Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

„Wir möchten Ihre Stimme hören“

18.07.2023
Der Kiosk of Solidarity macht zusammen mit TransVer Station auf dem Leopoldplatz, Foto: Monika Keiler
Der Kiosk of Solidarity macht zusammen mit TransVer Station auf dem Leopoldplatz, Foto: Monika Keiler

Das interdisziplinäre Wissenschaftler*innenteam „Transforming Solidarities: Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft – TransSol“ beschäftigt sich mit Berlin als Labor der Migrationsgesellschaft und fragt nach den Bedingungen von Solidarität sowie Praktiken und Infrastrukturen, in denen sie ausgehandelt, ermöglicht oder verhindert wird. Das mobile Format „Kiosk der Solidarität“ geht über den Sommer lang in den Stadtraum und bietet verschiedenen Initiativen in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Gesundheit die Möglichkeit, ihre Arbeit und ihre Anliegen vorzustellen. Am 5. Juli hat der Kiosk zusammen mit der Einrichtung TransVer, die seit Projektbeginn Kooperationspartner von TransSol ist, am Leopoldplatz Station gemacht.

In der Mitte des belebten Platzes, zwischen U-Bahn-Ausgang und Alter Nazarethkirche, zwischen Café Leo, The Coffee Man und Imbiss DJ Bombay steht ein Metallkonstrukt, das zu einer Seite offen ist und mit seiner Lade an einen Kiosk erinnert. Ein gelber Schriftzug weist ihn als Kiosk der Solidarität aus. Um ihn herum laden Holzhocker zum Hinsetzen ein und bunte Poster in verschiedenen Sprachen locken mit: „Wir möchten Ihre Stimme hören“. Schnell wird klar: statt etwas zu kaufen, kann man hier ins Gespräch kommen. Die Frage lautet: „Geht solidarische Gesundheitsversorgung ohne Sprachmittlung? Was sind Deine/ Ihre Erfahrungen in der Notaufnahme, beim Arzt…?“

Mehrere Personen haben Klemmbretter in den Händen und gehen auf die Menschen zu, die den Platz kreuzen. Es sind Mitarbeiter*innen von TransVer, Sprachmittler*innen und Studierende aus dem Forschungsprojekt TransSol, die Menschen auf dem Platz befragen möchten und die Stimmen der Stadt hörbar machen wollen. Einer von ihnen ist Christian Möbius. Er ist zuerst in den libanesischen Imbiss Verwöhn dein Bäuchlein gegangen und hat dort nach Erfahrungen im Gesundheitsbereich gefragt. „Ein Mann dort konnte mir gleich von ein paar Situationen erzählen, in denen es aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse zu Missverständnissen und Verunsicherungen gekommen ist. Hier setzt TransVer an, da wir uns für interkulturelle Öffnung im Gesundheitswesen einsetzen und einen Fokus auf psychosoziale Versorgung haben. Es werden Beratung von Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte bei psychischen Problemen sowie Fortbildungen für Mitarbeitende der psychosozialen Versorgung rund um das Thema interkulturelle Öffnung angeboten.“ Der Leopoldplatz ist dabei bewusst gewählt, weil er sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Räumen von TransVer in einer Hofremise der Müllerstraße befindet. Die Idee der Aktion auf dem Leopoldplatz ist es, direkt mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Ulrike Kluge, Professorin für psychologische und medizinische Integrations- und Migrationsforschung an der Charité, Mitinitiatorin von TransVer und TransSol erzählt, dass sie schon zahlreiche wissenschaftliche Studien durchgeführt hätten, um den Bedarf von Sprachmittlung zu untermauern, heute ginge es jedoch darum, konkrete Geschichten zu sammeln. Sie verweist auf ein Positionspapier, das die Anerkennung von Sprachmittlung in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen fordert, um eine gleichberechtigte Teilhabe im Gesundheitswesen zu ermöglichen und damit eine bessere und effizientere Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Am 7. Juli war der Kiosk daher noch mal auf dem Charité-Gelände im Einsatz. Dort fand vormittags eine Podiumsveranstaltung mit Politiker*innen, Akteur*innen aus der Gesundheitsversorgung und Patientenvertreter*innen zum Thema „Sprachmittlung im Gesundheitswesen“ statt, auf der genau dieses Positionspapier diskutiert wurde. Im Anschluss bot der Kiosk die Möglichkeit für einen vertieften Austausch.

Auf dem Leopoldplatz hinter dem Kiosk steht eine Gruppe Menschen in einem Kreis. Alle halten ein Band in der Hand, das in der Mitte zusammenläuft. In der Mitte des Kreises stehen mehrere Holzklötze, die mit Hilfe der Bänder aufeinandergestapelt werden sollen. Dazu ist jedoch nicht nur etwas Geschick, sondern vor allem Kooperation zwischen den Beteiligten gefragt, denn die ziehen im wahrsten Sinne des Wortes, an einem Strick. Lars Kulik und seine Kollegin Ulrike Häußler leiten das Spiel an. Sie verstehen sich als aktive Gestalter*innen von Gemeinschaften und haben das Spiel mitgebracht, um Menschen anzusprechen und zusammenzubringen. Letztlich geht es auch hier um Kommunikation – verbale und nonverbale. Die Sensibilisierung für die Bedeutung von Sprache im psychosozialen Bereich für Menschen mit Migrationsgeschichte ist auch das Thema von TransVer. „Oft sind es die Kinder, die die Eltern zum Übersetzen bei Arztbesuchen begleiten müssen, das ist kein Zustand“, sagt Simone Penka, die zusammen mit Kluge TransVer leitet. Auch eine Mitarbeiterin vom Gesundheitsamt ist gekommen. Sie kennt die Problematik, die durch die Geflüchteten aus der Ukraine noch einmal an Dringlichkeit gewonnen hat.

Ein*e weitere Unterstützer*in am Kiosk ist Lu Fuhrman. Fuhrmann studiert Gender Studies und hat vor allem im Vorfeld mitgearbeitet, denn der Kiosk der Solidarität wurde von einem Seminar unter der Leitung von Moritz Ahlert begleitet. Ahlert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Architektur an der TU und Teil der Forscher*innengruppe Trans Sol. Er hat das Kiosk-Projekt maßgeblich kuratiert, betreut und die verschiedenen Beteiligten koordiniert (neben den Initiativen u.a. ConstructLab, die die Architektur verantworten). Zur Aufgabe der Studierenden gehörte unter anderem der Bau der Holzhocker und die Kommunikation mit den Initiativen Poster. Für Fuhrmann war das Seminar durch seine Praxisanteile eine gelungene Ergänzung zum theorielastigen Gender Studies-Studiengang. „Ich fand es interessant, darüber nachzudenken, wie man Räume so gestaltet, dass sich Menschen gern darin aufhalten und angesprochen fühlen. Es freut mich zu sehen, dass das Konzept aufgeht, und der Kiosk tatsächlich als niedrigschwelliger Treff-, Austausch- und Informationsort funktioniert.“

Asita Behzadi ist wie Ahlert als Mitarbeiterin im Projekt TransSol involviert und arbeitet zudem als Psychoonkologin in der Charité. Diversität in der Gesundheitsversorgung ist eines ihrer Hauptanliegen in Praxis und Forschung. Im Gespräch gibt sie Einblick in die Hintergrundstruktur des interdisziplinären Forschungszusammenhangs: „Es ging darum, explorativ ganz konkrete Praktiken und Infrastrukturen von Solidarität in der Berliner Migrationsgesellschaft zu untersuchen. Dabei werden die Bereiche Arbeit, Wohnen und Gesundheit verschränkt gedacht – und im Austausch mit nicht-akademischen Partner*innen angeschaut und diskutiert.“ Der Kiosk und seine Nutzung von lokalen Initiativen und zivilgesellschaftliche Akteur*innen sei ein gutes Beispiel für den Versuch, die akademischen Strukturen aufzubrechen und in den städtischen Raum zu intervenieren. Behzadi beschreibt die Zusammenarbeit der interdisziplinären Forscher*innengruppe als sehr bereichernd: In der wöchentlichen Forschungswerkstatt kämen Beteiligte aus den Disziplinen Psychologie, Architektur/ Urban Studies, Politikwissenschaften, Soziologie, Ethnologie, Philosophie und Gender Studies zusammen und müssten eine gemeinsame Sprache finden. Diese Methodik und der transdisziplinäre Austausch seien im Wissenschaftsbetrieb keineswegs selbstverständlich, umso bedauerlicher sei es, dass das Projekt nicht verlängert wurde. Mit der Aktion am Leopoldplatz zeige sich, dass mit Zeit vor Ort ein Raum entsteht, der Begegnungen und Erkenntnisse ermöglicht.

Befragt nach der Zusammenarbeit mit den Initiativen, die oft ehrenamtlich und aktivistisch arbeiten (während der Kiosk vom Berliner Projektfonds Urbane Praxis gefördert wird), erzählt Moritz Ahlert, dass es viel um Vertrauensarbeit gegangen sei. Wer spricht wie und für wen und wie kann man den gemeinsamen Arbeitsprozess gleichberechtigt gestalten, seien Fragen gewesen, die vor dem Hintergrund der Frage von Solidarität mitunter kontrovers diskutiert worden wären.

Gegen 17 Uhr schließt der Kiosk seine Klappen und fährt seine Stützen ein. Kurz darauf wird er von einem Transporter abgeholt und an seine nächste Station gefahren. Ahlert berichtet, dass es neben den geplanten elf Stationen bereits weitere Anfragen gäbe. „Zu sehen, dass die Idee, in den öffentlichen Raum zu gehen funktioniert, entschädigt für die aufwendige Koordination der vielen Beteiligten und die zum Teil mühsamen Genehmigungsanfragen im Vorfeld.“ Man darf gespannt sein auf die Ausstellung, die im Oktober im Deutschen Architektur Zentrum eröffnet und alle Stationen und Anliegen zusammenbringen wird!

Infos:
Weitere geplante Stationen des Kiosk der Solidarität:
#6 Habersaathstraße 40-48, 15.-20.7.
#7 Klasse Klima, Universität der Künste, 21.-23.7.
#8 RuT – Frauen Kultur & Wohnen, Berolinastraße/Alexanderplatz, 24.7.-28.7.
#9 Berlin Arrival Support, Washingtonplatz, 19.-24.8.
#10 Deutsche Wohnen & Co Enteignen, Molkenmarkt, 25.-27.8.
#11 Bilgisaray, Oranienplatz, 13.-17.9.

Im Oktober finden eine Konferenz und eine Ausstellung mit Fotos, Eindrücken, Stimmen und Kartierungen des Projektes im Deutschen Architektur Zentrum (DAZ) statt.
Ausstellung: Spaces of Solidarity, 5.Oktober bis Dezember 2023
Konferenz: Solidarität in der Migrationsgesellschaft, 9. bis 11. Oktober 2023
DAZ, Wilhelmine-Gemberg-Weg 6, 10179 Berlin, https://www.daz.de

TransVer – Ressourcen-Netzwerk zur interkulturellen Öffnung
Müllerstraße 156a, 13353 Berlin

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