Vanessa Gravenor: Deine künstlerische Praxis ist im Feminismus verwurzelt und stellt den Mythos des Künstlers in Frage. Auch die Autorschaft, die wir aus der westlichen Kunstgeschichte kennen, die einem Vanessa Gravenor (VG): Deine künstlerische Praxis ist im Feminismus verwurzelt und stellt den Mythos des Künstlers in Frage genauso wie das Konzept der Autorschaft, die wir aus der westlichen Kunstgeschichte kennen, die einem einzigartigen weißen Mann zugeschrieben wird, dessen Name die Arbeit der Vielen verbirgt. Warum ist dir das Thema Autor*innenschaft wichtig?
Mathilde ter Heijne (MTH): Ich zweifle grundsätzlich daran, dass es eine Wahrheit, eine Geschichtsnarration oder eine Autorschaft gibt. Mich interessiert das Da-zwischen. Ich habe versucht herauszufinden und zu kommunizieren, was den freien Umgang zwischen verschiedenen Menschen untereinander oder auch zwischen Menschen und Tieren oder Menschen und Dingen blockiert. Warum sie einander nicht verstehen können und getrennt bleiben. Diese Barrieren interessieren mich: Warum erscheinen sie, wann wurden sie geschaffen und warum sind sie so entscheidend? Was können wir tun, um sie zu überwinden? Diese Barrieren sind auch der Grund, weshalb ich patriarchale Strukturen in der Gesellschaft untersuche.
In meiner Arbeit stellte ich mir von Anfang an die Frage: Wie erreiche ich andere? Wie schaffe ich Kunstwerke, die das Publikum auf vielen verschiedenen Ebenen erreichen? Wie kann ich Kunst inklusiv denken und machen? Man kann natürlich eine Arbeit machen, die formal ist, das ist ein sehr westliches, modernistisches Denken. Aber es gibt auch immer eine emotionale Ebene. Und einen politischen Rahmen. Dann gibt es das Medium, in dem die Arbeit entsteht, und die Frage, wie dieses Medium in verschiedene Kulturen eingebunden ist. Ich dachte, so will ich Kunst machen. Mir ist klar, dass dies ein breiter Rahmen ist, aber ich könnte ihn nicht enger fassen.sen.
VG: Insbesondere in deiner Arbeit F.F.A.L. (Fake Female Artist Life, seit 2003) und später in deiner Installation Experimental Archeology; Ontology of the In-Between (2014) gräbst du matriarchalische Geschichten aus. Gleichzeitig stellst du dir die utopischen Erzählungen vor, die diese Geschichten befördern könnten.
MTH: Besonders in meinen früheren Arbeiten überlagern sich Dinge, die ich in meinem Leben erlebt habe, mit den Möglichkeiten die ich habe, um meinen eigenen Raum oder meine eigene Umgebung zu schaffen und mir vorzustellen. Man kann sich verschiedene Vergangenheiten oder verschiedene Zukünfte vorstellen und manchmal ist die Utopie direkt um dich herum, aber sie wird unsichtbar gemacht, sodass niemand auf sie schaut.
VG: Später hast du deine Methodik geändert, um kollaborativer und partizipativer zu arbeiten. Die Ausstellungen selbst ermutigen auch das Publikum zu einer aktiven Zuschauer*innenschaft.
MTH: Für Ontology of the In-Between (seit 2014) habe ich Kopien von archäologischen Artefakten durch den Prozess der Mimikri hergestellt und dann in einer dreitägigen Performance gebrannt. Die Teilnehmer*innen des Projektes wählten ihren eigenen Rollen, aber es gab auch Kräfte die nicht klar als Autor*innen definiert waren. Wie Feuer und Erde in Bezug auf Ton beim Prozess des Grubenbrandes zum Beispiel. Ich finde es spannend und wichtig, Unsichtbares sichtbar werden zu lassen.
Bei OLACAK! (2010) habe ich mit einigen Frauen gearbeitet, die ihr Haus oder ihren Kiez fast nie verließen. In Istanbul wurde in den 1980er und 1990er Jahren ein Großteil der Arbeit in der Textilindustrie von Frauen zu Hause geleistet, die unterbezahlt waren und unsichtbar blieben. Als ich in der Türkei lebte, traf ich Textilarbeiter*innen, die ihre Waren auf dem Markt verkauften. Sie luden mich ein, für sie einen Workshop über die Verwendung von Textilien in der Kunst zu machen. Daraus entstand dann eine 30 Meter lange Schlange die von der Gruppe per Zug, Boot und laufend von dem Außenbezirk Kartal ins Zentrum auf dem Taksim-Platz gebracht wurde.
Die Frage, die sich aus diesen Projekten ergab, ist, wann die Kunst aufhört und das Leben beginnt. Ich habe das Gefühl, je mehr ich solche Projekte entwickle, desto weniger kann ich diese Linie klar und deutlich erkennen. Mir ist klar, dass es schwierig ist, diese Kunst zu verkaufen, sie öffentlich zu machen.
Das Netzwerk Art and Dialogue e.V., das ich zu entwickeln versuche, entstand aus der Frustration heraus, dass viele Künstler*innen und auch einige meiner Studierenden an sozialen Projekten arbeiten und sie oft nicht in einem angemessenen Kunstkontext zeigen können. Dabei ist dieser künstlerische Dialog in partizipativen Projekten wirklich wichtig, dieses Da-zwischen. Selbst als ich Mathilde, Mathilde (1999) gemacht habe, war Dialog ein wichtiges Element – der Dialog zwischen mir und dem Film, in dem die Hauptdarstellerin Mathilde hieß. Ich und die anderen unglücklichen Frauen, die sich wegen ihrer Liebesbeziehungen umgebracht haben. Das Schicksal der anderen Mathildes schwang auch in meinem eigenen Leben mit.
VG: Du arbeitest seit 2013 mit Messanh Amedegnato zusammen, einem Hebiesso-Priester aus Togo, der auch in Deutschland lebt. Im Laufe der Jahre hast du viele Reisen nach Togo unternommen. Wie hat dieser Austausch dein Denken über Objekte, Rituale, Spiritualität und Darstellungsweisen beeinflusst?
MTH: Es ist ein kein einfaches schwieriges Projekt. Wenn man mein Oeuvre als Strategie definieren möchte, um unsichtbare Mauern einzureißen, ist dies die größte Mauer, auf die ich gestoßen bin. Nicht nur die Mauer zwischen dem eurozentrischen und dem afrikanischen Denken, wenn man diese Verallgemeinerung überhaupt verwenden möchte. Es geht auch um Kolonialgeschichte. Es geht um Sklavenhandel. Es geht sehr viel um Machtverhältnisse und um Ohnmacht. Es ist ein sehr komplexes Thema mit vielen Agenden. Können wir Türen oder Brücken bauen, um uns besser zu verstehen? Kann ich neutral bleiben? Natürlich kann ich das nicht. Es gibt noch ein anderes Element, das Verhältnis von Hersteller und Objekt. Wie die Keramikskulpturen, in denen das Feuer zum Autor wurde. Diese skulpturalen Objekte wurden nicht nur vom Autor aufgeladen, sondern vor allem durch die Aufführung der beteiligten Personen. Die Objekte, mit denen ich mich hier befasse, sind manchmal mit einem Geist oder einer unsichtbaren Entität verbunden. Diese sind mit einem anderem Sein-Zustands des Wissens und der Traditionen verbunden.
VG: Ich habe kürzlich von eurer geplanten Aktivierung der Mami Wata-Skulptur erfahren, die im Januar 2020 an eine Gemeinschaft in Togo zurückgegeben wurde. Dies berührt Objekte und ihre Beziehungen zur Macht in einem postkolonialen und kolonialen Kontext.
MTH: Das Thema mit dem Ethnologischen Museums kam aufgrund postkolonialer Agenden in einem frühen Stadium des Projekts auf. Mein Eindruck ist: In der ehemalig deutschen Kolonie Togo dauert die Kolonialisierung noch an. Ich kenne Kinder, die von Familien im Westen unterstützt werden, die Bibeln und Geld für Schulen senden, die patriarchalisch arbeiten und religiöse, christliche Ideologien transportieren. Es gibt eine Erosion der traditionellen Gemeinschaft, weil zum Beispiel Kinder aufhören, sich aktiv an lokalen Traditionen zu beteiligen. Die Mami Wata ist eine der wichtigsten Gottheiten in Westafrika. Sie steht für das Element Wasser. Das Wasser ist etwas, was uns alle auf verschiedenste Arten verbindet, deshalb ist es dort die am meisten angebetete Gottheit. Wie viele andere Gottheiten ist sie gleichzeitig männlich und weiblich. Viele der Priester*innen erforschen ihre eigene Vergangenheit. Wenn zu Kolonialzeiten Menschen aus Familien mit eigenen Schreinen Christen wurden, mussten sie sich von ihren spirituellen Gegenständen, ihren Fetischen, trennen. Diese kamen dann oft über die Missionen in das ethnologische Museum. Die Priester*innen glauben aber, dass diese Gegenstände, auch einige, die jetzt in Museen eingelagert sind, eine wichtige Bedeutung besitzen, weil sie über verlorenes Wissen verfügen, von dem sie erzählen können. Ich hörte von dieser großen Sammlung von Mami Wata-Skulpturen in Benin, lernte den Sammler Matti-Juhani Karila kennen und schlug vor, sie den ursprünglichen Besitzer*innen zurückzugeben. Als er von dem „Bericht zur Restitution des afrikanischen Kulturerbes“ hörte, den Bénédicte Savoy und Felwine Sarr im Auftrag von Emmanuel Macron schrieben, schickte der Sammler seine Sammlung zurück, ließ die Objekte jedoch im westlichen Museumsstil ausstellen. Was ist denn dann der Unterschied, ob die Gegenstände in Benin oder in Finnland sind, wenn nur westliche Touristen diese Räume besuchen? Um wirklich zurückzukommen und richtig wiederhergestellt zu werden, müssten spirituelle Objekte aktiviert werden. Sie brauchen einen Tempel und es braucht Geld für die Zeremonie, um die Priester*innen und Hohepriester*innen einzuladen. Dies ist auch die Seite, die ich vertreten habe, da dies die Wünsche der Priester*innen sind.
Die Kopie einer Mami Wata-Skulptur, die hier auf meinem Tisch liegt, geht am Ende an den Sammler zurück. Wenn sie im Ethnologischen Museum stehen würde, würde niemand den Unterschied sehen, da das Ethnologische Museum Objekte nur auf ihre formalen Merkmale reduziert. Sie sehen nur das Objekt und nicht den Kontext. Für mich hat die Kopie das Potenzial, die Geschichten der Aktivierung zu erzählen.
Irgendwann in diesem Projekt wurde mir klar, dass ich die Dazwischen, die Botschafterin, die Vermittlerin war. Die Grenze zwischen Leben und Kunst ist aufgehoben, aber das ist in gewisser Weise das, was ich immer wollte. Feministische Kunst ist, wenn die Kunst im Leben umgesetzt wird und das Leben Kunst ist. Man kann das nicht aufteilen und sagen, hier ist das Museum, und hier ist das Leben. Ich denke, das wäre ein Verbrechen. Es ist nicht das, was Kunst sein sollte. Partizipative Kunst ist für mich nicht nur eine Formel, sondern etwas, das mit Engagement einhergeht.
VG: Seit du an der Universität der Künste in Berlin Professorin für Zeitbezogene Medien und Performance bist, hast du ein Programm mit dem Titel Intersectional Matter gestartet. Dies beinhaltete „decentering whiteness, care und race“. Zusammen mit Diana Arce haben Studierende Statistiken darüber angefordert, wie viele BIPoC-Ausbilder*innen es an der Universität gibt und wie viele BIPoC-Perspektiven im Lehrplan der Schule vertreten sind.
MTH: Was Intersectional Matter mit Studierenden machte, war am Anfang polarisierend. Automatisch ging es in dem Programm um weiße Privilegien, und das war für einige Studierende schwierig. Viele Emotionen kamen auf. Auch meine eigene Position wurde permanent angezweifelt. Das Projekt befasste sich wirklich mit der gesamten Idee des sicheren Raums [safe space] und der Art von Situationen, die man aktiv schaffen kann, um Veränderungen herbeizuführen. Welche Verantwortung hat die einzelne Person und wie stark ist sie strukturell eingebunden. Ich war neu in der UdK. Ich wusste nicht, was vorher gemacht wurde und wie weiß die Institution wirklich war. Es war genau dieses Weiß, das mich dazu brachte, dieses Projekt zu beginnen. Die Frauenbeauftragte hatte noch ein Budget.
Die beiden Dinge kamen zusammen und ich sprach mit verschiedenen Fakultäten für Tanz, Kunst im Kontext und Bildende Kunst. Das war wirklich gut, denn ich konnte mich dann innerhalb der Universität bewegen, nicht nur gebunden an die Bildende Kunst. Als Professorin für Performance entfernt sich das Performative von festen Modi, die dem Visuellen zugewiesen sind. Bei Kunst im Kontext freute ich mich, mit Karina Griffith, die gleichzeitig mit mir begann, und Kristina Leko zusammenzuarbeiten. Sandra Noeth vertrat am Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin) in ihrem Vortragsprogramm Intersektionalität. Da ich einen Raum bekam, nutzte ich ihn für transdisziplinäre Aktivitäten. Wir hatten Lesegruppen. Wir hatten Tänzer*innen, die Körperworkshops leiteten. Diana Arce leitete vier oder fünf Tage lang einen Workshop, in dem unser eigenes Privileg untersucht wurde.
VG: Bist du hoffnungsvoll, dass sich die Dinge an der Universität ändern?
MTH: Durch das Projekt erfuhr ich von Initiativen, die es bereits gab. Viele Studierende engagieren sich. Es gibt die AG Critical Diversity, der ich beigetreten bin. Sie versuchen, eine Politik der Vielfalt auf partizipativere Weise zu entwickeln, indem sie mit Menschen in verschiedenen Fakultäten zusammenarbeiteten. Ich bin der Kommission für Chancengleichheit beigetreten. Sie haben eine Anlaufstelle für Diskriminierung und Gewalt eingerichtet, wo man Rassismuserfahrungen teilen kann. Es muss sich etwas ändern, und das passiert bereits in dem Moment, wenn Menschen über Konsequenzen nachdenken, wenn sie mit jemanden sprechen. Natürlich wurde Black Lives Matter in Deutschland und in der UdK sehr dringlich. Ich habe auch mit Leuten von der Verwaltung zusammengearbeitet, um Änderungen für ausländische Studierende zu erreichen, Sensibilisierungsworkshops oder Empowerment-Workshops einzurichten. Die Leute sind aufgewacht. Sobald wir eine Richtlinie einführen, können wir darüber nachdenken, einen ethischen Kodex zu schreiben, der definiert, wie Menschen miteinander kommunizieren sollten. Cancel Culture hat keinen Platz an der Universität. Die Universität kann sich nur ändern, wenn verschiedene Personen beteiligt sind. Es reicht nicht aus, eine Person rauszuwerfen. Wir alle handeln oft rassistisch, weil dies unsere Sozialisierung ist. Wir müssen uns gemeinsam aus dem System befreien, das uns geprägt hat. Natürlich sind wir in unterschiedlichen Machtpositionen und wir müssen unsere eigene Rolle immer kritisch hinterfragen. Ich bin optimistisch, weil ich denke, dass etwas passiert.