnern, das neben Caren Schlewitt und Kathrin Tiedemann 1996, also vor 25 Jahren, von dir initiiert wurde. Stattgefunden hat es im damaligen Podewil, vormals Haus der Jungen Talente in der Klosterstraße. reich&berühmt kann als eine Art Gründungsmoment der Freien Szene in Berlin gesehen werden. Es versammelte Künstler*innen wie She She Pop, René Pollesch oder showcase beat le mot. Und als Leiterin des Bereichs Theater/Performance im Podewil hast du die bereits erwähnte Gruppe Gob Squad, Forced Entertainment oder Blast Theory nach Berlin eingeladen. Alles Künstler*innen, die heute längst international etabliert sind. Es wurden ästhetische Erfahrungen erprobt und der Begriff der Performance extrem strapaziert und erweitert. Wie konnte das übersehen werden?

AQ: Tja… manchmal ist man eben zu früh. (Lacht.) Wir haben damals Ansätze gezeigt, die neu waren für die Performing Arts. Berlin war so eine Art marktfreier Raum und wir konnten Vieles ausprobieren und entwickeln. Übersehen, würde ich es auch nicht nennen, diese Entwicklungen sind ja anschließend in verschiedene Institutionen der Stadt „eingeflossen“, wie zum Beispiel damals Anfang der Nuller Jahre in den Prater der Volksbühne oder das HAU Hebbel am Ufer. Das hängt auch mit der bewegten Geschichte des Podewils als Kulturinstitution zusammen, das nicht mehr existiert in der damaligen Form und dessen Geschichte noch nicht geschrieben ist.

HL: Bleiben wir kurz in der Klosterstraße. Unmittelbar neben dem Podewil’schen Palais befindet sich die Klosterruine, die bis heute als Kunststandort bespielt wird. 2021 fand unter der künstlerischen Leitung von Christopher Weickenmeier ein sehr diverses Programm statt. So wurde etwa den Auswirkungen des europäischen Kolonialismus in der Erfahrung der Vertriebenen, Rassifizierten, und Brutalisierten nachgegangen. Von Simone Fattal waren Skulpturen zu sehen, es gab zahlreiche Konzerte, Performances, Lesungen und Diskussionen.

Simone Fattal WHILE THE ANGELS ARE NAMING US 2021
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Simone Fattal “WHILE THE ANGELS ARE NAMING US” (2021) Foto @ kulturmitte
Simone Fattal WHILE THE ANGELS ARE NAMING US 2021
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Ausstellungsansicht der Klosterruine 2021, Ausstellung: Simone Fattal “WHILE THE ANGELS ARE NAMING US” Foto: kulturmitte

AQ: Sozusagen zu meiner Zeit in der Klosterstraße, war auch die Parochialkirche ein zentraler Ort für zeitgenössische Musik und Klanginstallation.

HL: Schön, dass du sie erwähnst, die legendäre singuhr hoergalerie von Carsten Seifert. Das Podewil wurde übrigens 2004 als Produktions- und Aufführungsort für Tanz, Theater, Performance und Neue Musik abgewickelt. Kurz davor, im November 2003, formulierte der damalige Bürgermeister Klaus Wowereit den wohl berühmtesten Satz seiner Amtszeit „Arm aber Sexy“. Er wurde zum Leitmotiv der Stadt für viele Jahre. Das ist jetzt fast genau 20 Jahre her. Wowereit fand später auch noch sexy, dass die Mieten rapide stiegen, weil das Ausdruck einer verbesserten ökonomischen Lage wäre. „Veränderung ist kein Teufelszeug“, noch so ein Spruch von Wowereit. Diese Einschätzung teilen bis heute nicht alle, vor allem nicht die Künstler*innen, die sich die Mieten für ihre Atelier- und Proberäume in der Stadt nicht mehr leisten können.
An dieser Stelle ist an ein trauriges Ereignis des vergangenen Jahres zu erinnern: der Tod des Theoretikers und Aktivisten Fred Dewey. Er hat sich ganz im Sinne seiner School of Public Life als unbequemer Geist immer wieder zu Wort gemeldet und zur gemeinsamen Auseinandersetzung mit Fragen der politischen Öffentlichkeit eingeladen. Dewey war über Jahre Freund und Mentor vieler Künstler*innen in der Stadt.

Lass uns nun einen Blick auf die neuen Koalitionsverträge von Bund und Land werfen. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung kommt das klassische Stadttheater nicht vor, dafür aber wird ein starker Fokus auf die Freie Szene gelegt. Wie ist das zu deuten?

AQ: Seit den Neunzigern hat sich das freie Produzieren stetig entwickelt und es sind neue Theaterformen entstanden. Das kann man von mir aus postdramatisches Theater nennen. Es gibt mittlerweile Orte, die sich damals parallel herausgebildet haben. Dazu zählen in Berlin das HAU oder die Sophiensäle und später das Ballhaus Ost zum Beispiel. Deutschlandweit gibt es seit einigen Jahren das Bündnis Internationaler Produktionshäuser mit dem HAU, Kampnagel in Hamburg, Mousonturm in Frankfurt/M. und weiteren Partnern. Sie sind institutionell gefördert und müssen sich nicht von einem Projektantrag zum nächsten hangeln. Es geht aber weiterhin darum, gemeinsam daran zu arbeiten, eine Lobby aufzubauen für diese andere Form des Produzierens, um von der Politik noch mehr wahrgenommen zu werden und die Arbeitsbedingungen zu verbessern und zu verstetigen. Die Koalition der Freien Szene und der LAFT in Berlin haben hier in den letzten Jahren offensichtlich schon einiges geleistet.

HL: Auch in Berlin wurde 2021 eine neue Landesregierung gewählt, die im Wesentlichen der alten entspricht. Im gemeinsamen Koalitionspapier findet sich erfreulicher Weise die Urbane Praxis wieder und es ist nachzulesen, dass sich die rot-grün-rote Koalition zu „partizipativen Verfahren“ bekennt und die Berliner Kulturschaffenden auf Augenhöhe kooperativ beteiligen möchte. Was steht an?

AQ: Ich habe keine Ahnung, was sie sich genau darunter vorstellen. Es kann ja nur darum gehen, dass man erst mal die anderen hört, bevor man Entscheidungen trifft. Es haben sich mittlerweile neue Formen des Produzierens herausgebildet, die mit einer anderen Praxis verbunden sind. Aber es ist ja oft so, dass die Kulturpolitik diesen Entwicklungen einfach hinterherhinkt. Wenn etwas Neues entsteht, dann muss sich das auch in den Strukturen erstmal durchsetzen. Und da gibt es natürlich sehr viele Punkte, die nach wie vor ungeklärt sind. Das reicht bis hin zu Fragen der drohenden Altersarmut bei gestandenen Gruppen der Freien Szene.

HL: Das betrifft im Grunde alle Künstler*innen und Kulturschaffende. An anderer Stelle im Koalitionsvertrag ist zu lesen, dass „Berlin transparente Verfahren zur Besetzung von Leitungspositionen einführen wird und alternative Intendanz- und Leitungskonzepte jenseits klassischer Ein-Personen-Intendanzen auch zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ fördern möchte. Wenn es jeweils zwei volle Stellen sind, prima.

AQ: Genau. Damit eröffnen sich viele strukturelle Fragen, die nicht allein durch alternative Leitungskonzepte zu lösen sind.

HL: In unserem Jahresrückblick können wir die Eröffnung des neuen Schlosses nicht unerwähnt lassen: 2009 schon schrieb der israelische Architekt Zvi Hecker, der heute in Moabit lebt und 2021 seinen 90-ten Geburtstag feierte, in einem Gastkommentar im Tagesspiegel Folgendes: „Die Stadt Berlin, die sich der Tradition des radikalen Modernismus verpflichtet fühlt und sich bisher nicht so leicht von der Hysterie des Kapitalismus anstecken ließ, frönt mit dem Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses nun der architekturhistorischen Nostalgie. Dem pseudo-aristokratischen Erbe dieser Stadt werden diese falschen Schlossfassaden durchaus gerecht, aber die Replik des Schlosses – das schon im Original von keiner besonderen architektonischen Güte war – droht eine Farce zu werden.“ Wie wahr! Wiederholte Siegermentalität demonstriert durch den Abriss des Palasts der Republik, evangelikale Restauration und offen zur Schau gestellter Kulturkolonialismus in Form einer ethnologischen Sammlung. Fazit: Die Attrappe muss abgetragen werden! Dafür werden die nächsten Generationen sorgen, denen dieser unsensible Ausdruck eines reaktionären Neo-Kolonialismus peinlich ist. Bis dahin ließe sich zum Beispiel über einen kreativen Umgang mit der Kuppelinschrift nachdenken. Als Vorlage könnte die Arbeit „Brüder – Grimm – Haus. 15 Buchstaben – 101 Wörter“ der Künstlerin Penelope Wehrli dienen, die 2020 an der Fassade der Galerie Nord installiert wurde. Sie hat dafür den Schriftzug Brüder Grimm Haus, der an dem Gebäude seit vielen Jahren unbeachtet angebracht ist, in seiner originalen Typographie aus den 1970er-Jahre reproduziert und rhythmisch in unterschiedlichen Kombinationen und Geschwindigkeiten illuminiert. Das Außerkraftsetzen von syntaktischen Bezügen und der Gebrauch von klanglichen Lautfolgen wecken noch bis voraussichtlich bis 2025 Assoziationen zu Comic, Trash-Art und Dada.

Übertragen auf die Kuppelinschrift könnte sich daraus zum Beispiel ergeben: Die Muehlen der Zeit mahlen zuverlaesslich. Oder: Kein Mensch muss sexi sein.

Die Frage, wie sich ein kulturelles Fundament in einer Gesellschaft erhalten lässt, die in und nach einer Krise viel mit sich selbst verhandeln muss, wird uns auch 2022 beschäftigen. Ich bedanke mich jedenfalls an dieser Stelle für das Gespräch.

Penelope Wehrli “15 Buchstaben – 101 Wörter” (2020) Foto @ Berghaus

Aenne Quiñones ist Dramaturgin und Kuratorin für Theater und Performance. Seit 2012 ist sie stellvertretende Künstlerische Leiterin des HAU Hebbel am Ufer in Berlin.
1996 war sie Mitbegründerin und bis 2003 Kuratorin des Festivals reich & berühmt. Von 1997 bis 2002 leitete sie den Bereich Theater/Performance im Podewil, Zentrum für aktuelle Künste in Berlin. An der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz arbeitete sie von 2002 bis 2011, hier v.a. als Kuratorin für die Volksbühne im Prater. 2010 und 2012 war sie Künstlerische Leiterin des Theaterfestivals Favoriten in Dortmund. Sie ist Herausgeberin und Autorin verschiedener Publikationen zum zeitgenössischen Theater, u. a. René Pollesch, „Liebe ist kälter als das Kapital“, Rowohlt Verlag, Hamburg 2009, Gob Squad, „What are you looking at?“ in der Reihe „Postdramatisches Theater in Portraits“, Alexander Verlag Berlin, 2020.

Heimo Lattner ist freischaffender Künstler. Ausstellungen und Projekte u.a.: ICA London, PS1/MoMa New York, Sharjah Biennale, Steirischer Herbst Graz, Akademie der Künste und Hebbel am Ufer Berlin. Er war von 1999-2009 Teil des Kollektivs e-Xplo und von 2005–2015 Mitbetreiber des Projektraums General Public in Berlin. Seit 2016 ist er Mitherausgeber der Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt. Von 2016–2020 war er co-Herausgeber von Ibid.- Szenische Lesungen aus Dokumenten der Berliner Stadt- und Kulturpolitik und von 2017–2019 Mitarbeiter am Forschungsprojekt Autonomie und Funktionalisierung der Kunst, UdK Berlin. Publikationen u.a.: „Never Mind the Nineties- eine Medienarcheologie der 90-er Jahre“, adocs Verlag, Hamburg und eeclectic Verlag Berlin, 2020; „Neuverhandlungen von Kunst – Diskurse und Praktiken seit 1990 am Beispiel Berlin“, transcript Verlag Bielefeld, 2020.

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